Ausgabe 2 / 2011 Andacht von Sophie Anca

Kehrt zurück, Menschenkinder

Andacht zu Psalm 90

Von Sophie Anca


In der Mitte eines Stuhlkreises ist eine schöne Mitte gestaltet. Eine dicke Kerze brennt bereits, etwas entfernt davon liegen kleine schöne Steine und Teelichter, die aber noch nicht entzündet sind.

Votum
Wir feiern unsere Andacht im Namen Gottes,
der Liebe, die uns trägt,
im Namen Jesu Christi,
der Hoffnung, die uns befreit,
im Namen des Heiligen Geistes,
der Kraft, die uns verbindet.

Lied
Ja, ich will Euch tragen bis zum Alter hin (EG 380) oder
Ich sing dir mein Lied – in ihm klingt mein Leben

Psalm 90
1Ein Gebet. Von Mose, dem Mann Gottes.
Mein Herrscher über uns alle,
ein sicherer Ort bist du für uns von Generation zu Generation.
2Bevor die Berge geboren wurden
und du unter Wehen Erde und Erdkreis geboren hast –
durch alle Zeiten bist du, Gott.
3Zurückkehren lässt du die Menschen zum Staub
und sprichst: Kehrt zurück, Menschenkinder.
4Tausend Jahre sind in deinen Augen wie der gestrige Tag,
wenn er vorübergezogen ist – einer Nachtwache gleich.
5Du schwemmst sie weg, wie ein Schlaf sind sie,
am Morgen wie Gras, das aufsprosst.
6Am Morgen blüht es und wächst empor,
am Abend welkt es und verdorrt.
7Ja, wir schwinden durch dein Wutschnauben.
Durch deine Zornesglut werden wir schreckensstarr.
8Du stellst unsere Ungerechtigkeiten dir gegenüber hin,
was wir verbergen, ins Licht deines Antlitzes.
9Alle unsere Tage schwinden durch deinen Grimm.
Wir vollenden unsere Jahre wie ein Murmeln.
10Unser Leben dauert siebzig Jahre,
manchmal, wenn wir stark sind, achtzig Jahre.
Ihr Stolz – Leid und Unheil!
Schnell geht es vorbei und wir fliegen weg.
11Wer erkennt die Macht deines Wutschnaubens?
Wie die Furcht vor dir, so dein Grimm.
12Lehre uns, unsere Tage zu zählen,
damit wir ein weises Herz erlangen.
13Kehre doch um, Ewige! – Wie lange noch?
Lass aufatmen, die dir zugeneigt sind.
14Sättige uns am Morgen mit deiner Freundlichkeit,
dass wir vor Freude in die Luft springen,
fröhlich sind an allen unseren Tagen.
15Fülle uns mit Freude gleich den Tagen, da du uns gebeugt hast,
gleich den Jahren, in denen wir Verstörung sahen.
16Dein Handeln möge sichtbar werden an denen, die dir zugeneigt sind,
deine Gewichtigkeit über ihren Kindern.
17Die Sanftmut unserer mächtigen Gottheit sei über uns.
Das Tun unserer Hände mache fest über uns.
Das Tun unserer Hände, mache du es fest.
Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache

Gott, lehre uns zu bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden

Eine junge Frau erzählt …
„Mama, musst du jetzt auch sterben?“, fragte mich mein sechsjähriger Sohn neulich, als ich mit einer Grippe krank im Bett lag, und guckte mich mit seinen großen Augen an. Vor einem Jahr hatte er hautnah miterlebt, wie seine Großmutter bei uns in der Wohnung am Ende einer schweren Krankheit sterben musste. „Nein mein Schatz, ich habe nichts Ernstes, nur eine kleine Grippe“, versicherte ich ihm. Aber so richtig beruhigt war er trotz meiner Antwort nicht. Ihm war seit dem Tod seiner Großmutter klar geworden, dass es Dinge gibt, die wir Menschen nicht ändern können und dazu gehört auch, dass wir Tod und Krankheit nicht immer aufhalten können. Und als er mich da so krank im Bett liegen sah, begriff er, dass es auch seine Mutter oder ihn selber, einfach jeden Menschen treffen könnte. In den nächsten Wochen mussten mein Mann und ich ihm Abend für Abend Rede und Antwort stehen, was es mit dem Tod und dem Sterben auf sich habe. Woher wir Menschen kommen, wohin wir gehen und was Gott damit zu tun hat. Wenn ich mich recht erinnere, dauerte es gut sechs Wochen, bis er sich aus unseren verschiedenen Gesprächen eine Version zusammengestellt hatte, die ihn wieder ruhig schlafen ließ. Viele unserer Freunde waren damals irritiert, dass wir meine Schwiegermutter zum Sterben zu uns in die Wohnung nahmen und unsere kleinen Kinder so einem direkten Umgang mit Krankheit und Tod aussetzten. Und auch wir selber waren unsicher, wie viel wir den Kindern und auch meiner Schwiegermutter zumuten konnten. Jeder Tag war ein neuer Versuch, auszuloten, wie es für alle Beteiligten am besten sei. Eine klare Lösung gab es nicht. Mal wollte meine Schwiegermutter die Kinder gar nicht sehen, weil sie sich schämte, mal wollten die Kinder nicht zu ihr, weil sie so verändert schien. Aber es gab auch andere Momente. Augenblicke, in denen meine Tochter bei ihr am Bett saß und ihr einfach die Hand streichelte oder wir alle zusammen ein Lied sangen. Einfach war die Zeit für uns alle nicht, und trotzdem fühlt es sich im Rückblick richtig an und wir sind froh, dass wir die Chance hatten, den Abschied gemeinsam zu gestalten.

Es war ein Abschied von ihr als Mutter, Großmutter, Freundin, den wir vollziehen mussten. Es war ein Abschied vom Leben, von der Familie, von unerfüllten Träumen und Wünschen, den sie vollziehen musste. Für uns alle war es ein schwerer Abschied und gezwungenermaßen eine Auseinandersetzung mit unserer eigenen Sterblichkeit.

Zeit der Stille, eventuell leise Instrumentalmusik im Hintergrund:
Wir haben jetzt einen Moment Zeit, um in der Stille darüber nachzudenken, von wem oder von was wir in letzter Zeit Abschied genommen haben.

Lehre uns, unsere Tage zu zählen, damit wir ein weises Herz erlangen.

„Lehre uns, unsere Tage zu zählen, damit wir ein weises Herz erlangen“, betet der Psalmbeter in dem Psalm, den wir eben gehört haben. „Gott, lehre uns zu bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, heißt es in der Lutherübersetzung. Wir könnten das für uns auch so übersetzen: Gott, lehre uns zu bedenken, dass wir Abschied nehmen müssen, auf dass wir klug werden.

„Abschiedlich leben lernen“ – diese Worte stammen von der Schweizer Psychologin und Psychotherapeutin Verena Kast. Für sie ist der Zusammenhang von loslassen können und einlassen können ganz eindeutig. Nur wenn ich es vermag, eine Hoffnung, eine Lebensphase, einen Menschen gehen zu lassen, wenn ich tatsächlich Abschied nehmen kann, finde ich die Kraft, mich neu einzulassen. Verena Kast macht die Abschiede nicht am Tod alleine fest, sondern an den verschiedenen Trennungsprozessen, die wir im Laufe unseres Lebens erfahren. Die Trauer, die mit einem Abschied einhergeht, versteht sie als eine Emotion der Wandlung, die letztendlich die Beziehungsfähigkeit fördert. Dazu gehört auch die Erfahrung des eigenen Alterns, die Erfahrung der ständigen Veränderung unseres Seins.

Michael Schibilsky, ein evangelischer Pfarrer, ermutigt in seinem Buch „Trauerwege“ jede Einzelne / jeden Einzelnen dazu, sich regelmäßig mit der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen und „Lebens-Bilanz-Arbeit“ zu leisten. So können wir lernen, abschiedlich zu leben.

Lebens-Bilanz Arbeit geschieht für Schibilsky im Erzählen von Lebensgeschichte. Indem wir uns erinnern und einem anderen Menschen erzählen, von was und von wem wir im Leben schon Abschied genommen haben, aber auch, was und wer davon in uns weiterlebt, ordnet sich unsere Lebensgeschichte neu.(1) Nur so erfahren wir, woher wir kommen und wohin wir gehen. Nur so erfahren wir, dass wir Leben nur auf Zeit geschenkt bekommen. Und so wollen auch wir uns jetzt gemeinsam ein wenig Lebens-Bilanz -Arbeit leisten.

Zeit für biografisches Erzählen (20-30 Minuten):
Wer möchte, kann jetzt erzählen, welcher Abschied für ihn / für sie in letzter Zeit besonders intensiv in Erinnerung ist. Sie können dafür einen Stein in die Mitte legen, wenn es eine sehr schwere Erfahrung war, und eine Kerze anzünden, wenn für Sie damit auch schon etwas Neues verbunden ist.

Jedes Mal singen wir danach gemeinsam:
Ausgang und Eingang (EG 175)
oder: Schweige und höre (Thuma Mina 23)

Gott lehre uns zu bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.

Unsere Erinnerungen, unsere Abschiedserfahrungen sind schmerzhaft. Manchmal ist die Erfahrung des Verlustes so stark, dass wir dem Geschehenen nichts Gutes abgewinnen können. Aber manche von uns haben auch erfahren, dass ihre Lebensgeschichte in die große Geschichte Gottes mit uns Menschen eingebettet ist. Wir spüren, dass wir Menschenkinder am Ende zu Gott zurückkehren. Immer wieder – auch in der Bibel – beschreiben Menschen ihr Leben im Horizont ihrer Gottesfragen und Gotteserfahrungen.(2) Der jungen Frau, der wir zu Beginn unserer Andacht zugehört haben, ging es bei dem Tod ihrer Schwiegermutter so.

Gebet
Ewiger Gott,
unsere Wege haben Anfang und Ende,
unser Leben ist ein
Sich-finden und Sich-loslassen,
Sich-begegnen und Sich-trennen,
darum kennen wir Lachen und Weinen
und spüren die Tränen der Freude und des Leidens.
Versöhne uns, Gott, mit dem Tod,
versöhne uns mit dem Leben.(3)

Vater Unser

Lied
Ich möcht, dass eine(r) mit mir geht (EG 209)

Segen
Gott, segne und behüte uns.
Gott, schütze uns und bewahre unsere Hoffnung.
Gott, lass dein Angesicht leuchten über uns,
dass wir für andere leuchten.
Gott, erhebe dein Angesicht auf uns
und erhalte uns im Vertrauen auf dich.
Amen


Sophie Anca, 38 Jahre, ist Pfarrerin und arbeitet zurzeit im Projekt „Heimat Europa“ der EFiD.


Anmerkungen:
1 Schibilsky, Ethische Kompetenz, 5. „Der Umfang des Erzählgeschehens nimmt mit zunehmendem Alter … zu, jedoch die Anzahl derjenigen Personen, die diese Geschichte gemeinsam erinnern und deshalb gern hören wollen, nimmt im gleichen Maße nahezu proportional ab … . Die Lebensgeschichte … beinhaltet alle Erzählzusammenhänge, die aus der Perspektive der Gegenwart als erinnerungsfähig und erinnerungswürdige Lebenszusammenhänge zum Repertoire sozialer Rollen und Konzepte gehören. Eine nicht erzählte Lebensgeschichte führt zur Desorientierung, Desorientierung zum Relevanzverlust in sozialen Bezügen des Lebens.“ Zitiert nach: Renate Zitt, Workshop: Biografisches Erzählen. Darmstädter Forum Juni 2006
2 „Der Psalm 23 hat u.a. auch deshalb eine so zentrale Bedeutung, weil in ihm die Phasen einer ganzen Lebensgeschichte umfasst sind (ein Lebens-Bilanz-Psalm). … Im Erzählen ereignet sich Zeit zum Staunen und zur Freude, aber auch zum gemeinsamen Weinen.“ Schibilski, ebd, 14, zit. nach Zitt (wie Anm. 1)
3 Frei nach Anette Armbrüster und Wolfgang Armbrüster in: der gottesdienst, Liturgische Texte in gerechter Sprache, 519.

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