Ausgabe 1 / 2010 Artikel von Jutta Boysen

Jute statt Plastik

Schritte zu einem nachhaltigen Lebensstil

Von Jutta Boysen


Da sitze ich nun und zerbreche mir den Kopf, wie ich unsere kleinen Schritte zu einem verantwortungsvollen Lebensstil zu Papier bringen soll. Draußen pustet ein heftiger Wind die letzten reifen Zwetschgen vom Baum. Werde ich es schaffen, sie einzusammeln und zu verarbeiten?

Vor zwei Wochen ging es am Mittagtisch um die Frage, ob wir per Rundmail alle aus der Gemeinschaft – etwa 45 Personen – zur Zwetschgenernte einladen sollten. Ich war dagegen, hatte Sorge, dass für unsere Hausgemeinschaft von acht Personen nicht genug übrig bleiben würde. Schön dumm angesichts der Fülle im Garten!


Es ist genug für alle da

Das Beispiel ist typisch für die Widersprüche, in die wir so oft verstrickt sind. „Es ist genug für alle da!“ Es gibt genügend Nahrungsmittel weltweit, und trotzdem hungern eine Milliarde Menschen. Das wusste ich schon – und höre es ausgerechnet heute wieder, als ich mit den Zwetschgen zum Entsteinen vor dem Fernseher sitze.

Inzwischen liegen die Zwetschgenhälften im elektrischen Dörrapparat – zwölf Stunden mit Ökostrom. Wenn ich an den Geschmack des Dörrobstes bei Wanderungen oder auf Reisen im nächsten Winter denke, scheint mir der Energieaufwand gerechtfertigt. Nur habe ich mir noch nicht die Mühe gemacht, ihn auf Heller und Pfennig auszurechnen.


Gefühlte Temperaturen

Die Herbstwinde zeigen uns, wo Lücken und Ritzen an alten Türen abgedichtet werden müssen. Da holen wir uns professionelle Hilfe. Wünschenswert wäre, das ganze fast hundert Jahre alte Wohn- und Gesindehaus wärmedämmend einzupacken. Nur wäre dann der Stil des Hauses zerstört. Davon rät sogar das Energiegutachten ab. Immerhin verheizen wir fossile Brennstoffe nur, wenn die Holzpellets-Heizung streikt.(1) Dass sie das oft tut, steht auf einem anderen Blatt!

Im Wetterbericht hat sich der Begriff „gefühlte Temperatur“ bereits eingebürgert. Als ich alleine lebte, entschied ich allein nach meinem Wärmeempfinden. Jetzt hat, wer als erste/r ins Esszimmer kommt, das Privileg zu entscheiden, wie hoch die Heizung gedreht wird. Mein Plädoyer für lange Unterhosen im Winter trifft in der Hausgemeinschaft nicht bei allen auf Verständnis.


Politik mit dem Einkaufskorb

Kürzlich gab es im Dorfladen Ananas zu kaufen – für 1,99 Euro. So viel kostete auch ein 5-Kilo-Sack mit Zwiebeln aus der Warburger Börde. Wie viel davon bekommt der Bauer, was verdient wohl der Plantagenarbeiter? Das habe ich im Laden aber nicht gefragt, sondern nur mit dem Hinweis auf die Obstfülle im eigenen Garten die Ananas liegengelassen. Drei Tage später gab es dann doch Ananas zum Nachtisch. So hatte es die Köchin vom Dienst entschieden. Wir wechseln uns ab und jede/r Erwachsene ist nur ein oder zwei Mal in der Woche „dran“, für die acht Mitglieder der Hausgemeinschaft und zeitweilig zwei bis fünf Gäste zu kochen.

Für den Einkauf gibt es keine festen Regeln. Ungeschriebene Übereinkunft ist, so viel wie möglich im Dorfladen zu kaufen – wie froh sind wir, dass es ihn in unserem Dorf mit 500 Einwohnerinnen und Einwohnern noch gibt. Ich genieße die Übersichtlichkeit und Vollständigkeit des Sortiments und, dass ich namentlich begrüßt werde. Wie viel lieber klöne ich mit der Ladenbesitzerin und dem Ladenbesitzer, als dass ich durch endlose Gänge in Supermärkten irre, um dann aus zehn Sorten eine Orangenmarmelade auszusuchen. Und dieser Lebensmittelladen bietet viel Frisches sowie ein wachsendes Sortiment an Bioprodukten und fair gehandelten Kaffee, seit es den bei seinem Großhändler gibt.

Viele von uns beziehen seit der Gründung der ersten Hausgemeinschaft 1975 fair gehandelten Kaffee allerdings per Sammelbestellung direkt von der GEPA. Tee gibt es einmal im Jahr direkt von der Teekampagne und zwischendurch von EL PUENTE. Und während die einen regelmäßig auf dem Wochenmarkt und im Bioladen im sieben Kilometer entfernten Warburg einkaufen, beziehen andere eine Gemüsekiste im Abo vom Bio-Hof drei Dörfer weiter. Wenn bei uns Wurst auf den Tisch kommt, fragen die drei Kinder, acht bis dreizehn Jahre alt, schon mal im Chor: „Ist die aus Massentierhaltung?“


Nahrungsmittel verheizen?

Damit bin ich beim Thema Mobilität. Ungefähr anderthalb Kilometer entfernt gibt es eine Fischfarm. Bislang bin ich noch nie auf die Idee gekommen, zu Fuß dorthin zu gehen, um frischen einheimischen Fisch zu kaufen. Es ist so praktisch, schnell im Dorfladen tiefgefrorenen Lachs zu kaufen! Aber würde mir die Entschleunigung nicht gut tun? Zu meiner „Ehrenrettung“ gebe ich zu bedenken, dass ich meistens auf der Rückfahrt aus der Stadt auf der Fischfarm einkaufe, also nicht extra mit dem Auto losfahre.

Vier Autos im Alter von 5 bis 12 Jahren werden von unserer Carsharing-Gruppe, bestehend aus 15 Erwachsenen und fünf Kindern bzw. Jugendlichen, genutzt. Als die Abwrackprämie kam, waren wir uns schnell einig, dass wir ohne Not kein Auto verschrotten würden. Jetzt sind die beiden alten Autos fällig für den TÜV – und das kostet uns knapp 3000 Euro.

Dumm gelaufen? Nein, wir lassen sie reparieren und planen, mit einem erhöhten Kilometergeld (bislang 20 Cent pro Kilometer) in zwei Jahren ein ökologisch vertretbares Auto zu kaufen. Und das wird sicher kein mit Biodiesel betriebenes Gefährt sein. Denn es kann weder bei uns noch in den Ländern des Südens ein genereller Öko-Freibrief für Bioenergien ausgestellt werden, ganz zu schweigen von den sozialen Folgen des Anbaus nachwachsender Energie-Rohstoffe.(2) Und natürlich frage ich mich, ob es angesichts des Hungers in der Welt ethisch vertretbar ist, Nahrungsmittel zu verheizen.


Kleider tauschen

Zwei Mitglieder unserer Gemeinschaft bemühen sich aktiv um die Auflösung des Widerspruchs, dass Kauf-Zurückhaltung in unserem derzeitigen Wirtschaftssystem quasi direkt zu einer Wirtschaftskrise führt, da vermeintlich nur Wachstum mehr Gerechtigkeit und die Bewältigung der anstehenden Herausforderungen bewirken kann. Im Rahmen des Verbandes von Regiogeld-Initiativen(3) berät Ralf Becker über 70 Initiativen, die durch die Einführung neuer Geldsysteme den aus dem Zinssystem resultierenden Wachstumszwang überwinden helfen.

Gegen die Wachstumsgläubigkeit wenden sich auch unsere verschiedenen Tauschaktionen: Kleider, Bücher und Trödel. Besonders der Kleidertausch zweimal im Jahr erfreut sich wachsender Beliebtheit in der Gemeinschaft und im Dorf. In unserem Versammlungsraum, einem ehemaligen Schafstall, werden gespendete Kleider auf Leinen, Bänken und Kleiderständern drapiert. Wer vom Wühlen und Anprobieren erschöpft ist, kann sich an ebenfalls gespendetem Kaffee und Kuchen laben. Immerhin 38 Kundinnen und Kunden zählten wir beim letzten Mal in zwei Stunden. Bezahlen müssen sie nichts, aber wir laden jeweils ein, für ein bestimmtes Projekt in Afrika oder Indien zu spenden.

Kleidung, die übrig bleibt, bringen wir entweder zu einer Kleiderkammer in der Region oder aber sie wird von der Bethelsammlung(4) abgeholt. Da die Deutschen sowieso WeltmeisterInnen im Kleiderkauf sind, mache ich mir keine Sorgen darüber, dass wir den Absatz von zum Beispiel in Indien produzierten T-Shirts kaputtmachen. Mein Ziel ist vielmehr, dass wir T-Shirts tragen, bis sie nur noch als Putzlappen taugen und danach im Restmüll bei uns landen.

Mit Blick auf die Gebrauchtkleidermärkte in Afrika wünsche ich mir, dass in Kleidersammlungen wirklich nur solche Kleidung landet, die die Spender und Spenderinnen auch noch selber tragen würden. Alles andere kränkt die Würde der Empfängerin oder des Empfängers in Afrika. Nicht nur wegen des Konsumzwanges, sondern auch aus ökologischen Gründen ist mir der Kleidertausch wichtig. Schließlich sind 50 Prozent der Bekleidung und Textilien aus Baumwolle, die unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten natur- und menschenschädigend angebaut wird.(5)


E-Mails statt kurzer Wege?

Aber auch in Wethen geht manches so, wie überall sonst auch. Wir haben viele Gelegenheiten und Möglichkeiten uns zu treffen und Informationen auszutauschen. Einige kommen regelmäßig zum Morgengebet, andere treffen sich beim Abendgebet, eine Gruppe von circa 20 Personen isst donnerstags gemeinsam. Die Wege zwischen unseren Häusern und Wohnungen sind kurz. Und doch läuft die meiste Kommunikation mittlerweile über E-Mail. Alleine bei uns im Haus stehen sechs Computer. Ich fürchte, dass dieser Standard ökologisch weder sinnvoll noch vertretbar ist, habe mich aber damit arrangiert. Denn da ich beruflich viel unterwegs bin, kommt es mir sehr gelegen, dass ich auch von Ferne alles mitbekomme. Andererseits empfinde ich das Bedürfnis, jederzeit „am Ball“ zu sein, als irgendwie krankhaft. WLAN überall bindet viele Energien. Zu viele?

Persönlich sehne ich mich nach Entschleunigung in allen Lebensbereichen – angesichts der globalen Klimakrise sicher ein lobenswertes Ziel. Manchmal frage ich mich, was eigentlich passieren muss, damit diese vage Sehnsucht,
die ja viele Menschen teilen, zu einer Notwendigkeit wird, die keine Alternative mehr zulässt. Aber muss es erst so weit kommen? Ich kann mich doch freiwillig entscheiden. Dabei fühle ich mich auch durch die gegenseitige Solidarität in unserer Gemeinschaft gestützt. Gleichwohl ist es oft schwierig konsequent zu sein, wenn der allgemeine Trend in der Gesellschaft dem entgegensteht. Und wie geht es Ihnen mit diesen Gedanken?


Für die Arbeit in der Gruppe

Material

Kopien eines oder mehrerer der thematischen Absätze mit Impulsfragen
(für AbonnentInnen unter www.ahzw.de / Service zum Herunterladen vorbereitet)Kleingruppen: einen oder (arbeits-teilig) mehrere Absätze des Textes mit folgenden Impulsfragen bearbeiten:
– Welche Entscheidungskriterien bzw. welche Werte spielen in dieser Situation eine Rolle?
– Kenne ich ähnliche Situationen? Und wie habe ich mich da verhalten?
– Würde ich mich heute anders verhalten?

Plenum:
eine Liste von Entscheidungskriterien zusammenstellen und Stellenwert diskutieren (eventuell punkten)

Impuls:
Nachhaltige Entwicklung kann nicht ausschließlich durch privaten Konsumverzicht erreicht werden, braucht aber auch die Bereitschaft, den persönlichen Lebensstil zu ändern.

– das Arbeitsblatt (s.S. 39) anonym ausfüllen lassen, auswerten: Wie viel Prozent sind jeweils bereit, die vorgeschlagenen Veränderungen zu akzeptieren? Ergebnis in der Gesamtgruppe diskutieren.
– oder: Die einzelnen Fragen direkt in der Gruppe diskutieren und Hemmnisse für Veränderungen bzw. Bedingungen für Veränderungen herausarbeiten (Beispiel: Wenn der ÖPNV Wethen zehn Mal am Tag anfahren würde, könnte ich auf ein Auto verzichten!)


Jutta Boysen, 57, ist ausgebildet als Volks- und Realschullehrerin. Sie war mehrere Jahre als Entwicklungshelferin in Botswana, seit 1984 ist sie haupt- und freiberuflich in der entwicklungspolitischen und ökumenischen Bildungsarbeit u.a. bei kirchlichen Werken tätig. Sie lebt seit 2006 in der Ökumenischen Gemeinschaft Wethen und bereitet sich zurzeit auf einen Einsatz als Friedensfachkraft in Liberia/Westafrika (vermittelt über den Evangelischen Entwicklungsdienst) vor.


Ökumenische Gemeinschaft Wethen

Die Hausgemeinschaften der Laurentiushöfe bilden gemeinsam mit mehreren Familien und Alleinstehenden in Wethen und dem Nachbarort Germete/Warburg die Ökumenische Gemeinschaft Wethen.

– Alle verbindet die Bereitschaft, sich gesellschaftlich, politisch und kirchlich im Sinne des biblischen Schalom zu engagieren.
– Seit 1987 befindet sich hier das Büro der Ökumenischen Initiative Eine Welt, einer Lernbewegung für nachhaltige Lebensweise.
– 1992 konnte mit der Gründung des Ökumenischen Dienstes (OeD) ein altes Anliegen des Laurentiuskonvents im Rahmen des Konziliaren Prozesses verwirklicht werden. Der OeD bildet Friedensfachkräfte für Einsätze in internationalen Brennpunkten aus.
– 2007 hat sich innerhalb der Ökumenischen Gemeinschaft eine Solidargemeinschaft zur gegenseitigen Unterstützung im Krankheitsfall gebildet, die dem Netzwerk artabana (siehe www.artabana.org) angeschlossen ist. Diese Solidargemeinschaft versteht sich als Beispiel für die verantwortungsvolle Gestaltung sozial-ökonomischer Solidarität in sinnvoller Balance von finanzieller Risikoabsicherung und gemeinschaftlicher Gesundheitsvorsorge.

mehr unter: http://laurentiuskonvent.de/iWethen.html


Anmerkungen

1 Holzpellets sind kleine Stifte aus gepresstem Sägemehl. Sie werden ohne Zusatzstoffe hergestellt und besitzen einen hohen Energieinhalt: 1.000 Liter Öl entsprechen dem Heizwert von ca. zwei Kubikmetern Pellets. Pellets sind reine Biomasse und setzen beim Verbrennen pro kWh rund zehnmal weniger CO2 frei als eine Elektroheizung. Im Jahr 2008 wurden laut Deutschem Energie-Pellet-Verband in Deutschland mehr als 20.000 Pellets-Heizungen verkauft. Der wichtigste Grund sind die relativ niedrigen Energiekosten. (http://www.energiesparen-im-haushalt.de/energie/bauen-und-modernisieren/hausbau-regenerative-energie/energiebewusst-bauen-wohnen/emission-alternative-heizung/heizen-mit-holz/holzpelletheizung.html)
2 Ein hervorragendes Arbeitsheft zu dieser Thematik ist die Broschüre „Zukunftsfähige Bioenergien?“ Klimaschutz, nachwachsende Energierohstoffe und die Chancen auf Entwicklung. Ein Arbeitsheft für Schulen, für Erwachsenenbildung und Gemeindearbeit, Hgg. Aktion Humane Welt e.V. und Eine Welt Netzwerk NRW. Bezug: www.welthaus.de
3 siehe hierzu: www.regiogeld.de
4 Wichtig ist uns, dass wir die Kleider entweder in der Region oder aber an eine Sammelorganisation weitergeben, die dem Dachverband FairWertung angehört: www.fairwertung.de
5 Näheres hierzu bei der Kampagne für Saubere Kleidung: www.saubere-kleidung.de

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