Alle Ausgaben / 2004 Artikel von Anabel Cantú Flores Reimann

Keine glaubt für sich allein

Über den Zusammenhang von Glauben und Kirche

Von Anabel Cantú Flores Reimann

 

„Mexiko hat die Maske von Quetzalcóatl [seinem lang ersehnten Gott] Cortés aufziehen wollen, aber Cortés hat es abgelehnt, und stattdessen hat er Mexiko die Maske Christi aufgezwungen. Seitdem ist es nicht mehr möglich zu wissen, wer auf den Altären von Puebla, Tlaxcala und Oaxaca vergöttert wird. Aber die Verwirrung ist durch das Blut aufgehoben: Die Indianer, die an die Tötung von Menschen zur Ehre ihrer Götter gewöhnt waren, waren von dem Gott, der für die Ehre der Menschheit gestorben ist, zugleich verwundert und überwältigt gewesen.“ (1)

Der erste spanische Erzbischof von Neu-Spanien – der wichtigsten spanischen Kolonie in Lateinamerika nach der Eroberung Mexikos durch Cortés im Jahre 1521 – liegt begraben unter der durch Erdbeben und schlammigen Boden sinkenden Kathedrale von Mexiko-Stadt. In einer geheimnisvollen Krypta, einer stummen Zeugin vergangener barbarischer Gewalttaten, die im Namen der aztekischen Götter und des christlichen Gottes begangen wurden, steht der älteste Sarkophag der Kirche. Sein bizarrer Aufbau lässt den religiösen Krieg erahnen. Auf dem Deckel des Sarkophages aus helleren Steinen liegt eine gemeißelte Figur des Toten, wie man es aus europäischen Kathedralen kennt; den dunkleren Sockel aus vulkanischen Steinen zieren aztekische Schädel und Totenköpfe. Diese vulkanischen Steine stammen aus den Resten der aztekischen Pyramiden, die dort standen, bevor die Spanier sie zerstörten, um die christliche Kirchen zu bauen: Die Eroberung hat das aztekische Mexiko zerstört, aber zugleich das heutige Mexiko erst ermöglicht. Diese  erschmelzung der Kulturen wird in dichterischer Kürze so zusammengefasst: „Das war nicht Krieg noch Niederlage, sondern die schmerzvolle Geburt des mexikanischen Volkes.“


Die Bausteine meiner christlichen Identität

Meine kulturelle Kirche

Ich stamme aus der protestantischen Minderheit Mexikos, trotzdem ist die Symbolik der Krypta unter der alten Kathedrale in Mexiko-Stadt auch für mich wichtig. Die Suche nach den kulturellen Wurzeln der Kirche in Mexiko ist zugleich ein Leitmotiv für meine persönliche Glaubensgeschichte. Auch wenn ich wenig mit den Azteken des 15. Jahrhunderts und der katholischen Kirche in Mexiko gemeinsam habe, betrachte ich dieses historische Erbe als einen Baustein in meiner fragmentierten Identität: Die hybride Kultur Mexikos – das aztekische Erbe und der Einfluss der spanischen Kolonialzeit – ist kein passiver Boden für das Christentum, wie viele Missionare naiv gedacht haben. So tendiert z.B. die Christologie der katholischen Kirche in Mexiko dazu, die mexikanischen Familienverhältnisse widerzuspiegeln. Analog zur Hoffnung der Indios auf ihren Gott Quetzalcóatl und ihre Göttin Tonantzin (2) steht die christliche Hoffnung auf Jesus, der entweder als schutzbedürftiges Baby oder sterbender, geschundener und zerbrechlicher  ann einen festen Platz einnimmt neben der allgegenwärtigen und allmächtigen Mutter Gottes, der Jungfrau von Guadalupe. Die so genannten historischen protestantischen Kirchen – Methodisten, Baptisten und Presbyterianer – können sich dem auch nicht entziehen. Jesus wird in diesen Kirchen als buen maestro dargestellt: der gütige, aber schwache Dorfschullehrer oder der moralistische, blasse und mysteriöse Sohn eines allmächtigen Gottes. (3)
 
Meine Heimatkirche

Umgeben vom allgegenwärtigen Katholizismus im Alltag – die Jungfrau von Guadalupe wird als Mutter aller Mexikaner verehrt, und an Hauseingängen findet man Schilder mit der Aufschrift: Hier ist ein katholisches Haus, und wir weisen jegliche protestantische Propaganda zurück… – bin ich in einer presbyterianischen Kirche aufgewachsen, deren theologisches Erbe der Kalvinismus schottischer Tradition ist. Die Familie meines Vaters ist Ende des 19. Jh. im Norden Mexikos durch den Kontakt mit amerikanischen Missionaren zum Protestantismus konvertiert.

Da meine Mutter ursprünglich katholisch war, haben wir die Spannung zwischen Protestanten und Katholiken in unserer Familie sehr schmerzhaft erlebt. Der katholische Ortspfarrer war nur zu einer nicht-öffentlichen Trauung in der Sakristei bereit, deshalb wandte sich meine Mutter enttäuscht an den einzigen protestantischen Pfarrer der kleinen Stadt. Schließlich hat sie meinen Vater gegen den Willen ihrer Familie geheiratet und in ihrem Schmerz Geborgenheit in der protestantischen Gemeinde gesucht. Viele Jahren später sind die Wunden geheilt und die Beziehungen zur katholischen Verwandtschaft wieder hergestellt. Paradoxerweise habe ich menschliche Nähe oft mehr bei dieser als bei der oft durch theologische und moralistische Diskussionen geprägten protestantischen Seite unserer Familie gespürt.

Meine Erfahrung mit meiner Heimatkirche wurde durch das Außenseitersein der Protestanten in Mexiko tief und fast unwiderruflich geprägt: „Wir tanzen und trinken nicht, und wir glauben nicht an die Jungfrau María.“ In Mexiko definieren sich Protestanten durch eine andere kulturelle Identität und durch eine rigide Theologie, die durch den Fundamentalismus der amerikanischen Südstaaten geprägt ist, aus dem viele protestantische Missionare stammen.

Da gibt es einen wesensmäßigen Unterschied zwischen nosotros y el mundo caíelo, zwischen uns und der gefallenen Welt, der durch eine vereinfachende und zugleich gefährliche Bibelinterpretation begründet wird: Die Welt ist nicht der Ort der Schöpfung Gottes, die genossen werden kann, sondern ein bedrohlicher Ort des moralischen Verfalls, der missioniert werden muss. Trotzdem habe ich immer versucht, eine Brücke zwischen den verschiedenen Welten zu bauen. Ein Teil von mir wollte in dieser unvollkommenen Welt arbeiten und erfolgreich leben, aber ein anderer Teil von mir wollte innerhalb der sicheren Welt der Kirche bleiben mit der kirchlichen Musik, den Freizeiten, den sozialen Kontakten.

Das reformierte Erbe eines selbstbewussten Christentums in dieser Welt haben wir auf unseren Kanzeln kaum gehört, da auch eine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat herrscht. Für mich ist es deswegen ein Wunder zu sehen, wie man in Deutschland die christlichen Kirchen als Teil des gesellschaftlichen und politischen Lebens betrachtet. Die Kirchen haben einen festen Platz in dieser Welt! Dieses Bewusstsein hätte mir einige schmerzvolle Irrwege in meiner spirituellen Wanderung ersparen können.

Ironischerweise hat meine Heimatkirche im Bestreben, sich von der „Welt“ zu trennen, die hierarchischen Strukturen der mexikanischen Gesellschaft übernommen: Das Presbyterium regiert die Gemeinde autoritär und der vom machismo geprägte Krieg der Geschlechter verbietet die Frauenordination. Dass ich in meiner eigenen Heimatkirche nicht ordiniert werden kann, obwohl ich Theologie studiert habe, hat bei mir eine tiefe und bittere spirituelle Krise ausgelöst. Ich glaube an Gottes Führung und Berufung, aber es verletzt mich sehr, dass ich meine Gaben nicht als Pfarrerin einbringen durfte. Ich habe Gottes Liebe, Geborgenheit und die Berufung Gottes durch wunderbare Bibelarbeiten erlebt, zugleich aber leider auch das Gefühl, von Gott in frauenfeindlichen starren Strukturen und Bibelinterpretationen allein gelassen worden zu sein.

Meine Heimatkirche ist „meine Kirche“. Ich kann mich dort in vielen Bereichen des Gemeindelebens, in der Musik, bei den Kindern, Jugendlichen, Frauen- und Bibelkreisen engagieren. Und doch ist sie nicht die Kirche, wo ich als Pfarrerin arbeiten darf.

Meine internationalen Kirchen

Vor einigen Jahren hatte ich ein Schlüsselerlebnis: Im ägyptischen Museum von Kairo entdeckte ich zwischen den vielen wertvollen Zeugnissen vergangener Zeiten eine unscheinbare christliche Mumie aus dem ersten Jahrhundert. Auf die Mumie war ein sehr kleines rotes Kreuz gemalt. Für mich ist dieses Miteinander von christlichen und heidnischen Traditionen über den Tod und das Leben hinaus ein Paradigma des christlichen Lebens. Wir sind alle im Prozess des geistlichen Wachsens. Während etwa das Mumifizieren und der Glaube an die Reise der Toten mit Osiris für die eine Kirche eine dogmatische Diskussion entfalten kann, ist es für andere Gemeinden kein Problem, weil das Mumifizieren überhaupt nicht am kulturellen Horizont erscheint. Theologische Strukturen, religiöse Grenzen, liturgische Vorschriften, die Organisation des Gemeindelebens und vieles mehr sind meistens relativ, weil aus spezifischen historischen und kulturellen Verhältnissen entstanden.

Als ich nach Deutschland kam und eintauchte in eine neue Welt mit anderen Menschen, einer anderen Geschichte, einer anderen Sprache und anderem Essen, mit anderen politischen, kulturellen und religiösen Strukturen, war ich anfangs sehr motiviert und hungrig auf Neues. Gleichzeitig fühlte ich, dass etwas in mir starb. Ich durchlebte den schmerzhaften Prozess des Identitätsverlustes, denn fast niemand hat sich für meine Vergangenheit interessiert oder dafür, wer ich war, was ich in Mexiko und Amerika erreicht hatte.

Meine kirchenmusikalische Arbeit in Mexiko war der einzige Weg, den ich nehmen konnte, um mich in einem neuen Gemeindeleben zu orientieren. Mit den deutschen Gottesdiensten aber waren zunächst nur Arbeit und Kopfschmerzen verbunden, da ich wenig Deutsch konnte und mich als Ausländerin nicht willkommen fühlte. (1992 gab es in Solingen und Mölln ausländerfeindliche Anschläge.) Trotz meiner Traurigkeit und Einsamkeit musste ich mit dem Kopf entscheiden, mich hier einzuleben. Die Zerstörung meiner früheren geschlossenen Glaubenswelt war schmerzhaft, aber zugleich auch befreiend. Ich konnte – auch als Frau beim Predigen in deutschen und spanisch-sprachigen Gemeinden – Erfahrungen machen, die mir bis dahin verschlossen waren. Aus dem Verlust an Identität war der Weg in eine offene Zukunft entstanden.


Die Kirche des Petrus und des Paulus

Die Vision des Petrus

Ich glaube an Gottes Humor. Da ist der arme Petrus, der hungrig auf sein Essen wartet, als er plötzlich eine Vision hat, in der ihm eine himmlische Tischdecke erscheint, worauf sich in der jüdischen Tradition als unrein verbotene Tiere befinden. Und eine Stimme fordert ihn auf, freimütig von allem zu essen. Petrus will ernsthaft der Versuchung widerstehen, indem er sich weigert zu essen und die geistliche Karte von „reinen“ und „unreinen“ Speisen ausspielt. Noch zweimal muss die Stimme ihn daran erinnern, welcher himmlische und durchaus gewissenhafte Koch hinter all den Köstlichkeiten steht: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten.“

Wenn ich diese Geschichte (Apg 10,9-16) lese, denke ich auch an die politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Kontrollen, die tief in mir stecken und mir immer mit scheinbar sehr guten Argumenten abraten, in meiner kleinen und sicheren christlichen Welt etwas Neues auszuprobieren: „Mein Deutsch ist nicht so gut, ich verstehe sowieso nichts im Gottesdienst.“ – „Sie kennen mich nur deshalb, weil mein Mann der Vikar ist.“ – „Es gibt so viele arbeitslose deutsche Theologen, wer wird da einer mexikanischen Theologin mit einem amerikanischen Studium eine Chance geben?“ – „Mit ihren Talaren, Kanzeln und Kerzen fühle ich mich bei den deutschen Protestanten, als ob ich in einer katholische Kirche in Mexiko wäre!“ – „Die Musik ist so tödlich! Ich werde depressiv!“– „Bei den Baptisten arbeiten? Niemals! Als Presbyterianerin liegt die Grenze bei der Kindertaufe, auch wenn die Gemeinde Spanisch spricht.“ Und, und, und.

Was ist dann „meine Kirche“? Eine Kirche, zugeschnitten auf meine individuellen Bedürfnisse und meinen eigenwilligen Geschmack? Werde ich überhaupt eine Kirche finden, die zu meinen Traditionen und „reinen“ oder „unreinen“ Empfindsamkeiten passt? Da kann ich in der Trockenheit meiner geistigen Wüste warten, bis ich vielleicht dort einsam und durstig sterbe. Ohne eine geistliche Familie können wir diese widersprüchliche und anstrengende Welt nicht überleben.

Der neue Mensch nach Paulus und Gottes Kirche

Meiner Erfahrung nach liegt der Schlüssel zu „meiner wahren Kirche“ in der Vision des Petrus – und in der Aufforderung des Paulus an uns, „in Christus eine neue Kreatur zu sein“. (2 Kor 5,17) Gott konfrontiert uns mit neuen Ufern und neuen Grenzen, weil letztlich die Kirche ihm gehört. So können wir die wahre Größe der universellen christlichen Welt erkennen – und einen Vorgeschmack vom Himmel genießen.

Es wird am Rande der Gemeinden immer Verschiedenheiten geben. Aber solange der Kern – die Botschaft Jesu Christi – stimmt, können wir uns durch die Kraft des Heiligen Geistes auf etwas Neues einlassen. Schließlich ist „meine Kirche“ nicht „meine“ sondern „seine“. „Meine Kirche“ ist nicht die Kirche, die zu mir passt, sondern da, wo ich etwas bewegen und ändern kann, wo ich, Christi Beispiel folgend, Gott ehren und den Menschen dienen kann.


Für die Arbeit in der Gruppe

Ziel:
1.  Die Teilnehmerinnen sollen eine „Dekonstruktion“ (4) der persönlichen Geschichte, Erfahrung und Haltung zur christlichen Tradition versuchen. Durch eine selbstkritische Annährung an ihren eigenen Lebenslauf und Schlüsselerlebnisse mit oder in der Kirche sollen sie sich ihrer vergangenen und gegenwärtigen Erwartungen an die christliche Gemeinschaft bewusst werden, so dass sie zunächst auf die Frage „Was meine ich, wenn ich ‚meine Kirche' sage?“ eine Antwort geben können: Die Kirche vor Ort? Die Heimatkirche aus der Kindheit, geprägt von Eindrücken kindlicher Sehnsüchte oder auch von Verlusterfahrungen? Die Frauenkirche? Die weltweite allgemeine und ökumenische Kirche? Die so genannte Kerngemeinde, in der sich treue Kirchgänger sammeln? Die Kirche, die am eifrigsten die richtige Theologie vertritt? Die Kirche, die die eigene Sprache und Kultur widerspiegelt? Einen bestimmten Kirchraum? Oder den Gottesdienst in einer bestimmten Liturgie?
2.  Sie sollen die angeblich festen und scheinbar „natürlichen“ Grenzen ihrer Kirchen mit der „Außenwelt“ untersuchen und sich der „Relativität“ und „Historizität“ dieser Grenzen bewusst werden: Wer ist drin, wer ist draußen? Wer ist immer drin oder draußen gewesen? Wie sehr spielen persönliche Erlebnisse oder allgemeine Ereignisse – z.B. Krieg oder Vertreibung – hierbei eine Rolle? Wie sehr haben Vorurteile oder Meinungen aus den Medien, der Politik oder Kultur hier Einfluss?
3.  Nun werden diese Erfahrungen in Auseinandersetzung mit biblischen Texten (Phil 2,1-11 und Offb 7,9-17) bearbeitet: Was bedeutet die Inkarnation Christi für uns zuerst und dann für die Kirche Jesu Christi? Welche praktische Implikationen für das eigene Konzept der Kirche lassen sich daraus erschließen? Wie international und multikulturell kann eine Kirche auf Erden wirklich sein? Oder wird es erst im Himmel möglich sein? Wie kann ich persönlich an der christlichen Gemeinschaft teilnehmen?

Zeit: ca. 1,5 Stunden

Material: Papier, Buntstifte, Kugelschreiber usw.; alternativ könnten auch für eine Collage Fotos, Zeitschriften, Kirchenzeitungen etc., Klebstoff und Schere bereitgestellt werden. Es bietet sich an, während der Stillarbeiten geeignete Hintergrundmusik laufen zu lassen. Die Musikauswahl könnte von Händels „Halleluja“ bis zur christlichen Musik aus Afrika oder Lateinamerika reichen und so eine musikalische Anregung bzw. Einführung ins Thema sein.

Ablauf:

1.  Malen einer persönlichen Kartografie von Kirche (ca. 20 Min.)
Nach einer Einführung ins Thema malen die Teilnehmerinnen (jede für sich) „ihre Kirche“ frei und spontan. Alternativ können auch Collagen erstellt werden. Es können sowohl abstrakte (z.B. Bauzeichnung) als auch sehr konkrete Vorstellungen (z.B. Altar, Kreis betender Menschen) abgebildet werden. Die Bilder werden auf einen Tisch gelegt. Neben jedes Bild wird ein leeres Blatt Papier gelegt.

Hinweis für die Leiterin:  Das Zeichnen und Abbilden der bekannten Welt durch „Karten“ zeigt nicht nur viel über die kartografierten Gebiete, sondern auch die Wirklichkeit und Kultur der Kartografen: z.B. verrät eine Weltkarte aus der Zeit von Kolumbus viel über die damalige Weltanschauung der europäischen Kartografen. Diese ursprüngliche Bedeutung des „Zeichnens“ oder „Kartografierens“ lässt sich auch auf andere Fächer übertragen, so dass man auch Konzepte, imaginäre Welten, das eigene Subjekt „kartografieren“5 kann. Ich finde es hilfreich, dass die Frauen sich dadurch „bekannter“ wie „unbekannter Territorien“ ihrer eigenen Kirchenvorstellungen bewusst werden. Die Übung kann auch als Entdeckungsreise durch die unerforschte christliche Welt der eigenen Persönlichkeit betrachtet werden: Ist „meine Kirche“ ein geschlossener oder offener Raum? Hat sie Türen und Fenster? Kommen darin Menschen vor? Gibt es Glocken, Kerzen, Kanzel – oder ist  sie eher karg? Ist die Kirche da, wo man sich zum Sonntagsgottesdienst trifft, oder da, wo sich Menschen zum Gebet treffen? Ist Kirche ein Ort, wo sich verschiedene soziale Schichten treffen – oder nicht treffen? Kommen in der Kirche die Geschlechter zusammen oder ist Kirche ein Ort, wo sich die gesellschaftlichen Trennungen weiter fortsetzen? Definiert sich die Kirche über Sprache, wie z.B. die schwedisch-sprachigen Gemeinden in Finnland? Oder stärkt die Kirche die nationale Identität, wie z.B. die reformierten ungarischen Kirchen im rumänischen Siebenbürgen? Ist die Kirche eine Land- oder eine Stadtgemeinde? Ist die Kirche klein und überschaubar, geprägt von menschlicher Wärme, aber auch mit sozialer Kontrolle, oder eine anonyme Volkskirche?

2.  Kommentierung der Bilder (ca. 20 Min.)
Die Teilnehmerinnen gehen durch die Ausstellung der Bilder. Auf dem leeren Papier neben jedem Bild geben sie anonym kurze Kommentare oder schreiben spontane Assoziationen dazu auf.

3.  Austausch (ca. 25 Min.)
Jede Teilnehmerin nimmt sich ihr Bild und sucht sich eine Partnerin. Sie lesen zunächst die Kommentare aus der Gruppe, dann stellen sie nacheinander der Partnerin das eigene Bild vor und setzen dazu die Anmerkungen in Beziehung. Sie können sich auch gegenseitig Fragen zu ihren Bildern stellen. Danach stellen sie ihre Ergebnisse der Gesamtgruppe vor.

4.  Bibelarbeit (ca. 25 Min.)
Zuerst wird Philipper 2,1-11 vorgelesen. Im anschließenden Gespräch soll eine Antwort gefunden werden auf die schon erwähnten Fragen: „Wie kann die Inkarnation Christi ein Kontrastbild, Vorbild und Leitmotiv für unsere persönlichen Vorstellungen von christlicher Gemeinschaft sein?“
Als zweiter Text bietet sich Offenbarung 7,9-17 an. Die Diskussion kann unter der Leitfrage geführt werden, wie das eschatologische Bild einer himmlischen internationalen Kirche unseren irdischen Vorstellungen der Kirche entspricht, sie herausfordert und oder sprengt. Ist das Bild aus der Offenbarung ein „himmlisches Bild“, das in dieser Welt nicht zu erreichen ist, oder gibt es Möglichkeiten, diese himmlische Vorstellung in der Kraft des Heiligen Geistes durch und mit uns in dieser Welt zu verwirklichen?

5.  Zum Schluss kann das lateinamerikanische Lied „La paz del Señor“, das auch im Evangelischen Gesangbuch (171) als „Bewahre uns Gott“ steht, gesungen werden.

Fußnoten:
(1)
Carlos Fuentes, S. 22
(2) Vgl. das sehr interessante Buch Quetzalcóatl y Guadalupe von J. Lafaye.
(3) Für eine sehr interessante Perspektive eines amerikanischen Missionars über die Protestantischen Kirchen in Mexiko in Mitte des 20. Jh. siehe Eugene Nidas Buch Understanding Latinamericans.
(4) Der Begriff Dekonstruktion stammt in dieser Bedeutung aus der postmodernen Literaturkritik. Er betont das tiefe Misstrauen der Kritiker gegenüber einer vorgegebenen und „allmächtigen“ primären Bedeutung eines Wortes (siehe Hartman, S.vii-viii; Bloom et al.). In diesem Sinne sollen die Teilnehmerinnen das Wort „Kirche“ auf zwei Ebenen zu dekonstruieren versuchen: Nicht nur auf der Ebene einer persönlichen Geschichte mit ihren eigenen biografischen „Bausteinen“, sondern auch auf der tieferen Ebene des Wortes „Kirche“ mit seinen oft sehr traditionellen, allmächtigen und festen Bedeutungen und Assoziationen.
(5) Einige Literaturkritiker gehen so weit, dass sie sich nicht mehr für die äußere Welt interessieren, sondern nur für das Abbild: Durch das Zeichnen der Welt wird diese Welt eigentlich bekannt und „wirklich“ oder „real“. Die Karte wird dann die einzige „Wahrheit“ und ersetzt dadurch die ursprüngliche Welt. (Siehe King, S.1-17 und Jarvis, S.1-10). In diesem Sinne finde ich es wichtig, dass die Frauen aus selbstkritischer Distanz ihre Bilder und manchmal unbewusste „Karten“ von Kirche vom biblischen Urbild der Kirche zu unterscheiden versuchen: Inwiefern deckt sich mein eigenes Kirchenbild mit dem biblischen Urbild? Vielleicht muss man sogar fragen: Gibt es ein Urbild der Kirche überhaupt?

Literatur:
Fuentes, Carlos (1971): Tiempo mexicano. (Ed. Joaquín Mortiz), México, D.F.
Hartman, Geoffrey (1979/1994): Deconstruction&Criticism. (The Continuum Publishing Co.), New York. S. vii-ix.
Jarvis, Brian (1998): Postmodern Cartographies. (Pluto Press), London.
King, Geoff (1996): Mapping Reality. An exploration of cultural cartographies. (Macmillan Press und St. Martin´s Press), London und New York.
Lafaye, Jacques. (1974): Quetzalcóatl et Guadalupe. La formation de la conscince nationale au Mexique. (Éditions Gallimard), Paris.

Anabel Cantú Flores Reimann wurde 1966 in Mexiko-Stadt geboren. Sie studierte Geschichte, Komparatistik, Englische und Spanische Literatur in Mexiko-Stadt, Georgia (USA) und Bonn. Nach einem Theologiestudium in Philadelphia arbeitete sie mit an einer Bibel mit besonderen Frauenthemen und war Musikleiterin in verschiedenen Kirchen in Mexiko. Seit 1992 lebt sie in Deutschland, ist verheiratet und Mutter zweier Töchter. Sie leitet die musikalische Früherziehung in der evangelischen Gemeinde Mülheim-Speldorf und ist Predigerin in der spanischen Gemeinde in Duisburg.

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