Ausgabe 2 / 2021 Bibelarbeit von Silke Petersen

Jesus lädt zum Essen ein, aber nicht alle wollen zu ihm kommen

Überlegungen zu Joh 6,37

Von Silke Petersen

„Alle, die mir Gott gibt, werden zu mir kommen, und die zu mir Kommenden werde ich nicht hinauswerfen“ (Joh 6,37 BigS)

Zunächst lesen wir hier eine erfreuliche Zusage: Jesus wird alle, die zu ihm kommen, nicht „hinauswerfen“, sondern annehmen und bewahren. Der griechische Text formuliert etwas weniger inklusiv: „den zu mir Kommenden“ mit einem allgemeingültigen grammatisch männlichen Singular – was aber nichts daran ändert, dass es sich dabei um eine Zusage für alle handelt. Wirklich? Die Formulierung impliziert die Frage nach der Rückseite des Textes, nach denen, die nicht dazugehören, weil Gott (johanneisch formuliert „der Vater“) es ihnen nicht gegeben hat. Wird hier also eine johanneische Prädestinationslehre präsentiert? Diejenigen, denen Gott nicht bestimmt hat, an Jesus zu glauben, sind unweigerlich verdammt, unabhängig davon, wie sie sich entscheiden und was sie machen?

Ein solches Verständnis jedoch entspricht der Szene, aus der dieser Text stammt, keinesfalls. Die Sache ist viel komplizierter: Hier überlagern sich mehrere Ebenen und mehrere Zeiten der Erzählung, sind quasi gleichzeitig gegenwärtig. Um dies zu zeigen, ist es allerdings nötig, weiter auszuholen. Das sechste Kapitel des Johannesevangeliums hat als Hauptthema Brot, das zentrale Nahrungsmittel der antiken Gesellschaft. Zunächst werden die an einem abgelegenen Ort Versammelten vermittels der wunderbaren Brotvermehrung von Jesus ernährt: Jesus gibt das Brot, das sie zur Nahrung brauchen (vgl. Joh 6,1-15). Nach einem Szenen- und Ortswechsel durch den Seewandel Jesu (vgl. Joh 6,16-25) folgt die sogenannte Brotrede, oder besser: Ein langer und kontroverser Dialog über verschiedene Sorten von Nahrungsmitteln. Erst mit Vers 59 kommen diese Diskussionen zu einem gewissen Abschluss. Konstatiert wird, Jesus habe dies gesagt, als er in der Synagoge in Kapernaum lehrte. Der Rest des Kapitels wendet sich den Anhänger*innen Jesu zu, die ebenso konsterniert sind, wie die zuvor genannten Versammelten, und ebenso uneinig über das Gesagte. Etliche verlassen ihn (vgl. Joh 6,66).

Unser Ausgangszitat befindet sich also mitten im Brotdialog, und zwar in einem Abschnitt, in dem auf eine bekannte Brotgeschichte der jüdischen Tradition rekurriert wird: Auf die Gabe des himmlischen Manna in der Wüste.

Die Schlüsselstelle ist das biblische Zitat aus Vers 31: „Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen“. Damit erhält die Geschichte eine zweite Brotdimension: Nicht nur das Brot, mit dem Jesus die Anwesenden in der Brotvermehrung gesättigt hat, ist im Text aufgerufen, sondern auch das Brot, welches die Israelit*innen in der Wüste zum Überleben befähigte. Der Vers ist als Zitat ausgewiesen, „wie geschrieben ist“ heißt es. Die Lesende stockt und blättert und findet – mit etwas Suchen – mehr als erwartet1:

Ex 16,4: [Gott spricht zu Mose:] Ich lasse für euch Brote vom Himmel regnen.
Ex 16,15: Mose aber sagte zu ihnen: Dies ist das Brot, das euch der Herr zu essen gegeben hat.
Ps 77,24: Und er ließ für sie Manna zu essen regnen und Brot des Himmels gab er ihnen.
Ps 104,40: […] und mit Himmelsbrot sättigte er sie.
2Esdr 19,15: Und Brot vom Himmel gabst du [Gott] ihnen gegen ihren Hunger.
Weish 16,20: Mit Engelsnahrung hast du dein Volk genährt und zubereitetes Brot hast du ihnen unermüdlich gewährt.

Keiner der Texte entspricht exakt der johanneischen Formulierung – ein solcher Befund ist nicht untypisch für antike Zitate, die ja selten anhand einer Bibliothek kontrolliert werden konnten. Die zentrale Referenzgeschichte ist aber in Exodus 16 und im Johannesevangelium ebenso wie in den anderen Texten fortgeschrieben.

In der johanneischen Fortschreibung gibt es überraschenderweise noch eine dritte Sorte Brot. Jesus selbst, der mehrfach in leichter Variation konstatiert: „Ich bin das Brot vom Himmel“. Bei Jesus scheint es sich also um eine Art neues Manna zu handeln: Man kann ihn essen und wird dann und dadurch leben (vgl. bes. 6,54).

Aber wie kommt der Text nun vom Manna der Wüstenerzählung zu Jesus in Galiläa?

Man könnte sagen: durch kleine Änderungen im Zitat. Der Ausgangstext in Joh 6,31 war: „Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen“. Der johanneische Jesus nimmt den Text anschließend und interpretiert und aktualisiert ihn Stück für Stück. Zunächst geht es um das Subjekt: Nicht Mose gab das Brot, sondern Gott gibt es (6,32, völlig korrekt nach jüdischer Tradition. Keine der anwesenden Personen behauptete, Mose sei es gewesen – auf das rhetorische Problem des Textes werde ich noch zurückkommen). Neben dem Subjektwechsel ist die veränderte Zeit von Interesse: „gibt“, nicht „gab“. Die aufgeführten Zitate formulieren meist in der Vergangenheit; nur das erste, die ursprüngliche Exoduserzählung ist in der Gegenwart: Es passiert jetzt, die Lesenden sind dabei. Ebenso auch in der johanneischen Szene: Jesus spricht über das, was jetzt geschieht, nicht lediglich über eine vergangene Geschichte.

Neben „Mose“ > „Gott“ und „gab“ > „gibt“ findet sich noch eine dritte aufschlussreiche Modifikation des Zitates. Sie erscheint in dem unserem Ausgangsvers vorangegangenen Vers. Dieser lautet in den meisten Übersetzungen: „Aber ich habe euch gesagt: ‚Ihr habt mich gesehen und glaubt nicht'“ (6,36). Das „euch“ wird hier als Anrede verstanden, als zitierte Jesus sich selbst. Schwierig an dieser Übersetzungsvariante ist nur: Jesus hat „Ihr habt mich gesehen und glaubt nicht“ vorher nirgendwo gesagt. Deshalb scheint eine andere Übersetzung plausibler: „Aber ich habe ‚euch‘ gesagt, weil ihr mich gesehen habt und dennoch nicht glaubt“. In antiken Manuskripten gibt es keine Anführungsstriche zur Markierung, beide Übersetzungen sind denkbar. Die zweite leuchtet deshalb mehr ein, weil damit nicht nur das Problem des fehlenden Rückbezugs gelöst wird, sondern auch die Exegese des Zitats fortgeführt wird: Das ihnen in „Brot vom Himmel gab er ,ihnen‘ zu essen“ wird somit in ein ,euch‘ verwandelt:

Gott gibt euch jetzt das Brot – nämlich Jesus, der damit den Platz des himmlischen Manna aus der Exodusgeschichte einnimmt.

Jesus zum Essen also. Wem das eigenartig vorkommt, ist in guter und zahlreicher Gesellschaft. Am Ende von Joh 6 sind es die Jünger*innen, die sich teilweise von Jesus abwenden. In dem konkreten Diskussionszusammenhang von Joh 6,30-58 allerdings ist es eine andere Gruppe: Die Judaioi. Meist einfach als „die Juden“ übersetzt. Diese Übersetzung allerdings ist insofern problematisch, da ja alle Beteiligten dieses Kapitels Juden (implizit auch: Jüdinnen) sind.

Jesus, seine Anhänger*innen, das hungrige Volk, die diskutierenden Menschen. Kein einziger Nichtjude ist in diesem Kapitel zu finden.

Dieser Punkt ist wichtig, da wir hier möglicherweise die Ausgeschlossenen unseres Textes finden könnten: Die, die Jesus hinauswirft. Aber stimmt das so? Interessant ist zunächst die Reaktion auf Jesu Rede in Vers 36-40, direkt nach unserem Abschnitt. Da heißt es: „Die Judaioi murrten über ihn, dass (oder: weil) er gesagt hatte. ‚Ich bin das Brot, das vom Himmel herabsteigt‘ und sagten: Ist dieser nicht Jesus, der Sohn von Josef, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wie kann er jetzt sagen: ‚Ich bin vom Himmel herabgestiegen‘?“ Ein nachvollziehbarer Einwand. Und möglicherweise ein Einwand, der im jüdischen Umfeld der johanneischen Gemeinde diskutiert wurde.

Auf noch etwas anderes sei hingewiesen: Die Judaioi murren über Jesu Rede. Das hier gebrauchte griechische Verb gongizo mit den davon abgeleiteten Formen begegnet mehrfach in den Erzählungen von der Wüstenwanderung (vgl. Ex 16,2.7-9 u.ö.; Num 11,1). Es beschreibt die Haltung der Israelit*innen, die in der Wüste hungern und sich nach den „Fleischtöpfen Ägyptens“ zurücksehnen. Die Parallelität der Reaktionen ist evident: Die Judaioi in Galiläa reagieren ganz genauso wie die Israelit*innen in der Wüste.

Eine zentrale Szene aus der Vergangenheit wird reszeniert, diesmal mit Jesus als Protagonisten in einer Doppelrolle: Er ist gleichzeitig Brotgeber und Brot selbst.

Die Wüstenerzählung gehört zum jüdischen Erzählkanon und ist sowohl die ideale Zeit der Gottesbegegnung (mit der Gabe der Gebote am Sinai), als auch die Zeit, in der das Volk dauernd murrt, beschwert und klagt. Als Konsequenz dieser Haltung dürfen dann nur ausgewählte Einzelne das Land betreten, zu dem sie alle auf dem Weg sind – die anderen sterben in der Wüste (vgl. u.a. Num 14,29-35). Genau dieses Motiv wird in Joh 6 aufgenommen, wenn es heißt: „Eure Väter (oder: Eltern) aßen das Manna in der Wüste und starben“ (6,49). Dieser Vers hat in der Exegese oft zu einer dezidiert antijüdischen oder antijudaistischen Interpretation des Textes geführt: Auf der schlechten Seite sind Manna, Wüste, Israel und das Sterben; auf der „guten“, christlichen Seite: Jesus als Brot vom Himmel, die christlichen Anhänger*innen Jesu und das (ewige) Leben.

Eine solche Auslegung greift jedoch zu kurz: Alle Beteiligten hier sind Jüdinnen* (auch und besonders Jesus). Die Geschichte wird in Joh 6,49 genauso referiert und zusammengefasst wie auch sonst in der jüdischen Tradition; ein institutionalisiertes Christentum ist (noch) nicht gegeben. Dem Text angemessener ist es daher, diesen als einen innerjüdischen Konflikt zu lesen:

Die jüdische Gemeinde, die hinter dem Johannesevangelium steht, hat einen anderen, aber gleichfalls jüdischen Blick auf die Dinge, für den sie ebenso wie alle anderen jüdischen Menschen auf die jüdischen heiligen Schriften rekurriert.

Den Text aus dieser Perspektive zu lesen, verdeutlicht, dass die Bruchlinien zwischen Ablehnung Jesu und Nachfolge gerade nicht zwischen den jüdischen Menschen auf der einen und den christlichen auf der anderen Seite liegen (erinnert sei auch daran, dass im ganzen Johannesevangelium nie von „christlich“, „Christentum“ und „Kirche“ die Rede ist. Jesus spricht in Joh 6 in der Synagoge, vgl. 6,59). Die Bruchlinie geht vielmehr mitten durch beide am Dialog beteiligten Gruppen: Sowohl unter den Judaioi wie auch unter den Jünger*innen gibt es Ablehnung und Zustimmung zu dem, was Jesus sagt (vgl. Joh 6,52.64.66). Hier findet kein Konflikt zwischen zwei Religionen statt, sondern zwischen Menschen(gruppen): Vor die Entscheidung gestellt, zu akzeptieren, was Jesus
sagt und anbietet, reagieren sie je unterschiedlich auf ihn. Manche empfinden es als Zumutung: So wird Jesu Rede als „hart“ oder „brutal“ (skleros) und als skandalerregend (skandalizei) apostrophiert (vgl. 6,60f) – und dies im Kreis der Jünger*innen.

Es bleibt das Problem der johanneischen Rhetorik: Die Bezeichnung Judaioi, „die Juden“, für die eine Diskussionsgruppe deutet auf eine Problemlage der johanneischen Gemeinde. Das Evangelium gibt keinen exakten Bericht von Diskussionen, die tatsächlich in Galiläa um das Jahr 30 n. Chr. geführt wurden, sondern aktualisiert die Debatten aus der Perspektive einer späteren Zeit. In der Forschung wird mehrheitlich angenommen, das Johannesevangelium sei um 100 n. Chr. entstanden, also mit beträchtlichem zeitlichen Abstand zu den historischen Ereignissen. In dieser Zeit hat sich die Konfliktlage zugespitzt. Es ist bei Johannes mehrfach vom „Ausschluss aus der Synagoge“ die Rede (9,22; 12,42; 16,2), was bedeutet: Hinter diesem Evangelium steht offensichtlich eine Gruppe, die vom Mehrheitsjudentum nicht (mehr) akzeptiert wurde und die daraufhin ihre synagogale Heimat verlor. Diese Gruppe projiziert jetzt ihre Problemlage in die Zeit des historischen Jesus zurück, was eine zunehmend feindselige Rhetorik verursacht. Die Judaioi werden damit sukzessive zu „den anderen“, die Jesu Lehre (bzw. die der johanneischen Gemeinde) nicht akzeptieren und sich nicht überzeugen lassen. Was hier also erklärt wird – und sich auf der Rückseite unseres Ausgangszitates befindet – ist die wachsende Distanz zwischen Menschen(gruppen), die unterschiedlich auf Jesus reagieren. Jesus wird niemanden herauswerfen, wegschicken, der zu ihm kommt, – aber es gibt eben auch diejenigen, die nicht zu ihm kommen wollen. Historisch gesehen haben wir hier keine Prädestinationslehre, sondern eine nachträgliche Erklärung für die sehr unterschiedlichen Reaktionen auf die Verkündigung des johanneischen Jesus.

Wie wir uns angesichts dieser Verkündigung entscheiden wollen, ist uns als Lesenden selbst überlassen.

Es bleibt aber die Einladung Jesu: „Wer zu mir kommt, wird nicht mehr hungrig sein, und wer an mich glaubt (oder: mir vertraut), keinen Durst mehr haben“ (6,35).
Zum Weiterlesen:
Peder Borgen, Bread from Heaven. An Exegetical Study of the Concept of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo, NT.S 10, Leiden 1965 (21981): Aus diesem Buch stammt die alternative Übersetzung von Joh 6,32. Borgen legt Joh 6 als jüdische Gattung des Midrasch aus, was sehr viel Sinn ergibt.

Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen 101941, Nachdruck 1968: Ein klassischer, sehr lohnender, aber nicht ganz einfach zu lesender Kommentar zum Johannesevangelium. Bultmann liest den Text insgesamt als „Ruf zur Entscheidung“.

Silke Petersen, Brot, Licht und Weinstock. Intertextuelle Analysen johanneischer Ich-bin-Worte (NT.S 127), Leiden/Boston 2008: Im Brot-Kapitel findet sich eine ausführlichere Interpretation von Joh 6 als es hier möglich wäre.

Klaus Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, München 31992: Wengst thematisiert den Synagogenausschluss, die Probleme der johanneischen Gemeinde und die Interpretationskonsequenzen, die wir daraus ziehen sollten.

Anmerkungen

1) Die Zitate entsprechen der Septuaginta (= LXX), der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel, die im frühen Christentum vorwiegend verwendet wurde. Die Psalmennummerierungen weichen ab: In der Hebräischen Bibel sind es Ps 78 und 105; 2Esdr 19,15 findet sich dort als Neh 9,15, Weish 16,20 (in lutherischen Bibelausgaben) unter den Apokryphen.

Prof. Dr. Silke Petersen ist apl. Professorin für Neues Testament an der Universität Hamburg.

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang