Die Biographie der amerikanischen Journalistin Elizabeth Gilbert ähnelt in vielem der vieler individualisierter Frauen im Westen. Erfolg im Beruf, doch Pech im Privaten: Ihre Ehe ist gescheitert. Bevor sie sich nochmals auf das Abenteuer Ehe einlässt, will sie das Geheimnis einer gelingenden Ehe ergründen und macht das Thema zum Gegenstand von Recherchen. Dabei stößt sie auf die Hmong, eine ethnische Gruppe, die ursprünglich in Südostasien beheimatet war, dann im Vietnam-Krieg auf Seiten der USA kämpfte und große Verluste erlitt. Von den Überlebenden wanderten viele in die USA aus, wo sie bald auffielen durch ihren Gruppenzusammenhalt wie durch ihre kompromisslose Distanz zu den Segnungen der Moderne.
Die Hauptgesprächspartnerin von Elizabeth Gilbert bei den Hmong ist eine alte Frau, eine Großmutter, die eine Schlüsselrolle in dem Netzwerk von Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen der Hmong einnimmt. Das Gespräch beginnt schwierig zu werden, als Gilbert die alte Frau nach der Geschichte ihrer Heirat fragt – in der Hoffnung, Anekdoten darüber zu hören, wie sie ihren Mann lieben lernte. „,Was dachten Sie über Ihren Mann, als Sie ihn zu ersten Mal sahen?'
Ihr ganzes faltenreiches Gesicht drückte Erstaunen aus. Ich nahm an, dass sie die Frage missverstanden habe, und versuchte es noch einmal: ‚Wann kam Ihnen der Gedanke, dass Ihr Mann derjenige war, den Sie heiraten wollten?'
Wieder wurde meine Frage mit einem stummen, freundlichen Erstaunen nicht beantwortet.
‚War Ihnen von Anfang an bewusst, dass er etwas Besonderes war?' versuchte ich es noch einmal. ‚Oder haben Sie erst später gelernt, ihn zu schätzen und zu lieben?'
Nun begannen die anderen Frauen in dem Raum nervös zu kichern über die ein wenig verrückte Person, zu der ich in ihren Augen offensichtlich geworden war. Ich versuchte es noch einmal auf einem anderen Weg. ‚Ich meine, wann trafen Sie zum ersten Mal Ihren Ehemann?'
Die Großmutter stöberte offenbar in ihren Erinnerungen herum, um eine Antwort zu finden, fand aber nicht mehr als den Hinweis: ‚Vor langer Zeit'. Für sie schien diese Frage keine besondere Beachtung zu verdienen. …
‚Aber wann haben Sie sich in ihn verliebt?' fragte ich schließlich ganz unverblümt.
Nun brach bei den zuhörenden Frauen offenes Gelächter aus, außer bei der Großmutter, die zu freundlich war, um laut zu lachen. … Dann setzte ich mit einer Frage nach, die sie für noch verrückter hielt: ‚Und was, glauben Sie, ist das Geheimnis einer glücklichen Ehe?'
Nun verloren alle tatsächlich die Fassung. Sogar die Großmutter rang offen mit ihrem Lachen. … Alles aber, was ich verstehen konnte, war, dass diese Hmong-Frauen und ich ganz offensichtlich eine vollständig andere Sprache sprachen.“
Was wir im Westen als Familie betrachten, ist so klein geworden, dass man es unter einem Elektronenmikroskop (unter-) suchen müsste. Handelt es sich doch um kleine Personengruppen, die nach den unausgesprochen geltenden Gesetzen des „eigenen Lebens“ und des „eigenen Raumes“ in großen, lose besiedelten Wohnungen zusammenleben. Das Gegenteil trifft auf die Hmong zu. Hier ist Familie eines gewiss nicht: eine Lebens-, Familien- und Liebesform, bei der die Menschen tagtäglich am Altar der individuellen Entscheidung niederknien und bei Strafe der Scheidung wechselseitig Inspiration einklagen.
aus:
Fernliebe
Berlin 2011
© Suhrkamp Verlag Berlin
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