Ausgabe 2 / 2008 Frauen in Bewegung von Birgitta M. Schulte

Karin Flaake

Expertin für Erwachsenwerden

Von Birgitta M. Schulte


Karin Flaake ist Professorin. Sie hat früh den Doktortitel erworben,  später die Zulassung zu Lehre und Forschung, und jetzt gerade ist sie in den Ruhestand gegangen. Sie ist von Oldenburg und ihrer Uni zurückgezogen nach Frankfurt, wo sie studiert und gearbeitet hat.

Die Frankfurter Wohnung hat sie nie aufgegeben, und die steht jetzt voller Umzugkartons. Ein Karton ist schon in den Keller gewandert. Ein Karton voller Artikel ihres Vaters, der Journalist war. Sie hat diesen Karton nach dem Tod ihres Vaters eigens nach Oldenburg transportiert. Jetzt hat sie ihn wieder mit umgezogen.

Die Artikel stammen aus der Zeit nach 1933. Karin Flaake hat einige gelesen, aber den Karton schnell wieder geschlossen. Damals nach dem Tod des Vaters. Und jetzt hat sie die Kiste ungeöffnet in den Keller gestellt. Sie hat nicht Angst, dem Täter ins Auge sehen zu müssen. Sie weiß, dass ihr Vater nicht gemordet hat. Es ist die Identifikation mit dem Großen, die Teilhabe an nazistischen Inszenierungen von Grandiosität, die sie fürchtet, die Verstellung, die darin liegt, die Unsicherheit, die dazu geführt hat, dass er auch an ihrer Größe teilnehmen wollte. Dieser Vater hat seine Tochter ihres Großen, der Doktorarbeit, der anschließenden  Prüfung und der damit verbundenen Ehre beraubt. Er hieß Kurt und fand das praktisch. Dann könne er ja Dr. K. Flaake schreiben und sich das Schild an seine Tür hängen. Karin konnte nicht lachen. Sie veröffentlichte ihre Doktorarbeit nicht. Sie fing eine Psychoanalyse an.


Der väterliche Weg

Erst im vertrauenden Gespräch mit der Analytikerin, in ihrem Schutz brach sich Bahn, was vorher wie unter dem Deckel eines Dampfkochtopfs festgehalten war: die Gefühle tiefer Verletzung durch den Vater und die – verschüttete – Liebe zur Mutter. Karin Flaake erkannte, dass sie bis dahin den „väterlichen“ Weg gegangen und das ihr selbst Wichtige zu kurz gekommen war. Der väterliche Weg, das war einerseits der Weg, den der Vater selbst gern gegangen wäre. Er hätte selbst gern studiert und setzte stattdessen die Tochter auf die Schiene. Er suchte mit einem Bekannten großen Namens aus dem Vorlesungsverzeichnis aus, was sie als Erstsemester hören sollte. Karin ging diesen Weg, indem sie interessierte, was er spannend fand. Er bemühte sich, alles auf der Welt verstehen zu wollen. Insbesondere wie die Gesellschaft funktioniert. Und das in kritischer Absicht. Karin studierte Soziologie und häufte das Wissen an, das sie für Gespräche mit ihm gut hätte gebrauchen können. Aber sie konnte nicht mit ihm reden. Sie hatte das Gefühl, sie sei zu dumm. Er hatte entwertet, was sie geschrieben hatte. Schon früh. Was das kleine Mädchen stolz ihm brachte, las er verhunzend vor.

Die Kränkung saß so tief, dass die Erwachsene nicht zeigen konnte, was
in ihr steckte. Nicht redend, eher schreibend. Nicht öffentlich, eher im Stillen. Es gab das, was sie „leise Unterwürfigkeit“ nennt. Sie war ganz auf seiner Seite. Sie schaute durch die männliche Brille. Sie nahm die Perspektive ein, die an der Universität selbst verständlich war. Denn es gab viele Professoren und wenige Professorinnen, und dass das einen Unterschied machen könnte, hatten noch längst nicht alle gesehen. Auch sie selbst nicht. Bis zu diesem einen Moment, als sie am Fenster stand im Institut für Sozialforschung in Frankfurt. Sie schaute hinaus und wusste es auf einmal genau: Auch inhaltlich war es der Weg des Vaters, den sie bisher gegangen war: „Es war nicht meines.“ Ihre Ohren öffneten sich für die Ratschläge einer Kollegin, die sie schon oft darauf aufmerksam gemacht hatte. Es gibt eine Differenz zwischen den Geschlechtern!


Richtungswechsel

War es bisher in ihrem Forschungsprojekt um die Bedeutung des Berufs für Ingenieure und Lehrer gegangen, so differenzierte sie jetzt zwischen Lehrerinnen und Lehrern. Und in der Tat: Männer und Frauen gingen unterschiedlich um mit den Anforderungen des Lehrberufs. Karin Flaake bezog von Frauen veröffentlichte Literatur ein, die Psychoanalyse und Soziologie verband. Ein altes Unbehagen wurde jetzt benennbar: Was als allgemeingültig verkauft worden war, galt doch nur für  Männer! Was so abstrakt und prinzipiell daher kam, erfasste nicht die ganze Welt! Frauen zeigten sich mit ihrer  eigenen, anderen Stimme. Damit brach der Bann. Die „väterliche“ Macht zerbröckelte. Frauen getrauten sich, einen selbständigen Blick einzunehmen, wagten eine andere Deutung, und Karin Flaake gesellte sich zu ihnen. Heute kommt ihr das Verdienst zu, auch politisch wesentlich zur Einrichtung von Lehrstühlen für Geschlechterfragen beigetragen zu haben.

Karin Flaake verabschiedete sich langsam von Institut für Sozialforschung, das so stark von bedeutenden Männern wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Ludwig von Friedeburg dominiert war. Sie wollte künftig  weniger forschen und mehr lehren. Sie betrat den mütterlichen Weg. Ihre  Mutter, die Sekretärin geworden war und diesen Beruf für ihren Mann, die Ehe und das Kind aufgab, hatte ursprünglich Volksschullehrerin werden wollen. Die Abiturientin Karin hatte so einen Weg noch verachtet. Volksschullehrerin – wie die meisten ihrer Mitschülerinnen – wollte sie nicht werden. Jetzt nahm sie Lehraufträge an den  Universitäten Frankfurt und Darmstadt an, gab Kurse in der „Frankfurter  Frauenschule“, einem autonomen  Frauenbildungsprojekt. Und sie machte eine Ausbildung zur Gruppenanalytikerin. Der psycho-analytische Blick, auf Verstehen gerichtet, wurde ihr Instrument der Gesellschaftsanalyse aus der Perspektive der Frauen. Sie verschränkte, was damals in der Wissenschaft als randständig galt, ohne die Stellung am Rand zu fürchten. Sie engagierte sich in Frauenforschung und Frauenbewegung, mit großer Hartnäckigkeit. Denn sie hatte einen inneren Motor. Indem sie lernte, erforschte, benannte, was die Frauen betraf, verstand sie sich selbst. Sie fragte nach den innerpsychischen Bedingungen für das Verhältnis von Frauen zur Macht, für die Konflikte unter Frauen am Arbeitsplatz, für das Verhältnis zur eigenen Weiblichkeit, zum eigenen Körper.

Karin Flaake, nun schon Professorin in Oldenburg, entwickelte sich zur Expertin für die weibliche Adoleszenz, für die Zeit, in der Mädchen Brüste wachsen und zum ersten Mal Blut fließt. „Menstruation“, „ödipales Szenario“, „Lesbianismus“, „Geschlecht und Sozialisation“ wurden ihre Themen. Immer wieder fragte sie danach, wie gesellschaftliche Definitionen die Körperwahrnehmung und das Körpererleben junger Frauen prägen. Das war ihre Art der Auseinandersetzung mit dem Vater.

In ihren Texten ist spürbar, dass ein Anliegen sie treibt. Mit großer Einfühlung deckt sie auf, was Übergriffe des Vaters für ein Mädchen bedeuten, das sich der sexuellen Bedeutung seines Körpers bewusst wird. Sie zeigt, dass gerade in der Pubertät Phantasie und Realität ineinander übergehen. Das Mädchen ist ja plötzlich eine junge Frau. Eine sexuell attraktive Erwachsene und ein erwachsener Mann begegnen sich im vertrauten, nahen Raum der Familie, und beide wünschen und phantasieren die Vereinigung. Es ist die Verantwortung des Vaters, der Tochter zu signalisieren: ‚Eine Beziehung musst du außerhalb suchen. Ich werde dich nicht dafür bestrafen, auch wenn ich eifersüchtig bin. Und du bleibst mein schönes Kind, auf das ich stolz bin.' Das, weiß Karin Flaake, ist ein Verhalten, das eher selten vorkommt. Immer wieder konfrontierte sie sich in ihren Interviews mit Müttern, Vätern und Töchtern mit der bitteren Realität. „Männer fassen Mädchen unter den Rock, weil sie die gesellschaftliche Erlaubnis dazu haben.“

Karin Flaake wertet Befragungen mit einer Methode aus, die für die Schöne Literatur entwickelt worden ist. Nicht einer allein, im Gespräch mit anderen macht diese Methode unbewusste  Aussagen deutlich, Gehalte, die vor der Diskussion nicht zugänglich waren. Als Professorin in Oldenburg rief Karin  Flaake Lehrende und Studierende zum Austausch über Interviews zusammen und stiftete damit einen Zusammenhang, der für die jungen Leute auch  Privatleben war und Hochschullehrerinnen und -lehrern erlaubte, die Entwicklung der Studierenden über eine Strecke ihres Studiums zu begleiten. Als Frau handelte sie da, schuf Nähe und Beziehung für sich und andere. In diesen Zusammenhang gelang es ihr schließlich auch, das Männliche in den Blick zu nehmen und das Thema der Pubertät auch für Jungen aufzuarbeiten.


Unterwegs zu sich selbst

Die große Zahl der Veröffentlichungen Karin Flaakes zum Erwachsenwerden belegt, wie lange sie sich auf dem Umweg über die Wissenschaft mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigt hat. Auf diese Weise klärte sie ihr Verhältnis zu Weiblichkeit und Männlichkeit. Das ist das, was Frauen gewinnen, die sich als Erwachsene mit ihrem Vater auseinandersetzen: Sie begreifen, wie sie sich als Frauen verstehen in ihrem jetzigen Leben. „Die Bedeutung des Vaters“, betont Karin Flaake, „erschließt sich vor dem Hintergrund der Paarbeziehung und der Mutter-Tochter-Beziehung.“ Zwischen ihren Eltern, die ein Leben lang zusammenblieben, gab es schon früh Probleme. Dennoch schaffte ihre Mutter es nicht, sich eine eigene Welt aufzubauen. Sie wagte während der Ehe nie wieder den Schritt in die Berufstätigkeit. Sie verhielt sich, wie es das gesellschaftliche Ideal in den 50/60er Jahren vorgab: Sie musste nicht arbeiten gehen, der Vater schaffte es, die Familie zu ernähren. Für viele Frauen resultierte daraus eine große Unzufriedenheit mit ihrem Leben.  Manche Mütter wünschten dann, ihre Töchter möchten es einmal besser haben als sie. Karin Flaakes Mutter aber empfand das wache kluge Kind, das in die Welt ging, als Konkurrenz. Sie unterstützte es nicht auf seinem Weg.

So wurde Karin – wie viele Töchter in dieser Zeit – eine Vater-Tochter. Sie übernahm die Verachtung der mütterlichen Welt, die doppelte Botschaft des gesellschaftlichen Familienideals, die der Vater mittrug. Karin wandte sich von der Mutter ab und idealisierte den Vater. „Samstags – ich war sechs oder älter – war die Zeitung besonders dick. Die, dachte ich, hat mein Vater gemacht, eine so tolle dicke Zeitung!“ Wenn sie ihn auf dem Weg zur Redaktion begleitete, blähte sich ihre Brust vor Stolz. Ein Mann mit einer so dicken Aktentasche! So hatte das Mädchen teil an seiner Größe. Die junge Frau und noch die junge Berufstätige fühlte sich erhoben, indem sie sich ganz an ihm orientierte. Der Preis: die „leise Unterwerfung“, mangelnde Durchsetzungskraft gegen über Männern. Auch das Kennzeichen einer ganzen Generation.

Die Beschäftigung mit ihrer Kindheitsgeschichte hat auch die anderen Bilder wieder hervorgeholt. Wie liebevoll die Mutter Karin morgens zu wecken pflegte. Wie verlässlich sie sie in der Dunkelheit zum Bahnhof begleitete, wenn eine Jugendreise im Nachtzug begann. Und dass der Vater, der sich immer als so charmant und großartig gegeben hatte, gegen Ende seines Lebens manchmal seine Hilflosigkeit und Schwäche eingestehen konnte. Durch den Blick zurück ist Karin Flaake milder geworden gegenüber der  eigenen Geschichte.



Birgitta M. Schulte, geb 1951, studierte Germanistik und Pol. Wissenschaften. Seit 1984 arbeitet sie  freiberuflich als Journalistin für Hörfunk und Print medien mit den Themenschwerpunkten Bildung, Frauen, Kulturgeschichtliches. Sie ist Coach (ZWW, Uni Bielefeld), Moderatorin und Gender Trainerin (www.gender-netzwerk.de, www.journalistinnen.de).

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang