Ausgabe 2 / 2004 Artikel von Sybille Fritsch-Oppermann

Interreligiös beten?

Annäherung an ein sensibles Thema

Von Sybille Fritsch-Oppermann

 

Seit dem Zeitalter der Aufklärung wissen wir in Europa um die Unterschiedlichkeiten der Kulturen und Religionen dieser Welt. Mit der Entdeckung neuer Kontinente und Länder wurde uns bewusst, dass wir mit unseren jeweiligen nationalen Kulturen und unseren so sehr verteidigten christlichen Konfessionen nur eine Ausprägung der Vielfarbigkeit von Gottes ganzer Schöpfung bilden.

Zunächst wurden die neu entdeckten Religionen katalogisiert und analysiert. Dann begann man Konzepte zu entwickeln, um die europäische Kultur und die christliche Religion weiterzugeben und – im besten Fall – in den neu entdeckten Kulturen zu implementieren. Doch ging all dies immer auch einher mit der politischen Unterdrückung und der wirtschaftlichen Ausbeutung der entdeckten und dann „eroberten“ Länder. Das Überlegenheitsgefühl der Kolonisatoren machte auch vor den fremden Religionen nicht halt.

Im Zeitalter der Romantik schließlich begannen Ethnologen, Philosophen und Literaturwissenschaftler, sich für die fremden Kulturen und Religionen als eigenständige Ausprägungen zu interessieren. Sie erlernten fremde Sprachen, auch der mündlichen Kultur, und übersetzten die Texte der anderen Religionen. Hierdurch wuchs einerseits deren Kenntnis, andererseits wurden aber durch die Übertragungen in eine gänzlich andere Sprache auch die jeweiligen Inhalte verfälscht und den Denk- und Glaubensgewohnheiten der ÜbersetzerInnen angeglichen.

Mit der ganz neu an die klassische Philosophie Griechenlands anknüpfenden Philosophie des Idealismus, besonders in der Ausprägung der Philosophie Hegels, wurde Religion als eine, wenn auch die letzte und edelste Phase des Weges gesehen, auf dem der Weltgeist schließlich zu sich selbst komme, Gott sich den Menschen zeige. Der „Absolutheitsanspruches des Christentums“ begann eine immer wichtigere Rolle zu spielen: Die christliche Religion wurde als diejenige Religion in der Menschheitsgeschichte vorgestellt, die die Stufen obigen Weges am weitesten erklommen hatte.

Diesen Religionsbegriff und den damit verbundenen Absolutheitsanspruch finden wir aber in den Schriften des ersten und zweiten Testaments so nicht. Ihm fehlen zuallererst die Aspekte von Bekenntnis und Ausdrucksformen persönlichen Glaubens. Christlicher Glaube, wie wir ihn im ersten Testament beschrieben und nacherzählt finden, kennt Gott als Schöpfer all dessen, was ist, aller Menschen und ihrer Gemeinschaften und auch deren Religionen. Und im zweiten Testament fordert Jesus uns auf, ihm zu folgen. Er bezeichnet sich als Weg, Wahrheit und Leben – in dieser Reihenfolge, und deshalb sollen auch wir in erster Linie durch unsere Taten und nicht Wahrheiten überzeugen. Für Paulus schließlich ist von Glaube, Liebe und Hoffnung die Liebe die größte.

Dies ist eine gute Voraussetzung für diejenigen, die im Zeitalter zunehmender Globalisierung und Pluralisierung den interreligiösen Dialog mit der (gemeinsamen) Suche nach Wahrheit und vor allen Dingen gemeinsamer ethischer Verantwortung beginnen. Sie müssen sich aber gleichzeitig darauf besinnen, dass Gott immer auch der verborgene Gott ist, der Gott, der uns in seiner Liebe und in seiner Wahrheit auf den Leib rückt und doch immer auch voraus ist. Und weil er uns immer voraus ist, steht unser Wissen um Wahrheit aus, bis wir in seinem Reich sein werden. Und weil er uns auf den Leib rückt, ist dies zweitens eine gute Grundlage für die gemeinsame Suche von Menschen unterschiedlicher Religionen, Kulturen, Geschlechtern und Lebensaltern nach ethischen Minimalstandards.

Neben den interreligiösen Dialog hat also auch das gemeinsame ethische Engagement und der geteilte Alltag zu treten. Wir müssen die Lebens- und die Glaubenswelt derjenigen kennen lernen, die aus anderen Kontexten und Kulturen, aus anderen Milieus und Glaubenshintergründen stammen. Wir müssen hier und da nicht nur Gäste am Tisch des Herrn, sondern auch Gäste in der jeweils anderen spirituellen Gemeinschaft sein und werden. Das geht nicht, ohne auch Gäste an den gemeinsamen liturgischen und gottesdienstlichen Feiern zu sein und so auch als Gäste im Gebet der Anderen zu weilen.


Was heißt es, wenn Menschen beten?

Die Überlieferungen hierüber sind so alt wie die Religionen selbst. Im ersten Testament sind Gebete in den Geschichtsbüchern und fast allen anderen Büchern und in den Psalmen überliefert. Im zweiten Testament finden wir von Jesus selbst an uns weitergegeben das Vater Unser, das älteste und eines der wichtigsten Gebete der gesamten ökumenischen Christenheit. Und auch sonst kennen wir den Gott um Rat und Beistand bittenden Jesus, den in der Wüste fastenden und um Einsicht und Kraft bittenden Sohn Gottes und den am Kreuz sterbenden und um den Segen und die Vergebung Gottes, für sich und die mit ihm gekreuzigten Sünder und Verbrecher, betenden Heiland der Welt.

Modernen Menschen ist es oft fremd oder gar fragwürdig geworden zu beten. Muss es für das Gebet bestimmte Formen und Zeiten, bestimmte Räume geben? Wird nicht vielmehr alles, was wir tun und sagen, was wir denken und selbst unser Atmen von Gott gewusst und gehört? Andererseits, sind nicht gerade die festen Formen und Formeln Halt und Rückgrat für die, denen Glaube fremd geworden, aber nach wie vor eine Sehnsucht ist? Ist es für die der Religion ferner Stehenden nicht einfacher, ihre Klagen und ihren Dank, ihre Fragen und ihre Bitten auf diese vorgegebenen Formen zu stützen?

Es ist wohl beides richtig. Und es ist auch möglich, wie Luther davon zu sprechen, dass unser tägliches Leben ein Gottesdienst und unsere alltäglichen Handlungen, so dürfen wir ergänzen, Gebet sein sollen und können. Und es ist ebenso richtig, dass wir neben den traditionellen und überlieferten Formen und Inhalten, in allen Lebenssituationen und Zeiten ganz neu lernen sollen und dürfen, von Gott, aber auch mit Gott zu sprechen, ihn so anzureden, wie es unserer Lebenssituation, unserem persönlichen Glauben, dem Kontext und der Kultur der je betenden Gemeinschaft entspricht.

Traditionell können wir das Gebet als Dialog zwischen Mensch und Gott verstehen. Dies setzt voraus, dass Menschen Gott als Du, als Gegenüber sehen und ist so auch im zweiten Testament der Fall, ebenso wie in den in seiner Umwelt geläufigen Formen von Religiosität. Die Betenden gehen zu dieser Zeit davon aus, dass Gott sich durch solches Gebet in Anspruch nehmen lässt, nicht nur, uns zuzuhören und uns zu stärken, sondern auch zu Veränderungen der Realität bereit ist.

Anders als in seiner Umwelt ist aber im zweiten Testament das Gebet nicht ausschließlich Sache einzelner und kann vom Dialog in Formen des Nachdenkens und Redens über Gott und auch der Besinnung und Meditation übergehen. Außerdem kann es bereits hier (etwa 1 Thess 5,18 und Eph 5,20) aller liturgischen oder kultischen Form entnommen werden; es ist kein einzelner Akt mehr, sondern eine Haltung und Gestalt des ganzen Lebens. Für Gert Otto ist vor diesem Hintergrund Beten heute verbindliches Nachdenken in konkreten Lebenssituationen. Eine solche nachdenkende Besinnung kann für ihn in vielerlei Form geschehen – bis hin zur Identität von Gebet und Leben.

Gebet so zu verstehen führt notwendig zu einem neuen Nachdenken darüber, inwieweit es sich bei der Trennung von profanen und heiligen Bereichen in unserem Leben um eine künstliche handelt. Wenn unser Beten eine Haltung unseres gesamten Lebens ist oder doch zumindest werden kann, ist auch dies eine Form von „Inkarnation“. Ohne die für ChristInnen in Jesus Christus ein für allemal geschehene Erlösung in Frage zu stellen, ist dies dann eine Möglichkeit, in den Lebensgewohnheiten und Handlungen anderer Menschen und gerade auch in ihren Gebeten nach Erscheinungsformen Gottes in der Welt zu suchen, Gott im ganz Anderen zu finden.

Für die Frage des interreligiösen Gebets ergibt sich hier ein interessanter Ausgangspunkt: Wenn im Falle gläubiger Menschen ihr Leben und Handeln nicht nur Ausdruck ihrer Frömmigkeit, sondern auch eine Form ihres Betens ist, dann ist jede Form der Kooperation und des gemeinsamen Einsatzes von Menschen unterschiedlicher religiöser Hintergründe für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung bereits eine unter den vielen möglichen Formen interreligiösen Gebets.


Zu wem beten?

Gottesfrage und die Frage nach dem Gebet gehören eng zusammen und so auch immer wieder die Frage nach Gott im interreligiösen Dialog und die Frage nach dem interreligiösen Gebet.
Vielleicht können wir noch davon ausgehen, dass immer dann, wenn Menschen unterschiedlicher Religionen in ihrer Theologie bzw. in ihrer durchdachten gelebten Frömmigkeit im Dialog nach bestem Wissen und Gewissen zu dem vorläufigen Ergebnis kommen, dass es derselbe Gott sei, an den sie glauben und zu dem sie beten, ihnen auch das interreligiöse Gebet möglich sein müsse. Hiermit ist jedoch noch nichts darüber ausgesagt, was die einzelnen Beter und Beterinnen bezüglich des Wahrheitsanspruches ihrer je eigenen Religion befinden. Möglich ist etwa die Annahme, dass gemeinsames Beten von ChristInnen mit Andersgläubigen möglich sei, obwohl bzw. auch weil diese davon ausgehen, dass auch für die Andersgläubigen Christus ein für allemal das Heil gebracht hat (Inklusivismus).

Von den konkreten Situationen interreligiösen Gebets jedoch zu allgemeinen theologischen Aussagen zu kommen, dürfte solange schwer sein, wie es innerhalb des Christentums, auch nicht innerhalb des protestantischen Christentums, zu einer groben Einigung über die Gottesfrage, und im Zusammenhang damit die Wahrheitsfrage, gekommen ist.
Ich vertrete hierbei einen kreuzestheologisch-pluralistischen Ansatz und verstehe das Kreuz theologisch als Aufforderung, auch den eigenen Glauben und das eigene Handeln in der Welt immer als Nachfolge unter das Kreuz zu sehen. Für die Wahrheitsfrage bedeutet dies, dass wir bereit sein müssen, auch noch unseren eigenen Glauben, den wir hier auf der Erde doch immer nur im menschlichen Gewand der Religion haben, zur Disposition zu stellen. Wir haben im Glauben schon die Wahrheit und das Heil, aber die ganze Wahrheit und das letztgültige Heil stehen noch aus, sind nur bei Gott gewusst.
Für die Frage des ethischen Engagements bedeutet dies, dass wir in verantworteter Vorläufigkeit das jeweils beste und klügste – und zwar im Diskurs mit anderen errungen und mit allen Menschen guten Willens – tun sollen. Dies lässt dann den Schluss zu, dass unser Handeln und (weil dieses vom Beten so wenig zu trennen ist wie profan und heilig) unser Beten immer auch interreligiöse Anteile haben kann und sollte.
Dann aber ist es nicht nur wichtig und richtig, sondern auch theologisch geboten, dass wir neben den traditionellen und überlieferten Formen des Betens die Formen und auch Inhalte der Gebete von Menschen in anderen Lebenssituationen, Milieus, Kontexten und Kulturen und auch und gerade auch Religionen kennen lernen und nachvollziehen sollen – sei dies als Gäste oder als interreligiös Mit-Betende.
Daraus lernen wir nicht nur über Andere, sondern auch für uns selbst: Wir werden motiviert, ganz neu auch innerhalb der eigenen Tradition nach neuen Formen und Inhalten des Betens zu suchen.


Mit Andersgläubigen zusammen beten?

Vor dem Hintergrund des Gesagten überrascht es nicht, dass die Frage von interreligiösen liturgischen Handlungen, Gottesdiensten und Gebeten zuerst in der feministischen Theologie und der Frauenkirche-Bewegung eine Rolle spielte.
Frauen suchten im 20. Jahrhundert als erste nach neuen Formen des Betens und Feierns und nach neuen Gottesanreden und Gottesnamen. Anlass war ihre Jahrhunderte lange Erfahrung der Unterdrückung und Ausgrenzung in der Gesellschaft und in den religiösen Gemeinschaften. Sie hatten das Wissen darum bewahrt, dass alles Reden von und zu Gott immer in Bildern und Gleichnissen geschieht, dass aber alle Bilder und alle menschliche Sprache immer nur Annäherungsversuche an Gottes eigentliches Wesen, an die letzte Wahrheit, an das letzte Geheimnis sind. Nie können und nie sollten sie mit dem Wesen Gottes selber verwechselt werden.

Genau dies ist aber etwa im Christentum geschehen, wenn mit der von Jesus tradierten Gottesanrede „Vater“ Rückschlüsse auf die Männlichkeit Gottes gezogen wurden und daraus etwa abgeleitet wurde, dass die Gottebenbildlichkeit für Frauen nicht in dem Maße gelte wie für Männer. Oder wenn die Anrede Herr (Kyrios) Christus zum Symbol der Unterdrückung von Frauen der nichtchristlichen und anderen, auch sozialen, Minderheiten wurde in Zeiten, wo dies nicht mehr die Kampfansage einer christlichen Minderheit an die Politik der Mehrheit und ihrer „Herren“ bedeutete, in Zeiten, in denen das Christentum eine staatsragende Mehrheitsreligion geworden war.

Die Frauen forderten schließlich, eine neue Sprache in Theologie und Gottesdienst einzuführen, in der alle Menschen als vor Gott gleiche behandelt werden.
Diese im Gebet nachvollzogene Solidarität mit den unterdrückten Menschen (und Geschöpfen), ganz gleich welcher Religion oder Kultur sie angehörten, führte in der Praxis der Frauenkirche-Bewegung und von Frauengottesdiensten zur gemeinsamen Suche nach neuen Gebetsformen und damit zu interreligiösen Liturgien und Gebeten. Die interreligiösen Gebete und Liturgien wurden so ganz natürlich in gottesdienstliche Sprache gekleidetes Leben in Solidarität mit denen, denen Unrecht geschieht und die an den allzu Mächtigen dieser Welt leiden. Ähnliches gilt inzwischen an vielen Orten auch – wenn auch nicht immer so detailliert reflektiert wie in der feministischen Theologie – für interreligiöse Gebete von Männern und Frauen.

Wichtig bleibt es in allen Fällen, die unterschiedlichen Formen interreligiösen Gebets zu differenzieren und jeweils vor Augen zu haben, um welche Form es sich in unseren Planungen und in unserer Praxis handelt. Im alltäglichen Sprachgebrauch etwa wird auch die Teilnahme am Gebet Andersgläubiger als Gast interreligiöses Gebet genannt. Interreligiös zu beten kann auch bedeuten, in einer gemeinsamen (gottesdienstlichen) Veranstaltung in der je eigenen religiösen Tradition zu beten, um ein gemeinsames Anliegen, um die Gemeinschaft der Religionen oder auch die eigene versammelte spirituelle Gemeinschaft zu bitten.

Im engeren Sinn ist mit interreligiösem Gebet bzw. Beten das von den Angehörigen verschiedener Religionen ganz geteilte gemeinsame Gespräch mit Gott, das gemeinsame Meditieren über Gott gemeint. Dies ist etwa beim inzwischen berühmten interreligiösen Friedensgebet der Fall, das die Gemeinschaft von St. Egidio im Auftrag des Vatikans immer wieder organisiert und durchführt. Hierbei ist jedoch aus protestantischer Sicht die Frage, inwieweit dabei im Hintergrund die oben näher erläuterte inklusivistische Religionstheologie steht.

Die Versuche, im christlich-muslimischen Kontext bzw. im Kontext der abrahamischen Religionen und auch der anderen Weltreligionen gemeinsam zu beten, sind noch wenige, besonders diejenigen, die in festen Kreisen geplant und theologisch durchdacht und schließlich durchgeführt werden. Beispiele finden wir auf den interreligiösen Akademien in Bendorf oder innerhalb der interreligiösen und beim Fachbereich für evangelische Theologie in Hamburg angesiedelten interreligiösen Sozietät.

Geduld tut Not und Mut, die kleinen Schritte und auch große Würfe – denn die Frage des interreligiösen Gebets ist nach wie vor, auch zwischen den Religionen und Konfessionen, eine der sensibelsten Fragen der Gegenwart.

Dr. Sybille Fritsch-Oppermann, geb. 1959, hat Theologie sowie Musik- und Sozialwissenschaften studiert. Nach einem Forschungsaufenthalt in Japan arbeitete sie im Gemeindepfarramt, dann als Hochschulassistentin und wurde dann Studienleiterin in Loccum. Seit Januar 2002 ist sie Direktorin der Evangelischen Akademie im Rheinland Mülheim/Ruhr (Januar 2004 umgezogen nach Bonn).

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