Ausgabe 1 / 2014 Material von Cornelia Wenzel

Jeanette Schwerin

Von Cornelia Wenzel


Jeanette Schwerin, geb. Abarbanell, gehörte zu den engagiertesten und einflussreichsten Frauen in den sozialreformerischen Bestrebungen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie war eine Grenzgängerin; ihr Anliegen war die Überwindung der Klassengegensätze durch soziale Reformen. Sie entstammte einer bürgerlich-liberalen Familie, wurde erst im Alter von 40 Jahren (nach der „Familienphase“) aktiv und starb bereits sechs Jahre später mit 46 Jahren.

In dieser kurzen Zeit beeinflusste sie in mehreren Vereinen und Einrichtungen wichtige Weichenstellungen in der Wohlfahrtspflege und in der Entwicklung des sozialen Berufsbildes. Herausragend war ihre Prägung der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit, die sie 1893 gemeinsam mit Minna Cauer in Berlin gegründet hatte. In den Gruppen sollte die brachliegende Arbeitskraft bürgerlicher Frauen und Mädchen für soziale Aufgaben eingesetzt werden und – das war das Neue und Ungewöhnliche zu diesem Zeitpunkt – sie sollten dafür eine Ausbildung erhalten, nicht nur „aus dem guten Herzen heraus“ helfen, sondern fachlich fundiert Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Jeanette Schwerin distanzierte sich mit sarkastischen Worten vom „Wohltätigkeitssport der feinen Damen“. Ihre Ausbildungsansätze mündeten 1908, Jahre nach ihrem Tod, in die Gründung der Sozialen Frauenschule durch ihre Schülerin Alice Salomon.

Jeanette Schwerin gehörte dem Vorstand des Dachverbandes Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) an und leitete dort die Kommission für Arbeiterinnenschutz. Vor dem Hintergrund ihrer engen Verbundenheit mit den Belangen der Arbeiterinnen ergriff sie beherzt Position im Streit um die Ausgrenzung der proletarischen Frauenvereine aus dem BDF. „Frauen gegen Frauen, Mütter gegen Mütter, welch eine Episode wäre das in dem Drama der Frauenbewegung!“ Sie votierte ebenso entschieden wie erfolglos für das Zusammengehen von bürgerlichen und sozialistischen Frauen. Jeannette Schwerin dürfte wohl die einzige bürgerliche Frauenrechtlerin sein, über deren Grab eine Gewerkschaftsfahne gesenkt wurde. Anna Simson hat uns die Abschiedsworte des Handwerkervereins von der Trauerfeier überliefert: „So neigt sich denn unsere alte Arbeiterfahne, wie stets bei unseren Genossen, zum ersten Male über das Grab einer Frau, als Zeichen dankbarer Verehrung. Aber unter Tausenden von Männern hat vielleicht nur einer für die arbeitenden Klassen das getan, was diese Frau für uns geleistet hat.“


aus: Wegbereiterinnen XI, Kalender 2013 (Oktober), hgg. von Gisela Notz, Berlin

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