Ausgabe 1 / 2009 Material von Helma Lutz

Intime Freunde

Von Helma Lutz


Als Anna im Sommer 1990, dreißig Jahre alt und alleinstehend, erstmals aus Polen in eine mittelgroße westdeutsche Universitätsstadt kam und einen Sommer lang in mehreren Haushalten putzte, hatte sie gerade ein Studium der Wirtschaftswissenschaft in Polen abgeschlossen und suchte kurzfristig nach einer Möglichkeit, die anschließende Arbeitslosigkeit zu überbrücken. Sie reiste mit einem Touristenvisum ein, verließ die Stadt nach drei Monaten und kam ein halbes Jahr später wieder. Ein Netzwerk von polnischen Freunden und Freundinnen half ihr bei der Arbeits- und Zimmersuche, und im Sommersemester 1992 gelang es ihr schließlich, sich in Volkswirtschaftslehre zu immatrikulieren und so ihren Aufenthalt zu legalisieren. Ihr polnisches Studium wurde zu einem geringen Teil anerkannt.

Sie arbeitete weiterhin in verschiedenen Haushalten, betreute Kleinkinder, versorgte alte Menschen, bekochte sie und ermöglichte ihnen sozialen Austausch, putzte in Praxisräumen. Zehn Jahre später musste sie das Studium beenden, um immense Studiengebühren zu vermeiden, und stand dann vor der Wahl, nach Polen zurückzugehen oder illegal zu bleiben. Beides bot keine echte Alternative. (…)

Es war ihr wichtig, für Menschen zu arbeiten, die sie „brauchten“; sie wollte sich nicht „als Roboter fühlen“.
Zu einer Arbeitgeberfamilie hatte sie freundschaftliche Beziehungen entwickelt; sie betreute das Kleinkind, das von ihr polnische Worte gelernt hatte, putzte, erledigte Einkäufe und arbeitete auch bei den Großeltern; sie fühlte sich „als Familienmitglied“. (…)

Bei ihren häufigen Besuchen in Polen empfand sie es als belastend, die erwarteten Statussymbole einer erfolgreichen Migration – ein Auto, einen angesehenen Job, Geld für eine Geschäftsgründung in Polen oder zumindest einen deutschen Ehemann – nicht vorweisen zu können. Als Migrationsverliererin nach Polen zurückzukehren war für Anna ebenso wenig attraktiv wie die Fortsetzung ihres Aufenthalts in Deutschland als Illegale.


Helma Lutz

Auszug aus:
Intime Fremde. Migrantinnen als Haushaltsarbeiterinnen in Westeuropa
http://www.eurozine.com/
articles/2007-08-31-Lutz-de.html
© bei der Autorin

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang