Alle Ausgaben / 2012 Material von Simone Kluge

Jerusalem – Stadt der Sehnsucht

Von Simone Kluge


Die Luft der Berge ist klar wie Wein,
und der Duft der Pinien
schwebt auf dem Abendhauch,
und mit ihm der Klang der Glocken.

Und im Schlummer von Baum und Stein,
gefangen in ihrem Traum,
liegt die vereinsamte Stadt
und in ihrem Herzen eine Mauer.
Jerusalem aus Gold
und aus Kupfer und aus Licht,
lass mich doch, für all deine Lieder, die Geige sein.

Wie vertrocknet die Brunnen sind,
wie leer der Marktplatz.
Keiner, der den Tempelberg besucht, in der alten Stadt.

Und in den Höhlen der Felsen heulen die Winde.
Und es gibt keinen, der hinabstiege zum Toten Meer,
auf der Straße nach Jericho.
Jerusalem aus Gold
und aus Kupfer und aus Licht,
lass mich doch, für all deine Lieder, die Geige sein.

Was für ein trostloses Bild der Stadt Jerusalem! Die Israelin Naomi Shemer, die dieses Lied kurz vor dem Sechstagekrieg 1967 schrieb, bringt darin ihre Liebe und ihre Bewunderung der „Goldenen Stadt“ gegenüber zum Ausdruck. Trauer
und Klage schwingen mit, wenn sie den menschenleeren Marktplatz, die vertrockneten Brunnen beschreibt, das Bild einer verwaisten Stadt. Der glühenden Zionistin, Kind der ersten Siedlergeneration, muss es unerträglich gewesen sein, dass sie die Altstadt Jerusalems – damals zwar durchaus belebt, aber für Juden unzugänglich – nicht betreten durfte. Ihr Lied wurde schnell populär. Uri Avnery, damals Abgeordneter in der Knesset, erinnert sich daran, dass es nach jedem Fliegeralarm gespielt wurde, wie um den Menschen Mut zu machen. Als die israelische Armee Ost-Jerusalem eroberte und die Soldaten die Klagemauer erreichten, wurde Israel vom Siegesrausch und von religiöser Euphorie erfasst.
Über Nacht wurde Jiruschalajim schel Sahaw (Jerusalem aus Gold) zum höchsten Ausdruck der Nationalgesinnung, zum Symbol des Sieges. Voller Enthusiasmus fügte Naomi Shemer ihrem Lied eine neue Strophe hinzu:

Ja, wir sind zurückgekehrt,
zu den Brunnen, zum Markt und Deinen Plätzen.
Der Klang des Schofars hallt über dem Berg, dort in der Altstadt.
Und in den Höhlen am Felsen scheinen Tausende von Sonnen.
Lass uns wieder hinabsteigen zum Toten Meer, über die Straße nach Jericho.1)

Jerusalem ist eine umkämpfte Stadt geblieben. Die Altstadt ist von einer Mauer umgeben und in ein jüdisches, christliches, armenisches und muslimisches Viertel gegliedert. Der politische Status der Stadt ist international umstritten und Teil des Nahost-Konflikts. Das Lied erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit, es rührt an, es bewegt. Im deutschsprachigen Raum ist die Melodie vor allem durch die Schluss-Szene des Filmes Schindlers Liste bekannt2) und durch das Lied „Ihr Mächtigen, ich will nicht singen“ von Christine Heuser. Ich fand mich wieder in dieser tragenden Melodie, konnte den Text von Christine Heuser gut mitsingen, die Befreiung spüren, das Aufatmen. „In deinen Toren werd ich stehen, du freie Stadt Jerusalem“ – das trifft auch meine Sehnsucht nach Heimkehr, nach Geborgenheit, nach Erlösung und Erfüllung.
Befremdet hat es mich, von der Wirkungsgeschichte des Liedes zu hören, von der Bedeutung, die es hatte bei der Errichtung eines „Himmlischen Jerusalems“ in unserer Zeit. Kann ich es überhaupt noch singen? Diese Melodie summen, die ich so sehr liebe? Ja, ich kann. Als Teil meiner Hoffnung auf das himmlische Jerusalem, als Vergegenwärtigung biblischer Verheißung. Und dann, wenn ich mich seinen Ursprüngen wieder nähere. Denn die Melodie des Liedes stammt keineswegs – wie Naomi Shemer immer wieder behauptete – aus ihrer eigenen Feder.3) Kurz vor ihrem Tod bekannte sie, dass es die Kopie eines baskischen Wiegenliedes namens Pello Joxepe ist. Und in der „geliehenen“ Melodie des Wiegenliedes klingt die Metapher der Mütterlichkeit an, die auch das Jesajabuch durchzieht und Ausdruck auch meiner Hoffnung auf ein wahrhaft himmlisches Jerusalem ist.


Anmerkungen

1 Übersetzung D. Gall – siehe http://www.hagalil.com/iwrith/jerusalem.htm
2 Da das Lied in Israel zeitlich mit dem Sechstagekrieg konnotiert ist, findet sich in der israelischen Fassung des Films eine andere Filmmusik.
3 Vgl. http://www.hagalil.com/archiv/2005/05/shemer.htm

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