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Jahreslosungskarte

Von Annette Rösel


Die Jahreslosungskarte mit ihren drei Abschnitten (siehe S. 42) vermittelt mir ein Gefühl von Friede, Weite und Freiheit. Auf dem großen linken Abschnitt ruht mein Blick auf blau glänzendem, leicht gekräuseltem Wasser. Darauf spiegeln sich rosenrote Flecken. Sie stammen von einem Boot, von einem Ruderboot vielleicht oder einem Fischerboot.
Rechts daneben sehe ich zwei kleinere Bilder. Im oberen fliegt eine Möwe am grauen Himmel, im unteren liegt der Ausschnitt eines Sees. Das Ufer in weiter Ferne, ragen im Vordergrund Pfähle aus dem Wasser. Ihre Spiegelungen sind klein im Vergleich zu denen im großen Abschnitt.
Ob die drei Aufnahmen am gleichen See gemacht wurden, weiß ich nicht. Aber alle haben mit Wasser zu tun. Wasser ist ein lebensnotwendiges Element, das kulturübergreifend einen hohen Symbolgehalt hat. Es steht für das Unendliche, das Unbewusste, sowie für Leben und Erneuerung.
Für mich bricht sich die Idylle der Bilder im Wissen um das, was die Menschen dem Wasser antun. Angefangen von der alltäglichen Verunreinigung bis hin zu großen Katastrophen, von denen der Unfall an der Küste Mexikos im April 2010 der bisher schlimmste ist – mit noch unabsehbaren Folgen.
Mit diesen Gedanken schweift mein Blick noch einmal über das große friedliche Wasserbild. Ich lese den Text der Jahreslosung: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“
Wie kann ich als Einzelne das Böse mit dem Guten überwinden? Im privaten Bereich mag das in gewissem Umfang möglich sein. Was aber kann ich angesichts der globalen Themen wie Umweltverschmutzung, Wirtschaftskrise, Kapitalismus tun? Wie kann ich da die Jahreslosung verstehen oder gar umsetzen?

Das Gedicht
Dann lese ich das Gedicht „Ich will meine Gedichte fliegen lassen“ von Mary Jan Brewster (siehe S. 42/43). Auch sie greift Themen, die als „das Böse“ angesehen werden können, auf. Sie schreibt über „das System“, die Globalisierung und soziale Missstände. Doch sie bleibt nicht beim Aufzeigen von Ungerechtigkeiten. Sie hat ein Mittel dagegen und sendet es in die Welt: ihre Gedichte.
Das finde ich mutig: Gedichte, die filigranen Luftgebilden gleichen, als Zeichen der Veränderung in die Welt zu senden, sie fliegen zu lassen, wie Möwen am Himmel, in der Hoffnung, dass sie die Welt ein bisschen verbessern.
Das Gedicht klingt mit dem bestimmten „ich will“ am Anfang jeder Strophe so selbstbewusst in die verzweifelten Situationen, dass ich sicher bin: Ja, es gelingt. Zarte Worte der Liebe, der Sehnsucht, des Friedens können auch in unüberwindlich scheinenden Situationen bewirken, dass man sich nicht unterdrücken lässt, sondern aufrecht bleibt und etwas Positives entwickelt.
Ja, denke ich, so kann es gehen: sich nicht überwinden lassen, nicht verzagen angesichts der großen Schrecknisse, sondern im eigenen Umfeld mit den je eigenen Fähigkeiten das Mögliche tun. Und sei es nur, ein gutes Wort sprechen, einen aufmunternden Blick senden. Zu anderen – und zu mir selbst auch.

Das Gespräch in der Gruppe
– Laden Sie die Frauen ein, es sich so bequem wie möglich zu machen, die Gedanken an Vorheriges vorbeiziehen zu lassen und ganz bei sich anzukommen.
– Lesen Sie dann das Gedicht, langsam und deutlich, vielleicht auch ein zweites Mal.
– Für das anschließende Gespräch über den Text können Fragen hilfreich sein: Was löst der Text in Ihnen aus an Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen? Was beeindruckt Sie besonders? Wo stimmen Sie zu, wo spüren Sie Irritation oder Ablehnung? Kennen Sie weitere Texte, die sich gegen Ungerechtigkeit wehren oder die Mut machen?
– Danach können Sie die Teilnehmerinnen nach ihren persönlichen Wünschen und Visionen fragen: Was ist es, das Sie wollen? Können Sie das erreichen – und wenn ja, wie? Wenn nicht: Wie prägt diese Sehnsucht Ihr Leben?
Lassen Sie die Frauen im Plenum oder in Kleingruppen Ungerechtigkeiten, erfahrenes Leid aussprechen und Sehnsüchte, Wünsche, Forderungen entstehen.
– Laden Sie die Frauen ein, eine Utopie zu malen: mit Worten oder auch mit kräftigen Farben auf großes Papier. Diese kann das Gute sein oder werden – das Gute, von dem die Jahreslosung sagt, dass es das Böse überwindet.
– Verteilen Sie nun die Jahreslosungskarte und fragen, was sie in den Teilnehmerinnen auslöst. Vielleicht stehen die Motive im Kontrast zum Vorherigen und irritieren. Vielleicht sind sie das Sinnbild für die Erfüllung der Wünsche und Sehnsüchte. Vielleicht stecken gerade darin die Ruhe und der Frieden, die sich die meisten Menschen für sich und ihre Liebsten wünschen.

Annette Rösel

mehr von der Autorin unter:
www.schreibspuren.de

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