Ausgabe 1 / 1998 Frauen in Bewegung von Christine Wunschik

Isadora Duncan

Kunst als Ausdruck der Freiheit des Körpers

Von Christine Wunschik

Isadora wurde am 27. Mai 1878 in San Francisco geboren; dort lebte sie mit ihrer Mutter und drei Geschwistern. Ihre Eltern hatten sich gleich nach ihrer Geburt getrennt. In ihrer Kindheit erhielt sie lebenslang wirksame Prägungen. Auf ihre Frage nach dem Vater antwortete ihre Tante: „Der war ein Teufel. Er hat das Leben deiner Mutter ruiniert.“ Von da an sprach sie nie zu anderen Kindern über ihren Vater. Schließlich sollte niemand erfahren, daß der ein Teufel mit kleinen Hörnern und einer Gabel war.

Der Bruder Raymond erzählte ihr von den Fahrten des Odysseus. So hatte sie bald schon als Kind zwei feste Ziele: Sie will Tänzerin werden und nach Griechenland fahren. Die Mutter verdiente den Familienunterhalt durch Klavierstunden und Stricken. Isadora half der Mutter beim Verkauf der Sachen und feilschte beim Einkauf für die Familie. Frühzeitig wird sie Überlebenskünstlerin. Häufige Umzüge wegen Geldmangels sind nötig – sie freut sich über die Abwechslung. Für andere Mädchen ihrer Zeit ist das höchste Ideal die Ehe. Isadora sieht in der Ehe eine Fessel, der sich eine Frau nicht unterwerfen muß, wenn sie Kinder haben will. Sie will für die Befreiung der Frauen leben. Ihre Mutter erzieht ihre Kinder ohne jede Disziplin und ohne feste Ordnungen, jedoch in der Liebe zur Kunst und zu Griechenland und in der Geringschätzung von Geld und Reichtum. Die Mutter ist leidenschaftliche Atheistin.

Herrliche Abende verbringt die Familie um das Klavier versammelt mit Musik, dem Vorlesen und Rezitieren von Literatur, Isadora tanzt nach klassischer Musik. Bei Spaziergängen am Meer wird Isadora von den Wellen inspiriert, deren Bewegung im Tanz nachzuahmen, in Tanz umzusetzen. Dort wird sie eins mit der Natur, in ihrem Tanz fängt sie die Sonnenstrahlen und den Wind auf, beschreibt die Wolken, das Wasser. Die Natur, in ihrem Tanz fängt sie die Sonnenstrahlen und den Wind auf, beschreibt die Wolken, das Wasser. Die Natur lehrt sie naiven, ungekünstelten, freien Tanz, den sie ihr Leben lang tanzen wird. Schon mit 10 Jahren hat sie „Tanzschülerinnen“. Mit 12 Jahren ist sie in San Francisco offiziell als Tanzlehrerin eingetragen. Stets folgte sie ausschließlich ihrer Phantasie und improvisierte. Eindrücke, die ihr ein Musikstück oder Literatur vermittelte, setzte sie in Bewegungen um. Klassischer Tanz war in ihren Augen unnatürlich, körperfeindlich, gezwungen. Also endete ihr einziger Versuch, in einer Balletschule klassischen Tanz zu erlernen, nach kurzer Zeit. Mit Kunst hatte es für sie nichts zu tun, wenn Menschen versuchten, auf den Zehenspitzen vorgeschriebene Figuren zu absolvieren. Für Isadora war Kunst Ausdruck der Freiheit ihres Körpers. Die Bewegungen des Rumpfes hielt sie für wichtiger als gekonnte Bein- oder Fußarbeit.

Aus den Familienabenden wurde ein Familientheater, bald folgten Tourneen, auch nach New York. Isadoras Einstellung widersprach der Glimmerwelt des Broadway. Sie benutzte kaum Dekorationen, sondern meist nur blaue Vorhänge und Schleier. Sie wollte den Tanz reformieren, kleidete sich in griechische Gewänder. Isadora träumte davon, im Tanz Harmonie und Schönheit der hellenistischen Welt ausdrücken zu können. Über Schwierigkeiten halfen ihr ihre Bücher: Platon, Aischylos, Euripides, Marc Aurel. Um ein festes Einkommen zu haben, läßt sie sich mit 19 Jahren am Theater engagieren. Körperliches Training und Gelenkigkeitsübungen mehrere Stunden täglich sind ihr lebenslang wichtig. Mit Anfang 20 tanzt sie zu Konzerten in New York. Das rieche, versnobte Publikum fand es chic, diese ganz neue Art von Tänzerin, die barfuß in einem griechischen Gewand tanzte, in Ihre Salons einzuladen. Die Honorare waren dürftig. Isadoras Hoffnungen richteten sich auf Europa.
Gemeinsam reiste die Familie Duncan 1899 auf einem Viehdampfer nach England. Das Geld für die Überfahrt hatte Isadora bei Millionärsgattinnen zusammengebettelt, für die sie getanzt hatte. Begeistert nahmen die Duncans in London die Kunstschätze der Alten Welt wahr. Sie waren voller Optimismus und unbekümmert, bis sie auch hier aus ihrer Wohnung geworfen wurden – sie hatten das Geld für die Miete nicht. Auch in London tanzt Isadora vor reichem Publikum, in Salons. Im British Museum fühlt sie sich zu Hause, inmitten der Parthenonfriese, umgeben von griechischen Skulpturen. Endlich tanzt sie in einer Galerie in Verbindung mit Vorträgen von Künstlern und wird bekannt und anerkannt. Ihren gesunden, natürlichen, kräftigen Körper verleugnete sie nie. Die Einheit von Körper und Seele mußte sie nicht erst suchen – sie lebte sie einfach, kompromißlos, bis an ihr Lebensende. Wenn ihrer Auffassung nach ein Tanz es erforderte, ihren Körper teilweise zu enthüllen, so tat sie es ganz natürlich.

In Paris findet sie 1900 Verbündete, Künstler, die ihr Anliegen unterstützen, weg vom akademischen Ballett zu kommen zu einer Erneuerung des Körperausdrucks. Das Pariser Publikum ist begeistert und gleichzeitig beunruhigt von ihrem Tanz und ihrer freien, offenherzigen Art. Die Männer verehren sie, stellen sie auf einen Sockel. Die Furcht vor Isadoras Unabhängigkeit hielt die Verehrer auf Abstand. Isadora ordnete sich nicht dem gängigen Frauenbild unter. Das hielt lange Zeit Liebhaber fern. Ihr Ruhm vergrößerte sich. Mehr und mehr fand sie Verständnis für ihre Kunst. Oft tanzte sie nach Musik von Mendelssohn und nach Nevins „Narcissus“. Ihr Geld reichte oft nicht für Kohlen – sie tanzte Tag und Nacht, so daß sie nicht fror. Ein hochbezahltes Engagement an ein Berliner Varieté schlägt sie empört aus. Sie ist nicht käuflich, sie lebt mit dem alten Griechenland, mit Wagner, Nietzsche, Goethe und nicht mit Akrobaten und Kuriositäten! – Damit setzt sie den verblüfften Varietédirektor vor die Tür.
Es folgen Auftritte in Berlin und Wien und 1902 zum ersten Male Erfolge in Ungarn vor breitem Publikum. In Ungarn hat die 24jährige ihren ersten Liebhaber – ein von ihr ungeduldig herbeigesehntes Ereignis. Für sie, die Körperlichkeit so intensiv lebt, ist es eine sehr beglückende Erfahrung. Das Glück ist jedoch von kurzer Dauer. Schwer trägt sie am Ende der Beziehung. Später, ein Jahr vor ihrem Tod, wird sie schreiben: „Ich habe mich nie geschämt, verliebt zu sein, und ich war oft verliebt. Ich hatte wirklich ein interessantes Leben.“

Inhalt ihres Tanzes war, Kunst auf ihre Seele wirken zu lassen und in körperlichen Ausdruck umzusetzen. So gab sie Gemälde wieder, z.B. von Tizian, Botticelli, tanzte nach Musik von Chopin, Wagner, Gluck, Beethoven u. a., nach Nationalhymnen und berühmten Walzermelodien. Griechische Vasenbilder und Architektur studierte sie und setzte sie in Bewegung um. Immer wieder betreibt sie Tanzschulen. Kritiker bemängeln, daß ihr verklärtes Hellenentum schwülstig sei, ihre „Tanzexperimente“ primitiv, nicht professionell genug wären. Viele Zuschauer aber sind hingerissen von ihrer Anmut und Leichtigkeit. Ihnen macht sie Kunst noch direkter erlebbar, für sie erweckt sie griechische Reliefs zum Leben. Sie erntet Ruhm in ganz Europa, in Rußland, später in den USA und Südamerika. Endlich folgen auch Griechenlandaufenthalte. Dort kommt sie zu der Erkenntnis, daß ein Zurückversetzen in die Antike nicht  möglich ist, daß sie moderne Menschen sind, die sich wohl von lange vergangenen Epochen inspirieren lassen können, diese jedoch nicht wiederbeleben können.
Isadora lernt Gordon Craig kennen und wird kurz darauf schwanger. 1906 wird ihre Tochter Deirdre geboren. Isadoras Glück ist vollkommen. Bald folgt die Trennung von Gordon Craig. Mehr und mehr lebt Isadora für den Augenblick. Sie wird gezeichnet von Rodin, Lafitte, Bourdelle und vielen anderen berühmten Künstlern. Paris Singer wird ihr Bewunderer, Freund und langjähriger Gönner. 1910 wird ihr und Singers Sohn Patrick geboren. Nie ist sie bereit, einem Familien- oder Eheleben ihre Kunst, ihre Auftritte, ihre Tour-neen zu opfern. 1913 ertrinken bei einem Autounfall beide Kinder und die Kinderfrau in der Seine. In ihrer unermeßlichen Trauer hilft ihr Eleonore Duse, ihre Freundin. 1914 wird in den Kriegswirren in Paris ein Sohn geboren. Auch diese Kind verliert sie, nach nur wenigen Stunden. Es ist von da an, als hätte alles, was ihr ein Zuhause gibt, sie verlassen. Sie treibt von einem Liebhaber zum nächsten. 1921 nimmt sie das Angebot an, in der Sowjetunion Tanzschulen zu gründen. Sie hofft, im Kommunismus ihre Ideale verwirklicht zu sehen: freies, geschwisterliches Leben der Individuen und tiefes Kunstverständnis. Dort lernt sie den jungen Dichter Sergey Alexandrowitsch Jessenin kennen, den die kurz darauf heiratet. Doch auch diese Beziehung ist nur kurz. Drei Jahre verbringt sie in der Sowjetunion und kehrt dann nach Europa zurück.

Ihr Körper hat seine Anmut verloren. Ihre Bewegungen beim Tanzen werden sehr sparsam, auch gereifter. Noch immer fasziniert sie viele Menschen. Häufig wechseln begeistertes Zujubeln und Niederlagen ab. Sie genießt ihre Berühmtheit und leidet doch unter deren großen Ansprüchen. Betont tut sie, was sie will, wonach ihre gerade ist, um wohl auch sich selbst zu beweisen, daß nicht die Öffentlichkeit, sondern sie selbst über sich verfügt. Zeiten des Überflusses mit Orgien und Alkolexessen wechseln bis zu ihrem Tode ab mit Zeiten bitterer Armut. Immer jedoch hat sie einen großen Freundeskreis. In ihrem 50. Lebensjahr stirbt Isadora Duncan. Sie steigt zu einem Freund in dessen offenen Rennwagen. Beim Anfahren verfängt sich Isadoras langer Schal im Autorad. Sie ist sofort tot. In der ganzen Welt wird sie gewürdigt als eine bemerkenswerte Frau, die Menschen mit ihrem Tanz Wertvollen gebracht hat.

Christine Wunschik, Schoppendorf

 

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