Ausgabe 2 / 2009 Frauen in Bewegung von Frauke Josuweit

Kerstin Weiß

Akzeptieren und kämpfen

Von Frauke Josuweit


Montagmorgen, nasskaltes Wetter, eine Einfamilienhaussiedlung in Ostwestfalen-Lippe. Hausnummer 16. Hier muss es sein. Drei Stufen geht es hoch, die Haustür steht schon offen.

„Kommen Sie rein!“ Vorbei an der Treppe zum Obergeschoss betrete ich die Wohnküche von Familie Weiß. Ein antikes Küchenbüffett, rosa gestrichen, schmückt den Raum. Frau Weiß kommt mir im türkisfarbenen Pullover entgegen, der Hund stürmt an ihr vorbei und auf mich zu. „Na, haben Sie gut her gefunden? Ich koche uns mal schnell einen Kaffee.“ Plötzlich ein Aufschrei: „Mama! Ich muss schon wieder!“ Marla, die achtjährige Tochter, hat Durchfall und ist heute daheim geblieben. Kerstin Weiß lacht, ihre braunen Augen blitzen und mitten im Familienchaos ist sie die Ruhe selbst.

Vor 14 Jahren wurde die heute 41-Jährige krank. Schon längere Zeit hatte Kerstin Weiß Schmerzen beim Gehen und Gleichgewichtsstörungen. Schuld war ein Tumor im Rückenmark. Nach der Operation ist sie spastisch gelähmt. Da ist Marc, der älteste Sohn, noch nicht mal drei, die zweite Tochter, Maren, gerade geboren.

Bis zur Geburt des ersten Kindes im Jahr 1992 arbeitet Kerstin Weiß als Medizinisch-Technische-Assistentin in einer Kurklinik. Ihren Wunsch, nach einiger Zeit in Teilzeit wieder in den Beruf zurückzukehren, weist der Arbeitgeber mit den Worten „Wir können hier nur Vollzeitkräfte gebrauchen!“ zurück. Damals war das noch möglich. Kerstin Weiß hätte entweder kündigen oder wieder Vollzeit in den Beruf zurückkehren können. 1995 wird die Pflegeversicherung eingeführt. In der Folge meldet der Arbeitgeber von Kerstin Weiß die Insolvenz an, der Arbeitsplatz entfällt. Das zweite Kind kommt. Und dann die Krankheit.


Hilfe und Selbsthilfe

„Sie können entweder anfangen zu grübeln, und dann werden Sie depressiv. Oder Sie können Ihr Schicksal akzeptieren und kämpfen.“ Kerstin Weiß entscheidet sich, aktiv zu werden. Gemeinsam mit anderen Betroffenen gründet sie den Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern e.V. (bbe). Zehn Jahre ist das her. Der bbe unterstützt behinderte Eltern in allen Situationen des Familienlebens rund um die Themen Schwangerschaft, Geburt und Erziehung. Elternkompetenzen sollen gefördert werden, damit die Behinderung der Eltern nicht zu den Grenzen der Kinder wird. Selbsthilfe, Austausch von Betroffenen und Informationen und auch Lobbyarbeit leistet der bbe. Denn: „Behinderte Eltern gibt es eigentlich nicht, nicht jedenfalls in der Gesetzgebung“, erklärt Kerstin Weiß.

Kerstin Weiß ist zu 100 Prozent schwerbehindert und hat laut Pflegeversicherung Anspruch auf Leistungen der Pflegestufe II. Die erhält, wer schwerpflegebedürftig ist und mindestens drei Stunden täglicher Hilfe bedarf, davon mindestens zwei für die Grundpflege, Körperpflege und Ernährung also. Auch hauswirtschaftliche Hilfeleistungen mehrmals die Woche gehören dazu.

Hilfe wird aber lediglich für die Tätigkeiten bewilligt, die ausschließlich sie selbst betreffen. Dass Kerstin Weiß Mutter und Hausfrau ist, interessiert nicht. Benötigt sie also Unterstützung, um ihre Kinder zu versorgen oder auch bei der familienbedingten Arbeit, ist sie auf das Jugendamt angewiesen. Einen Anspruch auf eine Eltern-Assistenz gibt es jedoch nicht. Gewährt das Jugendamt Unterstützung, so sind dies immer Einzelentscheidungen, grundlegende Ansprüche lassen sich daraus nicht ableiten. Alle sechs Monate muss Familie Weiß daher beim Jugendamt vorstellig werden und über den Hilfebedarf erneut verhandeln. „Überforderung entsteht für behinderte Eltern vor allem auch, weil Unterstützung fehlt. Immer wieder stehen sie vor der Frage: Bekomme ich die Hilfe, die ich benötige?“ Und viele, sagt Kerstin Weiß, nehmen den Kampf darum gar nicht erst auf.

„Mama!!!“ Es ist wieder soweit, Marla braucht Hilfe. Das Bad ist direkt neben der Wohnküche, abgetrennt durch eine breite Schiebetür. „Wir haben ein neues Badezimmer“, erzählt Marla, „da kann Mama alles selbst machen.“ Und dann: „Spielst Du mit mir?“ Marla erklärt die Spielregeln, Kerstin Weiß gibt mir kleine Tipps. „Nehmen Sie mal lieber die Karte von ihrem Stapel, sonst können Sie nicht gewinnen.“

Dann werden wir von der Krankengymnastin unterbrochen. Die kommt zweimal in der Woche zur Therapie ins Haus. Weil es für die Krankenkasse billiger ist, als den Transport in die Praxis zu bezahlen. Einen behindertengerechten Fahrzeugumbau bezahlt das Arbeitsamt – wenn die Anspruchnehmerin dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Nicht aber für Mütter und Hausfrauen. Den Taxischein zum Arzt bezahlt die Krankenkasse. Für Physiotherapie und Lymphdrainage schreibt der Verordnungen für sechs Anwendungen aus, dauerhafte Therapien bei chronisch Kranken sieht die Krankenversicherung nicht vor. Wird die Lymphdrainage nicht regelmäßig angewendet, schwellen die gelähmten Beine und schmerzen. Manchmal müsse sie es erst ganz schlimm werden lassen, um wieder ein Rezept zu bekommen, sagt Kerstin Weiß. Und die Krankengymnastin berichtet von einer Klientin, die sie letzte Woche besucht hat. Die saß in ihrer Küche am Frühstückstisch – auf dem Klostuhl. Der Pflegedienst war inzwischen schnell mal zu einer anderen pflegebedürftigen Person gefahren.


Assistenz – nicht Pflege

Kerstin Weiß bezieht Pflegegeld statt Sachleistungen durch die Pflegeversicherung. Damit kann sie nötige Hilfe unbürokratisch selbst organisieren. 420 Euro erhält sie monatlich von der Pflegekasse, nicht einmal die Hälfte dessen, was ihr an Sachleistungen zustünde. „Damit kann ich aber selbst entscheiden, wann ich in die Badewanne möchte. Und sitze dann nicht eine halbe Stunde oder länger im Wasser, bevor der Pflegedienst zurückkommt. Da wäre ich ja schon ertrunken.“ Assistenz hat sie zweimal in der Woche, vier bis sechs Stunden. „Assistenz,“ betont sie, „nicht Pflege. Ich bin schließlich nicht krank, sondern behindert.“ Selbstbestimmtes Leben ist für behinderte Menschen, unabhängig von der Art der Behinderung, nicht nur nicht selbstverständlich, sondern muss immer wieder erkämpft werden. Über die Verwendung des Pflegegeldes kann Kerstin Weiß zwar frei entscheiden. Kontrolliert wird aber auch hier. Zweimal jährlich überprüft die Pflegekasse, ob Kerstin Weiß fachgerecht versorgt wird.

Die Assistenz ist nicht nur für pflegerische Arbeiten zuständig. Sie putzt auch die Fenster, wischt die Fußböden und fährt mit Kerstin Weiß einkaufen. Denn ein Einkauf für eine sechsköpfige Familie lässt sich mit Rollstuhl nicht bewältigen. Marla und die vierjährige Marisa wurden erst geboren, als Frau Weiß schon gelähmt ist. „Behinderte sollen so angepasst wie möglich sein.“ Kerstin Weiß ist das ganz sicher nicht. Als Frau behindert zu sein, sei doppelt schwer. „Gehen sie mal schwanger zum Arzt, der gratuliert Ihnen nicht. Und das Jugendamt gewährt keine Eltern-Assistenz, wenn Sie schwanger sind und viel liegen müssen.“ Denn das Jugendamt ist für ein nicht vorhandenes Kind nicht zuständig. Da ist die Krankenkasse gefragt. „Jetzt wollen Sie Hilfe – aber warum wollen Sie überhaupt ein Kind?“, habe sie sich dann anhören müssen. „Es spielt doch überhaupt keine Rolle, warum ich das will. Sie fragt das doch auch niemand!“

Kerstin Weiß entscheidet sich gegen den Arzt und wird während der gesamten Schwangerschaft ausschließlich von einer Hebamme betreut. „Rollstuhlgerechte Entbindungsstationen gibt es nicht, da sind alle überfordert“, sagt sie. „Sie sind da Hochrisiko-Patientin. Da gibt es einen geplanten Kaiserschnitt, ob Sie wollen oder nicht. Das bringt ja auch am meisten Geld.“ Die beiden jüngeren Kinder der Familie kommen wie auch schon das zweite Kind zuhause zur Welt. Und werden gestillt. Nicht nur ein bisschen, sondern jeweils vier Jahre lang. Wie auch Maren, die heute 14-Jährige. Am Tag nach der Rückenmarksoperation lässt sich Kerstin Weiß ihr Baby geben – und stillt es. „Das hat dem Kind gut getan.“ Und ihr selbst auch.

Heute arbeitet Kerstin Weiß ehrenamtlich als Stillberaterin. Und im Vorstand des bbe. Und als Schulpflegschaftsvorsitzende der Gesamtschule, die die beiden älteren Kinder besuchen. „Im Moment setze ich mich dafür ein, dass ein körperbehindertes Mädchen, das bisher auf eine Behindertenschule ging, dort sein Abitur machen darf.“ Selbstverständlich sei das nicht, von wirklicher gesellschaftlicher Integration seien die Menschen mit Beeinträchtigungen weit entfernt.

Marla langweilt sich. Nach längerem Betteln darf sie in ihr Zimmer gehen und einen Film sehen. „Aber nur eine halbe Stunde!“

Marla hat ihr Zimmer im Obergeschoß. Marc und Maren auch. Kerstin Weiß kann nicht ins Obergeschoß. „Das finden die beiden Großen aber cool, die können da machen, was sie wollen.“ Und wenn die ihre Kleidung auf den Schreibtisch legen und nicht in den Schrank, dann sei das eben so. „Ich muss immer wieder gucken: Was ist altersgerechte kindliche Entwicklung und was am Verhalten der Kinder ist durch meine Behinderung bedingt?“ Und wenn die Teenager vom Schreibtisch und nicht aus dem Schrank leben wollten, dann sei das durchaus altersgemäß. Ein dreijähriges Kind, das sich mitten in der Trotzphase im Supermarkt schreiend auf den Boden wirft, verhält sich auch altersgerecht. Oft genug würde solches Verhalten aber der Behinderung der Mutter zugeschrieben.

Hilfe durch die Kinder in Anspruch zu nehmen ist immer wieder ein Gratwanderung. „Wenn etwas zu erledigen ist und sich nicht durch externe Hilfe regeln lässt und das Kind muss es machen – dann ist das Missbrauch.“ Kerstin Weiß lässt keinen Zweifel aufkommen und verzichtet im Zweifelsfall darauf.
Verzichten müssen auch die Kinder. „Ich will Schlittschuhlaufen. Kommst Du mit, Mama?“, fragte Marla kürzlich. Da stößt Kerstin Weiß an Grenzen, die sie nicht überwinden kann. Und muss das den Kindern zumuten. Trauer und Wut kämen da schon mal hoch. Auch die drei Stufen vor der Haustür kann sie nicht bewältigen. Auf meine Frage, wie sie denn ins Haus käme, lacht sie. „Das wär's ja noch, wenn ich das Haus nicht verlassen könnte.“ Also hat die Familie den Terrassenzugang rollstuhlgerecht umgebaut. Auf eigene Kosten. Wie auch das Familienauto. Denn damit fährt Kerstin Weiß die Kinder zum Kindergarten und zur Schule.

Kerstin Weiß hat Glück gehabt. Ihr Mann hat die Familie nicht verlassen, als sie krank wurde. „Jeder hätte verstanden, dass ein Mann keine behinderte Frau als Klotz am Bein haben will.“ Es sei schließlich nur für Frauen selbstverständlich zu bleiben, wenn der Partner krank und hilfebedürftig wird. Ihre Ehe sei aber von Anfang an gleichberechtigt gewesen. Wer hat bei Ihnen die Hosen an, frage ich sie. „Ja, weiß ich nicht…“, antwortet sie. Und lacht.


Frauke Josuweit, 43, war mehrere Jahre im Redaktionsteam der Fernsehtalkshow der evangelischen Kirche „Tacheles – Talk am roten Tisch“. Jetzt ist sie zuständig für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der EFiD und Redakteurin der mitteilungen.

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