Alle Ausgaben / 2009 Material von Simone Kluge

Jahreslosungs-Karte (2)

Von Simone Kluge


Vor mir liegt eine Postkarte mit einer Schwarz-Weiß-Fotografie. Es braucht einen Moment, bis ich zwei zur Schale geformte Hände erkenne und dann auch das kleine Vögelchen entdecke. Kaum hebt es sich von den Händen ab, die es halten. Ganz ruhig scheint es dort zu sitzen. Ich sehe von oben auf die bergenden Hände. Das Bild berührt mich, meine Sehnsucht nach Geborgenheit ist geweckt.

Ich sehe, dass die Hände zerfurcht sind. Die Nägel sind kurz, der rechte Daumennagel hat sogar eine kleine Kerbe. Unter den Nägeln befindet sich Dreck. Auch in den Handfurchen hat sich Dreck gesammelt. Ich sehe die dunklen Ärmel einer Jacke oder eines Pullovers. Die Bündchen wirken ausgefranst, ein bisschen schäbig. Auch beim genaueren Hinsehen wird mir nicht klar, von wo das Licht kommt. Fast scheint es, als leuchte es hinter den ausgesteckten Händen auf.

Wem gehören diese Hände? Ich könnte mir vorstellen, dass sie einer Frauenhilfsfrau gehören. Diese Hände scheinen gerade ordentlich in der Erde gewühlt zu haben. Ich stelle mir vor, wie die Frau gerade dabei ist, Blumen oder Gemüse zu pflanzen, da entdeckt sie das kleine Vögelchen. Sofort hält sie in ihrer Arbeit inne. Nach einer Weile nähert sie sich behutsam dem Vogel, der da auf dem Boden hockt. Er macht einen einsamen und schutzlosen Eindruck. Ist er zu früh aus dem Nest gefallen? Ist er verletzt? Behutsam nähert sie sich dem Vögelchen. Es braucht eine Weile, bis das Vögelchen merkt, dass ihm von diesen Händen keine Gefahr droht …

Doch was, wenn diese Hände nicht einer bodenständigen Hobbygärtnerin gehören? Wenn diese Hände nicht von so genannter „ehrlicher Arbeit“ gezeichnet sind, sondern von dem Dreck der Straße? Es fällt mir schon schwerer, mir vorzustellen, dass diese Hände einem oder einer Obdachlosen gehören könnten. Einem Menschen, an dem ich so oft achtlos vorübergehe, mich sogar abwende, weil der Anblick mir nicht angenehm ist. Und dieser vom Leben gezeichnete Mensch birgt das Vöglein in seinen Händen, behutsam und sanft. Gibt ihm zu verstehen: Du bist nicht allein, ich habe dein Elend gesehen!

Ich erschrecke vor mir selbst. Werde mir plötzlich meiner Vorurteile bewusst. Natürlich haben diese Menschen Gefühle wie du und ich. Vielleicht sehen sie den verletzten Vogel sogar viel eher als ich, die ich oft so achtlos an meiner Umwelt vorüber eile, von einem Termin zum nächsten. Und wenn ich den Vogel gesehen hätte: Hätte ich angehalten, mich bremsen lassen in meinem Eifer? Hätte ich mich niedergebeugt, um ihn langsam und vorsichtig zu bergen? Ein weiteres Mal erschrecke ich vor mir selbst, weil ich keine eindeutige Antwort auf diese Frage zu geben weiß.

Und was ist, wenn ich anfange, diese Hände als Symbol Gottes zu begreifen? Ich halte inne. Bekomme langsam eine Ahnung davon, was es heißt: Gott wurde Mensch. Bedeutet es doch nicht nur, dass er/sie mir im Nächsten begegnet. Bedeutet es doch auch, dass er/sie sich ganz zu uns herunter beugt, sich die Hände schmutzig macht, um uns zu bergen. Riesenhaft, ja, aber voller Güte und Zärtlichkeit. „Euer Herz erschrecke nicht. Glaubt an Gott und glaubt an mich.“


Für die Arbeit in der Gruppe:

– dem Bild begegnen, den ersten Eindruck äußern
– Bilddetails beobachten und entdecken
– Fragen sammeln: Welche Fragen wirft das Bild auf
   (z.B. Wem gehören die Hände? Was ist mit dem Vogel passiert? Welchen
   Zusammenhang gibt es zwischen Bild und Jahreslosung?)
– Vermutungen äußern lassen
– Gedanken der Autorin vorstellen (ab 3. Absatz)
– Raum für Reaktionen lassen, Aussprache
– Auswertung (im Plenum oder in Kleingruppen): Warum haben die Ev. Frauen in
   Deutschland wohl dieses Bild als Motiv für die Jahreslosungskarte ausgewählt?
   Bezug der Karte: EFiD (Adresse siehe S. 83)


Simone Kluge ist Pädagogisch-theologische Mitarbeiterin in der Ev. Frauenhilfe Landesverband Braunschweig e.V. und Mitglied im Redaktionsbeirat ahzw.

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