Alle Ausgaben / 2005 Material von Jörg Zink

Jossel Rackower spricht mit Gott

Von Jörg Zink


„Mein Rabbi hat mir eine Geschichte erzählt von einem Juden, der mit Frau und Kindern aus der spanischen Inquisition entflohen ist und in einem kleinen Boot über das stürmische Meer zu einer steinigen Insel getrieben wurde. Es kam ein Blitz und erschlug die Frau. Es kam ein Sturm und schleuderte seine Kinder ins Meer. Allein, elend wie ein Stein, nackt und barfuß, geschlagen vom Sturm und geängstigt von Donner und Blitz, mit verwirrtem Haar und die Hände zu Gott erhoben, ist der Jude auf der wüsten Felseninsel seinen Weg weitergegangen und hat zu Gott gesagt: „Gott von Israel, ich bin hierher geflohen, um dir ungestört dienen zu können, um deine Gebote zu erfüllen und deinen Namen zu heiligen. Du aber hast alles getan, damit ich nicht an dich glaube. Solltest du meinen, es wird dir gelingen, mich von meinem Weg abzubringen, so sage ich dir, mein Gott und Gott meiner Väter: Es wird dir nicht gelingen. Du kannst mich schlagen, mir das Beste und Teuerste nehmen, das ich auf der Welt habe. Du kannst mich zu Tode peinigen – ich werde immer an dich glauben. Ich werde dich immer lieb haben – dir selbst zum Trotz!“

Diese Geschichte bildet den Abschluss einer Flaschenpost, die ein Verteidiger des Warschauer Ghettos im Gemäuer eines zerschossenen Hauses versteckte. Der Mann hatte seine Frau, seine sechs Kinder und – in zwei Tagen – alle Kameraden verloren, die mit ihm dieses Haus verteidigten – eines der letzten, das noch nicht in die Hände der deutschen Eroberer gefallen war. Nun blieb er allein übrig.  Seine Munition war verschossen. Er wusste, in spätestens einer Stunde würden die Deutschen sein Haus erstürmt haben.
Die Flasche, in der er seine Botschaft versteckt hatte,  enthielt Benzin. Er schüttete es über seine Kleider, um im Moment der Erstürmung in Flammen aufzugehen.

Auch diese Worte fanden sich in der Flaschenpost:

„Du sagst, Gott, wir haben gesündigt. Natürlich haben wir gesündigt … Ich will aber, dass du mir sagst, ob es eine Sünde in der Welt gibt, die eine solche Strafe verdient? …

Was soll denn noch geschehen, damit du uns dein Gesicht wieder zuwendest? …
Ich kann dich nicht loben für die Taten, die du duldest. Ich segne aber und lobe dich für deine schreckliche Größe, die gewaltig sein muss, wenn selbst das, was jetzt geschieht, auf dich keinen Eindruck macht …
Spätestens in einer Stunde werde ich mit Frau und Kindern vereint und mit Millionen meines Volkes in einer besseren Welt sein, wo es keinen Zweifel mehr gibt und wo Gott der einzige Herrscher ist. Ich sterbe ruhig, aber nicht befriedigt, ein Geschlagener, aber kein Verzweifelter, ein Gläubiger, aber kein Betender, ein Verliebter in Gott, aber kein blinder Amen-Sager …
Und das sind meine letzten Worte an dich, mein zorniger Gott: Du hast alles getan, damit ich nicht an dich glaube, damit ich an Dir verzweifle! Ich aber sterbe, genau wie ich gelebt habe im felsenfesten Glauben an dich.
Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einig und einzig! Jossel Rackower.“ 


aus: Zwölf Nächte
© Verlag Herder Freiburg 2000

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