Ausgabe 2 / 2011 Artikel von Hanne Schweitzer

Kein Kavaliersdelikt

Altersdiskriminierung erkennen und bekämpfen

Von Hanne Schweitzer


Lebensalter ist eine biologische Realität. Wie die Hautfarbe lässt sich „Alter“ weder käuflich erwerben noch veräußern. Wir altern, ob wir wollen oder nicht.

Alter ist aber auch eine gesellschaftlich vermittelte Eigenschaft. Vorstellungen, die wir oder die Gesellschaft vom Altwerden und Altsein haben, beeinflussen uns und unsere Chancen zur sozialen Teilhabe. In Gesetzen und Vorschriften ist festgelegt, welche Rechte und Pflichten mit einem bestimmten Lebensalter verbunden sind. Altersbilder beeinflussen die Entscheidung darüber, ob wir das „richtige“ oder das „falsche“ Alter haben. Der britische Fernsehsender BBC musste einer Moderatorin 150.000 Pfund Entschädigung zahlen, weil er die 53-Jährige durch eine jüngere Frau ersetzt hatte. Das Gericht sprach der Moderatorin die Entschädigung wegen Altersdiskriminierung zu.

Das Wort „Alter“ hat zwei Bedeutungen. Zum einen ist damit die Lebenszeit eines Menschen gemeint – auch das Baby hat ein Alter. Zum anderen bezieht sich das Wort auf das hohe Alter. Das Wort „Diskriminierung“ kommt aus dem Lateinischen. Es bedeutet absondern, trennen, unterscheiden, benachteiligen, zurücksetzen, herabwürdigen.

Seit 2006 ist Altersdiskriminierung auch hierzulande verboten. Allerdings nur im Berufsleben und bei Massengeschäften. Das sind solche Geschäfte, die ohne Ansehen der Person zustande kommen. So ist zum Beispiel der Kauf eines Brots oder der Besuch eines Schwimmbads ein Massengeschäft, und niemand darf dabei wegen des Alters diskriminiert werden. In allen anderen gesellschaftlichen Bereichen sind Benachteiligungen wegen des Lebensalters noch immer legal und es gibt keine juristische Möglichkeit der Gegenwehr.


So sieht's aus

Eine 76-jährige Frau stellt bei der Service-Einrichtung der Berliner Landesbank syncro über ihre Zahnarztpraxis einen Antrag auf Kredit. Damit will sie ihren Eigenanteil für den Zahnersatz in Höhe von ca. 2.000 € bezahlen. Die gewünschte Laufzeit des Kredits beträgt vier Monate. Die Frau hat eine gute Rente und keine Schulden. Ihr Antrag wird abgelehnt. Auf telefonische Nachfrage erfährt die Frau, dass sie mit 76 zu alt für einen Kredit sei.

Die Allianz-Versicherung lehnt den Abschluss einer Rücktransportversicherung aus Altersgründen ab. Das Ehepaar, das sie für 20 Euro pro Person abschließen will, ist 64 und 63 Jahre alt, also nicht einmal im Rentenalter. Die Ehefrau bringt das Verhalten der Versicherung so auf den Punkt: „Besonders diskriminierend ist die Tatsache, dass wir mit 63 bzw. 64 Jahren fit genug sind, um uns in den letzten Wochen zum Teil rund um die Uhr um die Familie unseres Sohnes in Düsseldorf zu kümmern – eine Stunde Fahrzeit pro Strecke. Dort kam das zweite Kind per Kaiserschnitt auf die Welt, die Wöchnerin wurde nach vier Tagen (!) aus der Uni-Klinik entlassen. Sie soll nun fünf Wochen lang nicht heben und kann das 18 Monate ältere Kind nicht versorgen. Wir sind also fit genug, diese Probleme, deren Lösung auch im Interesse der Gesellschaft liegt, aufzufangen. Wir werden aber von der Allianz als untragbares Risiko eingestuft – eine unmoralische und diskriminierende Entscheidung.“

Auch bei der ehrenamtlichen Arbeit gibt es Benachteiligungen wegen des Alters. Schöffen dürfen bei ihrer Berufung nicht älter als 69 Jahre sein. Die ehrenamtlichen MitarbeiterInnen der Telefonseelsorge Köln des evangelischen Kirchenverbands müssen „aufgeschlossen sein, psychisch belastbar und flexibel, gut und einfühlsam zuhören und mit Krisen umgehen können“. Vor allem aber müssen sie bis „Mitte 60″ sein.

Ein Ehepaar, beide über 70, will für den Urlaub in England einen Mietwagen buchen. In ihrem Alter gehe das nicht mehr, wird ihnen gesagt. Zu alt. Vor Ort, in England, ist es für das Paar kein Problem ein Auto zu mieten. Dort sind sie nicht zu alt.

Ältere Menschen erleben auch die Gestaltung des öffentlichen Raums als altersdiskriminierend. Die Fahrpläne von Bussen und Bahnen sind zu klein gedruckt, das Einsteigen ist wegen der hohe Stufen sehr beschwerlich. In der Innenstadt und in den Parks fehlen Bänke, in den Sparkassen und bei der Post Sitzgelegenheiten. Die Grünphasen der Fußgängerampeln sind zu kurz geschaltet, viele Veranstaltungsorte oder Ausflugsziele nur mit dem Auto zu erreichen. Gehsteige und Straßen sind voller Stolperfallen. Aufzüge und Rolltreppen funktionieren oft nicht.


Frauen doppelt diskriminiert

Frauen werden häufiger als Männer diskriminiert, denn sie werden doppelt diskriminiert. Die „alte Jungfer“ wurde wegen ihres Alters und ihres Geschlechts herabgesetzt. Und auch heute noch haben Frauen eigentlich immer das falsche Alter. Sind sie jung, besteht zum Beispiel aus Sicht der Arbeitgeber das „Risiko“, dass sie schwanger werden könnten, sind sie „alt“, gelten sie als nicht mehr attraktiv genug. Bezeichnenderweise sind alte Männer in der Werbung die Seriosität in Person, alte Frauen hingegen werden eher als Witzfiguren dargestellt.

Hinzu kommt, dass Frauen besonders durch systembedingte Altersdiskriminierungen betroffen sind. Sie arbeiten häufiger als Männer in schlecht bezahlten und zeitlich befristeten Arbeitsverhältnissen. Sie unterbrechen ihr Erwerbsleben, um Kinder zu erziehen, um die Eltern, die Schwiegereltern, die Verwandten, die Freundin oder den Ehemann zu pflegen. Das beeinflusst die Höhe ihrer Einzahlungen in die Rentenkasse und die Möglichkeit zum Sparen. Im Alter rächt sich das. Begleitet durch mediale Propaganda von der „demografischen Katastrophe“ und vom „Rentnerberg“, haben die ohnehin niedrigen Frauenrenten durch die Kürzungen der gesetzlichen Systeme weiter an Wert verloren. Nullrunden, Streichung des Sterbegelds, die rückwirkende Kürzung von Rentenanrechnungszeiten, der volle Beitragssatz für die gesetzliche Krankenversicherung auf Betriebsrenten und Direktversicherungen, Steuerpflicht für Renten. Aus dem Gesundheitsbereich kommen weitere Kürzungen hinzu: Praxisgebühr, Zuzahlungen für Medikamente, Zuzahlungen zur Physiotherapie, Zuzahlung zum Krankentransport, Zuzahlung zum Krankenhausaufenthalt, Zuzahlung bei Rehamaßnahmen, Zuzahlung bei Hilfsmitteln, Leistungskürzungen in der geriatrischen Rehabilitation.

Die meisten Frauen leben im Alter allein. Und: Sie sind schlecht organisiert. Ihre spezifischen Bedürfnisse und Interessen werden selten artikuliert. Chancengleichheit älterer Frauen ist de facto nicht gegeben. In frauenpolitischen Organisationen dominieren meist die Sichtweisen und Belange jüngerer Frauen, in seniorenpolitischen Vereinen haben die Männer das Sagen. Den Männern das Amt, den Frauen die Ehre – das gilt in Gewerkschaften, Parteien und Verbänden. In den Kommunen wechseln die Zuständigkeiten für Frauen und Alter zwischen den Senioren- und den Frauenabteilungen der Ämter hin und her. Abgesehen von der Bequemschuh-Industrie werden ältere, geschweige denn alte Frauen als eigene Zielgruppe selbst von der Wirtschaft bisher kaum wahrgenommen.


Was tun?

Astrid Lindgren, die Autorin von Pippi Langstrumpf, hat gesagt, dass es kein Gesetz gibt, das alten Frauen verbietet, auf Bäume zu klettern. Frau Lindgren war Schwedin. Bei uns hört man eher einen Satz wie: „In Deinem (meinem) Alter macht man das nicht mehr.“ Die Potenziale des Alters sind das Ergebnis einer lebenslangen Entwicklung. Vielen alten Frauen wurde aber in der Vergangenheit durch Alters- und Frauendiskriminierung der Zugang zu wichtigen gesellschaftlichen Bereichen verwehrt. Die besonderen Belange alter Frauen wurden von Politik und Verwaltung nicht berücksichtigt.

Um Altersdiskriminierung begegnen zu können, ist es wichtig, erlebte oder beobachtete Altersdiskriminierung nicht schweigend hinnehmen. Altersdiskriminierung ansprechen, das heißt:
– darauf hinweisen, dass alt wird, wer nicht jung stirbt;
– zitieren, dass die Grundrechte-Charta der EU, Artikel 25, Rechte älterer Menschen, sagt: „Die Union anerkennt und achtet das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben.“
– Beschwerde einlegen, Vorsprechen bei Vorgesetzten oder bei der Amtsleitung, Mitstreiterinnen suchen;
– eventuell den Boykott eines Geschäfts oder Dienstleisters ankündigen und organisieren;
– in der Familie, im Freundeskreis, in der Gruppe, bei den Medien von der diskriminierenden Situation erzählen und die daran Beteiligten benennen und so Öffentlichkeit schaffen;
– aufhören mit der Selbstdiskriminierung – Wer ständig denkt oder sich von anderen einreden lässt: dazu bin ich zu alt, grenzt sich aus, isoliert sich und verhindert so selbst die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben

Wer etwas gegen Altersdiskriminierung tun will, wird vor allem Noch-Sätze -vermeiden! „Für Ihr Alter sehen Sie ja eigentlich noch gut aus.“ „Sind Sie eigentlich noch berufstätig?“ „Noch – das Wort gehört zum Älterwerden wie der Tag zur Nacht.“ „Ach tatsächlich, Ihr Mann fährt so weite Strecken noch immer mit dem Auto? Ist er denn noch so gut dabei?“ Noch kennzeichnet eine Entwicklung, die ihren Endpunkt nicht erreicht hat, obwohl nicht viel fehlt. Die alte Frau liest „noch“ jeden Tag die Zeitung. „Aber nicht mehr lange“, schwingt da unterschwellig mit. Jeden Tag treffen uns giftige Noch-Pfeile. Wir schießen auch selbst welche ab. „Stell Dir vor, beide sind schon über 80, aber sie springt noch immer vom 10-Meter-Turm, und er läuft noch immer Marathon.“

Nicht zuletzt wird, wer Altersdiskriminierung bekämpfen will, nur PolitikerInnen wählen, die sich konsequent für ein Verbot von Altersdiskriminierung
in  allen gesellschaftlichen Bereichen einsetzen. Konkret:
– Erweiterung von Artikel 3 Grundgesetz um den Begriff „Lebensalter“;
– Verbot von Altersdiskriminierung beim Zugang zu Waren und Dienstleistungen;
– Kompensation systembedingter Altersdiskriminierungen, zum Beispiel bei der Gesundheitsversorgung, bei staatlichen und privaten Alterssicherungssystemen, in der Pflege.


Für die Arbeit in der Gruppe

Ziel:
Altersdiskriminierung und Handlungsmöglichkeiten erkennen

Zeit:
90 Minuten

Material:
2 Pinnwände, dicke Stifte

Ablauf:
Impuls 1
Im Ruhrgebiet werden vom Energieunternehmen RAG Grubenführungen unter Tage angeboten. Teilnehmen darf unabhängig vom Gesundheitszustand nur, wer nicht älter als 60 Jahre ist.
Die Teilnehmerinnen überlegen in Murmelgruppen, ob sie auch schon einmal wegen ihres Alters benachteiligt / diskriminiert wurden: Von wem? Aus welchem Grund? Wie alt waren sie, als das passiert ist?

Eine Pinnwand oder ein leeres Plakat mit der Überschrift „Benachteiligung /
Altersdiskriminierung“ ist in drei Spalten eingeteilt:
Wer (hat diskriminiert)?
Aus welchem Grund?
Wie alt war ich?
Auf Zuruf werden die Antworten der Teilnehmerinnen notiert. Eventuell ergänzen durch Beispielen aus dem Artikel. (Auch wenn frau „zu jung“ ist, handelt es sich um Altersdiskriminierung!)

Impuls 2
Eine 72-jährige Frau erzählte neulich folgende Begebenheit: Sie sei auf eine Gehilfe angewiesen, könne diese aber nicht allein in den Bus hieven. Der Busfahrer dürfe ihr nicht helfen, weil er seinen Fahrplan einhalten müsse. Sie habe deshalb beim Verkehrsunternehmen angerufen, um zu fragen, was sie tun solle. Die Antwort: In Ihrem Alter fahren sie am besten mit dem Taxi.

In Murmelgruppen überlegen die -Teilnehmerinnen überlegen zuerst:
Wer (hat diskriminiert)?
Aus welchem Grund?
Wie alt war die Frau?
Danach tauschen sie sich darüber aus, was die Frau gegen ihre Kränkung tun kann, und was passieren sollte, damit die Frau doch vom Bus mitgenommen werden kann. An wen könnte sie sich wenden? Wie könnte sie unterstützt werden? Auf Zuruf werden die Antworten auf einer zweiten Pinnwand mit der Überschrift: „Was tun gegen Altersdiskriminierung?“ notiert.

Impuls 3
Eine kostenlose Mammographie zur Früherkennung von Brustkrebs können nur Frauen machen, die zwischen 50 und 69 Jahre alt sind. Wer älter ist, muss die Vorsorgeuntersuchung selbst zahlen. Dazu muss man wissen: Brustkrebserkrankungen nehmen bei Frauen über 69, also jenseits der willkürlich von der WHO und der EU festgelegten Altersgrenze, deutlich zu.

Die Teilnehmerinnen überlegen im Rundgespräch:
Wer (hat diskriminiert)?
Aus welchem Grund?
Welches Alter ist betroffen?
Was lässt sich gegen diese systembedingte Altersdiskriminierung tun?
An wen könnten die betroffenen Frauen sich wenden? Wie könnten sie sich gegenseitig unterstützen?


Hanne Schweitzer arbeitet freiberuflich als Journalistin. Ehrenamtlich hat sie das Büro gegen Altersdiskriminierung in Köln aufgebaut.
Mehr unter: www.altersdiskriminierung.de
Kontakt: hanne.schweitzer@t-online.de

Altersdiskriminierung erkennen und bekämpfen – das war auch Teil der EFiD-Tagung „Abenteuer Alter(n)“ im Juni 2010. Die Tagungsdokumentation enthält eine Zusammenstellung von Informationen und (unter » Tagungsdokumentation) einen methodischen Vorschlag zum -Thema.
Herunterzuladen unter:
www.evangelischefrauen-deutschland.de (Gesellschaftspolitik / Frauen gestalten ALTER / Doku-mentation Modelltagung)

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