Ausgabe 1 / 2009 Artikel von Barbara Hennig

Karriere oder erfülltes Leben?

Anleitung zur Work-Life-Balance

Von Barbara Hennig


In dem lesenswerten Roman „Das Café am Rande der Welt“ erzählt John Strelecky die Geschichte eines Managers, der dem Stress zu entkommen versucht. Auf dem Weg in den Urlaub gerät John in einen Stau. Beim Versuch, diesen zu umfahren, verirrt er sich heillos. Entnervt und mit dem letzten Tropfen Benzin gelangt er in eine vereinsamte Gegend. Das einzige Haus weit und breit ist „Das Café der Fragen“.

Auf der Rückseite der Speisekarte liest er unter der Überschrift „Dinge, über die Sie nachdenken können, während Sie warten“ drei Fragen: Warum bist
du hier? Hast du Angst vor dem Tod? Führst du ein erfülltes Leben? Die Fragen konfrontieren John mit seinem bisherigen Leben. Mit Hilfe der Kellnerin und des Cafébesitzers gelingt es ihm, den Sinn seines Lebens neu in den Blick zu nehmen. Das hat Konsequenzen für sein ganzes Leben.(1)

Was John Strelecky anrührend und lebendig beschreibt, hat er selbst erlebt. Nach 20 Jahren erfolgreicher Tätigkeit in der Wirtschaft begibt er sich mit seiner Frau Xin auf eine Weltreise. Das neunmonatige Abenteuer, bei dem sie mit Pferden, Elefanten, Schiffen und dem Fahrrad unterwegs sind, verändert sein Leben. Diese Erfahrungen fließen in sein Buch mit ein. Er gründet das „The Why Café Institute“, wo er Seminare und Workshops veranstaltet und seine Erfahrungen anderen zur Verfügung stellt.(2)

Was braucht es, um aus dem „Hamsterrad“ eines gestressten Arbeitslebens herauszukommen und sein Leben zu ändern? Das ungewöhnliche Abenteuer? Den Herzinfarkt oder die Erfahrung des Ausgebrannt-Seins? Die gescheiterte Ehe? Manchmal scheint es so zu sein.

Nichts finde ich schlimmer als die Überschrift über der Todesanzeige: „Nur Arbeit war ihr / sein Leben.“ Tatsache ist, dass die Arbeitsbelastung zunimmt. Diese Erfahrung machen nicht nur Führungskräfte. Immer mehr Menschen leiden unter der so genannten „Arbeitsverdichtung“, das heißt: Immer weniger Menschen machen immer mehr Arbeit. Immer schwerer wird es, den Anforderungen gerecht zu werden. Und immer bleiben Dinge liegen. Stress-Symptome folgen aus ständiger Überlastung.

Allerdings deutet sich derzeit ein Gegentrend, vielleicht sogar ein „Kulturwechsel“ an. Die Erkenntnis, dass Arbeit nicht alles sein kann, hat sich in der öffentlichen Diskussion unter dem Begriff „Work-Life-Balance“ verbreitet:

Unter der Vereinbarkeit von Familie und Beruf versteht man seit dem 20. Jahrhundert die Möglichkeit Erwachsener im arbeitsfähigen Alter, sich zugleich Beruf und Karriere einerseits und dem Leben in der Familie und der Betreuung von Kindern und pflege-bedürftigen Personen andererseits zu widmen, unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten, die dabei auftreten können. Allgemeiner wird das Thema unter Vereinbarkeit von Berufs-, Privat- und Familienleben gefasst oder, englischsprachig, als Work-Life-Balance. Dieser englischsprachige Begriff wird vor allem in Bezug auf betriebliche Aspekte wie etwa familienfreundliche Arbeitszeiten sowie auf Möglichkeiten zur Verbesserung des individuellen Gleichgewichts verwendet; er bezeichnet ein anzustrebendes Gleichgewicht im Allgemeinen, auch für Singles.“(3)

Es geht also bei der „Work-Life-Balance“ um ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Privatleben. Nicht mehr Geld und Karriere stehen an erster Stelle. Vielmehr sollen private Interessen und Familienleben mit den Anforderungen der Arbeitswelt in Einklang gebracht werden. Denn es bedeutet eine Einschränkung von Lebensqualität, das persönliche Engagement auf nur einen Bereich zu beschränken.

Zukunftsmodelle der Arbeitswelt nehmen diese Bedürfnisse in den Blick. Werte wie Sich-Wohlfühlen am Arbeitsplatz, Spaß an der beruflichen Arbeit oder ein gutes Verhältnis zu Kolleginnen und Kollegen bekommen eine höhere Bedeutung. Denn Ausgeglichenheit heißt mehr Effizienz. Teilzeit, Auszeiten, flexible Arbeitszeiten oder „downshifting“ sind dabei mögliche Ansatzpunkte. „Downshifting“ – wieder mal ein englisches Wort, aber wie das so ist, fangen Modeerscheinungen üblicherweise in Amerika an. Die neueste Auflage des englischen Wörterbuches(4) übersetzt: „Tausch einer finanziell attraktiven, aber stresserfüllten Karriere gegen eine weniger anstrengende, aber erfüllende Lebensweise mit geringem Einkommen“. Über eine Million BritInnen – so schreibt die Tagespresse am 29.07.085– möchten künftig freiwillig Einfachheit leben und auf ein hohes Einkommen, Karriere und Luxus verzichten. „Freiheit statt Aktienoptionen, Freunde statt Chefsessel, Genuss statt Karriere“ heißt die Devise.(6)

„Work-Life-Balance“ versucht, Arbeit und Privatleben wieder in ein ausgeglichenes Maß zu bringen. Wir dürfen gespannt sein, welche alternativen Arbeitsmodelle in den nächsten Jahren geschaffen werden. Doch fangen wir erst einmal bei uns selbst an…


Für die Arbeit mit der Gruppe

Ziel:

Das rechte Maß zwischen Arbeit und Freizeit bzw. Privatleben zu finden, ist Herausforderung für jeden Menschen. Die folgende Einheit will einen Zugang zur aktuellen Diskussion um „Work-Life-Balance“ zu bereiten. Zudem soll dazu angeregt werden, die eigenen Prioritäten im Leben zu reflektieren und ggf. das eigene Verhalten zu ändern.


Zeit:

ca. 60-90 Minuten für jede Einheit. Es ist möglich, die Einheit über die Geschichte von Böll nicht ganz so ausführlich zu behandeln und die Erarbeitung der Work-Life-Balance direkt anzuschließen. Dann sind aber wenigstens 90 Min. einzurechnen.


Material:

– für „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“:
Kopie der Geschichte (siehe Seite 46); 2 große Blätter (z.B. Flipchart-Papier) bzw. Umrisse einer Figur, 1 dicker Filzstift

– für „Work-life-balance“:
Fotokopien des Arbeitsblattes „Alles in Balance“ (s.S. 82); ein vorbereiteter Arbeitsbogen (Kreis mit vier Sequenzen) sowie fertige Moderationskarten mit den 4 Faktoren: (1) Arbeit / Leistung; (2) Körper / Gesundheit; (3) Kontakt; (4) Zeit für mich / Zeit für Gott; DIN A 5 Blätter in 4 entsprechenden Farben
pro Teilnehmerin, Stifte für jede; Kopiervorlagen sind für AbonnentInnen unter www.ahzw.de / Service zum Herunterladen vorbereitet.


„Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“

1 Die Anekdote wird mit einem kurzen Kommentar eingeführt: Heinrich Böll (1917-1985) schreibt diese Geschichte anlässlich einer Sendung des Norddeutschen Rundfunks zum „Tag der Arbeit“ am 1. Mai 1963. Böll nimmt hier die Werte der westdeutschen Wirtschaftswunderzeit ins Visier. Vollbeschäftigung und ununterbrochene Hochkonjunktur können wir heute nicht aufbieten. Dennoch hat diese Anekdote wieder Aktualität bekommen…
Die Leiterin liest die Geschichte vor und gibt Gelegenheit zur ersten spontanen Reaktion.
2 Die Teilnehmerinnen erhalten die Geschichte als Kopie. Im gemeinsamen Gespräch werden die Unterschiede der beiden Charaktere herausgearbeitet.

Impuls: Wie wird der Tourist beschrieben? Was wird über den Fischer ausgesagt? Welche Unterschiede stellen Sie bei beiden fest im Aussehen, im Verhalten und möglicherweise in ihrer Art zu denken?
Die Leiterin schreibt die Kommentare auf zwei einzelne große Blätter bzw. Umrisse von Figuren.

Impuls: Das Leben des Fischers und das des Touristen könnten nicht gegensätzlicher sein. Wer ist Ihnen sympathischer? Wem fühlen Sie sich näher? Unterhalten Sie sich mit Ihrer jeweiligen Nachbarin darüber.
Anschließend ist Gelegenheit für kurze Rückmeldung über das Besprochene im Plenum.

3 Impuls: Statt Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung finden wir heute eine hohe Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und Arbeitsverdichtung auf der anderen Seite. Welchen Rat könnte sich der gestresste Geschäftsmann beim Fischer heute holen?
Die Teilnehmerinnen übertragen die Geschichte auf die heutige Zeit. In diesem Zusammenhang führt die Leiterin den Begriff „Work-Life-Balance“ ein.

4 Dieser Schritt ist für Gruppen gedacht, die sich gern auch schriftlich ausdrücken.
Impuls: Einigen Sie sich mit Ihrer Nachbarin, welche Sichtweise Sie jetzt gerne einnehmen möchten. Die eine übernimmt die Rolle des Touristen, die andere die des Fischers. Stellen Sie sich vor: Einige Wochen sind vergangen. Der Tourist ist wieder zu Hause. Beiden ist das Gespräch noch nachgegangen. Schreiben Sie sich gegenseitig einen kurzen Brief und tauschen sie diese Briefe aus…
Einige der Briefe werden im Plenum vorgelesen.


„Work-Life-Balance“

1 Die Leiterin erklärt den Begriff „Work-Life-Balance“ und die vier Einflussfaktoren von Nossrat Peseschkian. In einen großen Kreis, der in vier Segmente eingeteilt ist, klebt sie in jeweils einer anderen Farbe die 4 Faktoren (Arbeit…)
Die Teilnehmerinnen erhalten DIN A 5 Blätter in den entsprechenden Farben. Sie werden aufgefordert, für die Begriffe konkrete Beispiele aus ihrem Alltag zu finden.

Impuls: Sie haben vier verschiedene Blätter erhalten. Jede Farbe steht für einen bestimmten Bereich: die Farbe … für den Bereich Arbeit / Leistung usw.
Finden Sie konkrete Beispiele für jeden Bereich, die Ihren Alltag ausmachen, z.B.: Was tun Sie tatsächlich für Ihren Körper, Ihre Gesundheit – gesunde Ernährung, Spazieren gehen, regelmäßige Gymnastik? Wie sieht es um Ihre Kontakte aus? Wie viel Zeit verbringen Sie mit Freunden, Familie, Gruppen mit Gleichgesinnten? Was gehört in Ihren Arbeitsbereich? Sind Sie berufstätig? Wie viel Zeit fällt für Hausarbeit und andere Verpflichtungen an? Haben Sie ausreichend Zeit für sich selbst? Wie gestalten Sie die Beziehung zu Gott?
Schreiben Sie Ihre persönlichen Antworten auf und schätzen Sie möglichst spontan ein, wie sich die verschiedenen Bereiche prozentual zueinander verhalten. Tragen Sie dies auf dem Arbeitsblatt „Alles in Balance“ ein, indem Sie die Bereiche im Kreis ihrer Größe nach unterschiedlich schraffieren. Sie haben dafür 15 Minuten Zeit.

2 Impuls: Was haben Sie festgestellt, als Sie sich Gedanken über die verschiedenen Bereiche gemacht haben? Sind Sie zufrieden mit Ihrem „Ist-Zustand“? Welcher Bereich „frisst“ zu viel Energie? Welchem Bereich möchten Sie zukünftig mehr Raum und Zeit schenken?
Nach einer Zeit des Nachdenkens für sich können die Teilnehmerinnen sich untereinander austauschen.

3 Abschluss: Das Gedicht „Ich wünsche dir Zeit“ wird vorgelesen und jeder Teilnehmerin als Geschenk mit nach Hause gegeben.


Ich wünsche dir nicht alle möglichen Gaben.
Ich wünsche dir nur, was die meisten nicht haben:
Ich wünsche dir Zeit, dich zu freun und zu lachen,
und wenn du sie nützt, kannst du etwas draus machen.

Ich wünsche dir Zeit für dein Tun und dein Denken,
nicht nur für dich selbst, sondern auch zum Verschenken.
Ich wünsche dir Zeit – nicht zum Hasten und Rennen,
sondern die Zeit zum Zufriedenseinkönnen.

Ich wünsche dir Zeit – nicht nur so zum Vertreiben.
Ich wünsche, sie möge dir übrigbleiben
als Zeit für das Staunen und Zeit für Vertraun,
anstatt nach der Zeit auf der Uhr nur zu schaun.

Ich wünsche dir Zeit, nach den Sternen zu greifen,
und Zeit, um zu wachsen, das heißt, um zu reifen.
Ich wünsche dir Zeit, neu zu hoffen, zu lieben.
Es hat keinen Sinn, diese Zeit zu verschieben.

Ich wünsche dir Zeit, zu dir selber zu finden,
jeden Tag, jede Stunde als Glück zu empfinden.
Ich wünsche dir Zeit, auch um Schuld zu vergeben.
Ich wünsche dir: Zeit zu haben zum Leben!

Elli Michler, aus: „Dir zugedacht“. Wunschgedichte
© Don Bosco Verlag, München 2004


Barbara Hennig, Jahrgang 1955, arbeitet freiberuflich als Supervisorin, Organisationsentwicklerin und geistliche Begleiterin. Sie ist ehrenamtlich im Vorstand der Ev. Frauenhilfe, Landesverband Braunschweig e.V. tätig.


Anmerkungen:

1 John Strelecky: Das Café am Rande der Welt. Eine Erzählung über den Sinn des Lebens. DTV, München 32007
2 www.whycafe.com
3 www. Wikipedia.de, Stichwort „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ bzw. „Work-Life-Balance“
4 New Oxford Dictionary of English
5 www.tagesschau.de/ausland/meldung97810.html
6 Oliver Mest. Downshifting – Zur Ruhe kommen. In: monster.de, Karriere-Journal, http://inhalt.monster.de/2484_de_DE_p1.as


Zum Weiterlesen:

Lothar J. Seiwert: Wenn du es eilig hast, gehe langsam. Das neue Zeitmanagement in einer beschleunigten Welt. Sieben Schritte zur Zeitsouveränität und Effektivität. Frankfurt am Main (Campus Verlag) 32001
John Strelecky: Das Café am Rande der Welt. Eine Erzählung über den Sinn des Lebens. dtv 32007


Arbeitsblatt: Alles in Balance?

Der iranische Nervenarzt und Psychotherapeut Nossrat Peseschkian (*1933) führt die Balance zwischen Berufs- und Privatleben auf vier Einflussfaktoren zurück: Kontakt, Körper, Sinn (hier als „Zeit für mich / Zeit für Gott“ beschrieben), Arbeit / Leistung.(1) Jeder einzelne Bereich trägt zu einem ausgeglichenen, erfolgreichen Leben bei. Zeitaufwand und Ansprüche sind nicht gleich intensiv. Die Anteile der einzelnen Faktoren sind daher nicht gleich groß.
Die einzelnen Faktoren stehen in einer gegenseitigen Abhängigkeit zueinander. Rückt z.B. der Beruf zu sehr in den Mittelpunkt, führt dies zwangsläufig dazu, dass andere Bereiche vernachlässigt werden. Es geht um die Ausgewogenheit des Verhältnisses der Bereiche zueinander. Jeder Mensch ist einzigartig. Es geht darum, das für Sie Optimale herauszufinden.

Wie zeigt sich jeder Bereich konkret in Ihrem Alltag? Und wie viel Raum und Energie nimmt er ein? Schraffieren Sie mit verschiedenen Farben den prozentualen Anteil der jeweiligen Bereiche.
Im nächsten Schritt geht es um den Soll-Zustand. Überlegen Sie, wie Sie sich Ihre optimale Einteilung vorstellen. Notieren Sie, in welchen Bereichen ein übermäßig hoher Zeitaufwand steckt und in welchen Bereichen Sie etwas ändern möchten. Dazu halten Sie fest, was genau Sie ändern wollen. Weitere Fragen sind: Wie soll die Veränderung aussehen? Wer profitiert davon? Wo stoßen Sie eventuell auf eigene und fremde Widerstände?
Welche Lösungsansätze kann es hierfür geben?


Anmerkungen:

1 Vgl. z.B. Lothar J. Seiwert: Wenn du es eilig hast, gehe langsam. Das neue Zeitmanagement in einer beschleunigten Welt. Sieben Schritte zur Zeitsouveränität und Effektivität. 7. Auflage, Frankfurt / Main; New York: Campus Verlag 2001

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang