Alle Ausgaben / 2011 Andacht von Katja Jochum

Kinder an die Macht

Adventliche Andacht zu Psalm 8

Von Katja Jochum


Die erste Idee, die mir beim Lesen des Psalms kommt, ist so gar nicht adventlich geprägt. „Kinder an die Macht!“ Das viel strapazierte Lied von Herbert Grönemeyer macht sich sofort im Kopf breit. „Dem Trübsinn ein Ende – wir werden in Grund und Boden gelacht!“

Ist das so weit entfernt von dem biblischen Vers? „Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du eine Macht geschaffen gegen alle, die dich bedrängen, auf dass Feindschaft und Rache verstummen.“ (Ps 8,3)

Bisher war dieser Psalm immer mein Urlaubspsalm. Seine Worte sind sofort da, wenn ich am Saum eines Meeres laufe, verschwitzt auf einem Berggipfel stehe oder in einen klaren Sternenhimmel blicke. „Was sind die Menschen, dass du an sie denkst“ – inmitten dieser überwältigenden, verletzlichen Schöpfung? Jetzt, in der dunklen Jahreszeit, öffnet der Psalm mir seine andere Seite. Er stellt mir sein Rätsel. Was soll das heißen: „Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du eine Macht geschaffen gegen alle, die dich bedrängen, auf dass Feindschaft und Rache verstummen“? Gottes Macht, erwachsen aus weit aufgerissenen Kindermündern, glucksend vor Vergnügen, sehnsüchtig weinend, ungeduldig quengelnd, selbstvergessen staunend. Gottes Macht – gerade in den so deutlich auf Schutz Angewiesenen.

Gottes geschenkter Lebensatem dringt aus dem Mund der Säuglinge. Das Leben geht weiter – darin steckt eine Ahnung, ein Versprechen, wie kraftvoll Gottes Macht sich in den Unterschätzten entfaltet. Wie Feindschaft und Rache darüber ihre Kraft verlieren. So konkret erwächst Segen. „Menschenkinder“ sollen zu Verwalterinnen und Verwaltern von „Gottes Hände Werk“ werden. Nicht weniger ist ihnen anvertraut. Wie soll das vonstatten gehen? Zu leicht klingt bei „Herrschaft“ „Missbrauch und Mutwillen“ an. Liegt das Korrektiv solch anmaßender Herrschaft gerade in dem, was der Psalm als „Macht Gottes“ bezeichnet hat? Was brauchen die Kinder und Säuglinge, damit sie leben können? Wie kann die „Herrschaft“ der Menschen über die Schöpfung solche Grundlagen für die Zukunft schaffen?

Die Menschenkinder stehen im direkten Verhältnis zum „Menschenkind“, von dem die Evangelien erzählen. Jesu Geburt – schutzloser, improvisierter, angewiesener auf konkrete Hilfe und Solidarität kann Leben kaum beginnen. Jesus bezeichnet sich, herangewachsen, im Zeugnis der Bibel selbst mit diesem Wort: Menschenkind. Er nimmt den Auftrag wahr, Gott, die Schöpfung und die Zukunft der Kinder und Säuglinge im Blick zu behalten.

Zur Vorbereitung der Andacht
– die ausgewählten Kernbegriffe des Psalms (s.S. 35) auf Papierstreifen schreiben und in der Mitte des Stuhlkreises strahlenförmig auslegen
– auf vier Streifen den Rahmenvers schreiben
– Gong o.ä.
– Kopien Ps 8
Kopiervorlagen für AbonnentInnen unter www.ahzw-online.de / Service zum Herunterladen vorbereitet

Votum
Im Namen Gottes:
Schöpfer und Bewahrer.
Im Namen Jesu Christi:
Menschensohn.
Im Namen Heiliger Geistkraft:
Anstifterin zur Sehnsucht.
Amen.

Lied mit Nachklang
O komm, o komm, du Morgenstern (EG 19,1-3)

Einer soll kommen, der das Dunkel
vertreibt.
Einer soll kommen, der uns hilft, das zu tragen, was schwer auf uns lastet.

Einer soll kommen, dass Hoffnung uns neu ergreift und erfüllt.
Einer soll kommen, dass wir mit Zuversicht in die Tage gehen.

Einer soll kommen, der die Kraft der Sehnsucht weckt, die in uns schläft.

Impuls
– Wie warten Sie in diesem Jahr auf die Geburt des Kindes? Ist es bei Ihnen schon Advent geworden? Freuen Sie sich an den vielen kleinen Vorbereitungen, die auch Ihr Herz ankommen lassen? Beim Aufstellen der Zweige, beim Anzünden der ersten Kerzen, beim Duft des vertrauten Familiengebäcks – was steigt in Ihnen auf?

– Bei jedem Teil des adventlichen Schmucks, das Sie jetzt in die Hand nehmen, an seinen Platz bringen, tritt seine Geschichte mit in die diesjährige Zeit der Erwartung ein. In den Anklängen des Gelebten wird Advent so auch zu einer wehmütigen Zeit. Passen die alten, gewohnten Gefühle in diesem Jahr noch? Ist die Sorge, die jetzt drückt, aufgehoben in den alten Antworten?

– Um Advent bei uns ankommen zu lassen, leihen wir uns alle Jahre wieder in den Gottesdiensten der Kirchen die großen Bilderbögen, die die Propheten der Hebräischen Bibel und die Psalmbeterinnen und -beter in ihre Zeit gesetzt haben – als Visionen von dem anderen Leben in Gottes Zuwendung und Gegenwart. Wir verbinden unsere Sehnsucht mit der Sehnsucht, die aus den biblischen Stimmen spricht.

– Gut tut es dabei, den üblichen Kanon der biblischen Texte zu erweitern, eine andere Hoffnungsstimme in dieser besonderen Zeit neu zu hören – und mit ihr ins Gespräch zu kommen. In der Mitte finden Sie einen Strahlenkranz aus Wörtern.

Die Leiterin geht in die Mitte und liest die Wörter auf den ausgelegten Papierstreifen langsam laut vor:
deine Majestät – Kinder und Säuglinge – eine Macht – Feindschaft und Rache – Werke deiner Finger – Mond und Sterne – die Menschen – ein Menschenkind – wenig geringer als Gott – Würde und Glanz – unter ihre Füße gelegt – Schafe, Rinder – die wilden Tiere – Vögel des Himmels – Fische des Meeres – die Pfade des Meeres

Stellen Sie sich bitte zu dem Streifen, der Sie in Ihrer adventlichen Hoffnung besonders anspricht. Tauschen Sie sich mit den Frauen neben Ihnen darüber aus, weshalb sie sich gerade dort hingestellt haben.

Die Leiterin gibt nach ca. 5 Minuten ein akustisches Signal und bittet darum, die Streifen wieder in die Mitte zu legen und zu den Plätzen zurückzugehen.
Sie legt die Papierstreifen mit dem Rahmenvers in den vier Himmelsrichtungen um die Textstrahlen herum:
Adonaj, du herrschst über uns.
Wie machtvoll ist dein Name auf der ganzen Erde.

– Ich lese Ihnen den Psalm vor, aus dem die Worte stammen, zu denen Sie sich gerade ausgetauscht haben. Achten Sie beim Hören darauf, wo Sie Ihre Worte wiederfinden.

Die Leiterin liest Psalm 8 vor und teilt den Text anschließend aus. Sie bittet die Frauen, beim nochmaligen lauten Vorlesen die Stelle mitzusprechen, die sie sich ausgesucht hatten.
Sie haben Ihre Gedanken verbunden mit einem Gebet der Bibel, das Gottes Macht über die ganze Schöpfung preist. Tatsächlich – es ist genau diese Schöpfung, dieses lebendige Gefüge zwischen Himmel und Erde, um das sich Gott sorgt. So geordnet das Miteinander von Mond und Sternen, von Menschen und Tieren auf den ersten Blick wirkt – der Psalm weiß um die Gefahren, die dem Werk drohen. Gott und seine Schöpfung werden bedrängt, Feindschaft und Rache sind gegenwärtig.

Mit Staunen lernen wir heute, dass es dabei nicht nur darum ging, Gott in seiner Autorität ernst zu nehmen. Die Schöpfung wurde tatsächlich bedroht, Gottes Gaben wurden von einigen wenigen, die Macht hatten, für sich in Anspruch genommen, ausgebeutet. Wir hören aus biblischen Zeiten von riesigen Rodungen, von Monokulturen, von Großgrundbesitzern und ihrem willkürlichen Umgang mit Menschen und Natur – und wir hören von der Sehnsucht der Menschen, dass alle Teil haben können an einem Leben, das sie nährt und ihnen einen würdigen Platz zugesteht.

Wenn Menschen nach Heilsein fragen, dann geht es immer auch um die -Sicherung ihrer Lebensgrundlagen, um Zukunft für ihre Kinder. Wie deutlich wir uns gerade nach diesem Jahr 2011 hierin mit den biblischen Menschen verbinden – nachdem uns durch die Reaktorkatastrophe von Fukushima die Zerbrechlichkeit des Lebens und der Auftrag zur verantwortungsvollen Gestaltung unserer Energieversorgung neu bewusst geworden ist!

Wen wählt Gott als seine Gegenmacht gegen die zerstörerischen Gefährdungen, gegen Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit? „Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du eine Macht geschaffen gegen alle, die dich bedrängen.“ Wenn wir die Stimmen der Kinder als Zeugen für Gottes Herrschaft auf der ganzen Welt hören, dann lassen sie uns aufhorchen: Sie brauchen Luft zum Atmen, damit Gottes Lebenshauch in ihnen lebendig bleiben kann. Sie rufen nach Wasser, das allen zusteht und über das Menschen keinen Handel abschließen. Sie fordern nahrhaftes Essen, das ihren Hunger stillt. Sie drängen darauf, dass ihre Eltern für sie da sein können und nicht durch willkürliche politische Systeme verfolgt und gequält werden. Sie rufen im festen Vertrauen darauf, dass sie gehört werden, dass jemand sich ihnen liebevoll zuwendet, dass ihr Durst und Hunger gestillt werden.

In der beeindruckenden, überwältigenden Schöpfung suchen sie unbeirrt nach Beziehung, die trägt und zum Leben hilft. Uns Erwachsene lässt die Größe der erfahrenen Natur erschauern: „Was sind die Menschen, dass du an sie denkst, ein Menschenkind, das du nach ihm siehst?“ Die Antwort im Psalm lässt uns stutzen: Wir – nur wenig geringer als Gott – diejenigen, die den Auftrag erhalten, auf diese grandiosen Zusammenhänge zu achten, innerhalb derer wir leben? Hier ist es hilfreich, Gottes Macht der Kinder und Säuglinge nicht aus dem Blick zu verlieren, ihren Einspruch zu hören. An der Verantwortung ihnen gegenüber wird sich die Umsetzung des anvertrauten Auftrags messen lassen müssen. Verheißung, Würde und Glanz gelten nicht nur den jeweils lebenden Erwachsenen, sondern auch denen, die nach ihnen zu Zeuginnen und Zeugen Gottes und zu Gottes Macht werden sollen.

Wenn wir den Psalm in dieser Adventszeit hören, ahnen wir im Chor der Kinder und Säuglinge die Stimme dessen, auf den wir warten. Als „Menschenkind“ spricht Jesus nach den Evangelien von sich selbst. Auf ihn, der die Bedürftigkeit teilt, indem er in armseligen Umständen geboren wird, warten wir. Er nimmt den Schrei der Kinder und Säuglinge auf, mit ihnen wird er zu Gottes Macht. In diesem Rufen hören wir, dass Gott verstanden hat. Und wir begreifen uns als die, nach denen Gott schaut, die berufen sind, in unermüdlicher Hoffnung die Schöpfung zu bewahren, uns dem Frieden entgegen zu sehnen und ihm den Weg zu bahnen. Amen.

Lied
Da berühren sich Himmel und Erde

Vaterunser

Segensbitte
Gott, stärke die Hoffnung, die in uns wachsen will.
Gott, bewahre, was wir freigeben.
Und segne uns, wenn wir aufbrechen – auf dein Wort.
Amen

Katja Jochum, 43 Jahre, ist Verbandspfarrerin in
der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. – Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen in den Bereichen Ökumene und Weltgebetstag, Theologie und Literatur.

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