Ausgabe 1 / 2008 Artikel von Kirsten Beuth

Kunsthalle

Wo Kitsch und Kunst ihr Süppchen kochen

Von Kirsten Beuth


Es war am Morgen des 25. Oktober 1967. Ich saß in der Bar des Park-Sheraton-Hotels in Manhattan und schlürfte gerade meinen Capuccino, als Albert Anastasia hereinkam. Er kam direkt auf mich zu, klopfte mir auf die Schulter und fragte: „What's cooking, Jo?“ Doch, ehe ich ihm sagen konnte, was los war, war er schon wieder weg zum Hotel-Friseur. Es sollte – wie sich dann später herausstellte – seine letzte Rasur sein.

So die Einleitung zu Joe Cipollas „Mafia-Kochbuch“ der italo-amerikanischen Küche. Die kleine Rezeptsammlung ist am oberen linken Rand von einer Kugel durchschlagen, die im Buchrücken wieder austrat, ohne uns zu verraten, in wessen Magen sie landete …

Alfred Biolek erzählt. „‚Sie haben meine Ehe gerettet', sagte neulich dankbar eine feine Dame zu mir. ‚Ich habe so schlecht gekocht – das war eine gefährliche Belastung für unsere Beziehung. Seit ich Ihr Buch habe, gibt es bei uns nur noch strahlende Gesichter bei Tisch.“(1) Und Michaela Langer fragt: „Gehören Sie zu den Männern, die sich im Punkte leibliches Wohl bestens versorgt wissen und die eigenen Kochkünste als eine Herausforderung sehen? Oder sind Sie auf sich gestellt und wollen sich selbst mit ein¬ fachen, schnellen Gerichten den Magen füllen oder mit etwas aufwendigeren verwöhnen?“(2)

Was machen all die Männer in der Küche? Irritiert stehe ich vom Schreibtisch auf, öffne leise die Tür und schleiche durch den Flur. Nein – weit und breit niemand zu sehen. Erleichtert setze ich mich auf einen Küchenstuhl und betrachte die bordeauxroten Wände, die in eine weiße Zimmerdecke münden. Hier und da ragt ein kleiner Zipfel kräftiger Farbe in den Küchenhimmel, auf dem sich Koch- und Backdämpfe mit Kerzenruß und Tagesstaub vermischt und zu einem nachsichtigen Schleier verwandelt haben. Wo es nicht gelang, die Tapete Stoß auf Stoß zu kleben, verdecken Bilder die handwerklichen Ungeschicktheiten. Es sind recht viele Bilder, die dort hängen.


Gemaltes

Als Erstes befestigte ich damals ein Plakat von Hans Baluscheks Gemälde „Hier können Familien Kaffee kochen“ aus dem Jahre 1895. Eine Frauengruppe sitzt in einem Gartenlokal am gedeckten Tisch. Sie haben sich schön gemacht, tragen Hüte mit Blumenschmuck. Sie sind ihren Küchen kurz entflohen – nur für diesen Augenblick. Aber er ist es wert und wird jeden Sonntag freudig wiederholt. Die riesigen Kaffeekannen auf Baluscheks Bild lenken meinen Blick auf den alten Schrank mir gegenüber. Auf ihm hat ein Sammelsurium von Küchenutensilien Platz genommen. Ich nehme die große weiße Kanne meiner Großmutter herunter, entstaube sie und fülle sie mit Wasser. Erstaunt stelle ich fest, dass ihr Bauch 20 Tassen Kaffee beherbergen kann. Kaffee? Natürlich nur an Sonntagen. In der Woche gab es Muckefuck. Den tranken auch die Kinder…

Über dem Herd hängt eine Farbstudie der Bauhauskünstlerin Benita Koch-Otte und an der angrenzenden Wand mein neuestes Aufhängsel: ein handsigniertes Plakat von Klaus Staeck mit dem Titel „Europa ist mehr als die Weinschwemme“. Über dem Durchgang zum Flur befindet sich ein mit ironisch-nostalgischem Wohlgefühl gerahmter Einkaufsbeutel mit der Aufschrift „Qualitätsstoffe für hohe Ansprüche – VEB Kombinat Wolle und Seide Meerane“. Und wenn ich den Blick wieder senke, schaut mir ein Reptil in die Augen: ein Neujahrsgruß der Künstlerin Kerstin Seltmann, mit dem Satz unterschrieben: „Nicht jede Kröte muss man schlucken.“ Ich antworte im Vorbeigehen stets mit einem freudig lächelnden „Ja!“


Gesticktes

Meine Küche ist ein Ort, an dem Kunst und Kitsch ihr Süppchen gemeinsam kochen. Ein paar Gegenstände erinnern noch an meine Großmütter: die schon erwähnte Riesenkaffeekanne, eine Kaffeemühle aus Porzellan, die an der Wand zu befestigen ist, ein Wasserkessel, ein paar Tongefäße, der Tortenheber mit dem Horngriff und die Eieruhr. Vor allem aber die gewebte Borte, die den Einlegeboden hinter den Glastüren meines Küchenschranks ziert: rote Windmühlen und Segelschiffchen auf weißem Grund.

In einer meiner Schubladen warten mit Kreuzstich und anderen, mir unbekannten Stickstichen liebe- und kunstvoll verzierte Tischdecken. Mein Küchentisch bleibt jedoch meist unbedeckt – abwischen geht schneller als waschen und bügeln. Manchmal jedoch sehne ich mich nach den bunten Verzierungen des Lebens und stehe dann dem auf die Stickereien getropften Rotwein wehrlos gegenüber. Mit Kernseife auf dem Rubbelbrett waschen? Auf der Wiese bleichen?

Ich erinnere mich an das leinene Tuch mit dem in blauen Kreuzen gestickten „Sich regen bringt Segen“ meiner Tante. Diese Überwürfe sollten Geschirrtrockentücher, Kochtöpfe oder ähnliches, was einer ordentlich geführten Küche nicht gut zu Gesicht stand, verbergen. Sollten aber auch Werte vermitteln und an Tugenden erinnern. Somit war die Rollenverteilung auch mit Stickgarn durch die geschickte Nadelführung der Hausfrau versinnbildlicht: „Die Küche rein, das Essen fein. Anders darf's bei mir nicht sein.“ „Eigner Herd ist Goldes wert.“ „Morgenstund' hat Gold im Mund.“ Auch „Geblüht im Sommerwinde, so ruht es nun im Spinde – als Stolz der deutschen Frau“ war beim Verzehr von Suppe oder Braten auf Küchenborten zu lesen.


Gereimtes

Unzählige Reime und Gedichte wenden sich dem Küchengeschehen zu. Gewollt oder nicht, teilen sie dabei Kulturhistorisches mit und kommentieren auch die Geschlechterbeziehungen. Ein hübsches Beispiel bietet Wilhelm Busch in seiner ersten Gedichtsammlung „Kritik des Herzens“ 1874, über den Zusammenhang von Bratkunst und weiblichem Charakter räsonierend.(3) Gut zu wissen, dass Busch ein Meister des zwinkernden Auges war. Dennoch ist wohl Wahres dabei, und wer kocht und wer am Tisch sitzt, ist klar benannt.

Es ist die Zeit, als in bürgerlichen Familien noch Mamsells und nicht „intelligente“ Hightech-Herde die Töpfe zum Kochen brachten. Und öffnen wir die Küchentür, so klingt uns sogleich Gesang in den Ohren. Meist waren sie eher schauerlich als schön, die schlimmen Geschichten und herzzerreißenden Liebesdramolette, die bei der Arbeit gesungen und von Haushalt zu Haushalt verbreitet wurden. Besonders beliebt waren Lieder von vergangener Jugend, enttäuschter Liebe, tiefer Leidenschaft, alles überdauernder Treue, Eifersucht, Schicksalsschlägen und grausamen Verbrechen. Sie hatten ihren Ursprung in der Bänkelsängerei des 16. Jahrhunderts. Händler und Wandergesellen berichteten auf Jahrmärkten und öffentlichen Plätzen über Geschehnisse in der „weiten“ Welt und waren somit lebendige Zeitungen und Nachrichtenüberbringer. Die einfachen Texte prägten sich schnell ein, gingen zu Herzen und trugen bei allem Schaurigen doch die Hoffnung auf einen Sieg des Guten über das Böse in sich. Der Leierkastenmann erinnert uns hin und wieder noch an diese Liedtradition. Und manchmal kommen uns die zu Gehör gebrachten, Tränen treibenden Geschehnisse – klopfen wir den Staub aus den Zeilen – ganz gegenwärtig und gar nicht unbekannt vor. Nur zu, schalten Sie das Radio ein! Es tut einfach gut zu wissen, warum man beim Zwiebelschneiden weint. Vielleicht aber sollten wir dann doch lieber die Melodie von Kurt Weills Komposition zu Brechts Meckie Messer summen, dieser schön schaurigen Moritat, die heute so aktuell ist wie 1928.


Ausgestelltes

Im 18. Jahrhundert löste sich die bis dahin vorherrschenden Wirtschaftsform des „ganzen Hauses“, in dem Hausvater und Hausmutter, Verwandte mehrerer Generationen, Lehrlinge, Gesellen und Gesinde unter einem Dach lebten, schrittweise auf. Diese Entwicklung schränkte den weiblichen Funktionsbereich deutlich ein: Waren Frauen bisher entscheidend in die Wirtschaftsführung und Produktion der Lebensbedingungen integriert – als Verkäuferinnen der gefertigten Waren, als Rechnungsführerinnen, als Kundenbetreuerinnen – so konzentrieren sich ihre Kräfte nun auf die Ausgestaltung der familiären Innenwelt.

Die Einrichtung der Küche blieb weiterhin zweckmäßig. Eine Ausnahme bildete aber das aufkommende Schmuckgeschirr, welches eher modischer Zierrat war, als dass es im Alltag Gebrauch fand. Es wurde über dem Herd und auf Regalen aufgereiht. Einige wohlhabende Häuser leisteten sich sogar eine nicht benutzte Schauküche. Wohnkulturwurde zum Ausdruck des wohl gehüteten und treu umsorgten Heims und somit Ausstellungsort hausfraulicher Kunstfertigkeiten.


Gekochtes

Die Küche ist ein Ort, an dem ökonomische, soziale, ethische, politische und ästhetische Facetten der Alltagspraxis ineinander greifen. Hier spiegeln sich ¬ Rollenstereotype und -veränderungen besonders deutlich. Entgegen der eingangs gestellten Frage, was denn all die Männer hier machen, ist die Küche auch weiterhin eine Domäne der Frauen. Laut einer Untersuchung aus dem Jahre 2005 kochen 72% der Frauen und 44% der Männer regelmäßig. Frauen nutzen die Küche vielfältiger als Männer, auch für küchenfremde Aktivitäten – zum Telefonieren, für ihre Hobbies, um Kontakte zu pflegen oder um mit den Kindern Hausaufgaben zu machen. Die Küche des Alltags ist also ein weiblich geprägter Raum.
Profiköche allerdings, besonders in der gehobenen Gastronomie, sind vor allem Männer. Männer übernehmen die Küche dort, wo sie zum einträglichen ökonomischen Faktor wird. So wirbt auch ein Berliner „Event-Kochstudio“: „Männer an den Herd – lassen Sie sich nicht länger aus der Küche vertreiben. Nicht umsonst sind die meisten Küchenchefs Männer!!! Wir zeigen Ihnen alles, was Sie wissen müssen, um sich in der Küche gegen die Frauen behaupten zu können.“

Nun kenne ich keine Frau, die Pfannen schwingend und laut zeternd Männer zur Küchentür hinaustreibt. (Zumal es im realen Leben gar nicht so viele Gelegenheiten dazu gibt.) Frauen kümmern sich, einer Zeitbudgeterhebung des Statistischen Bundesamtes folgend, nach wie vor ums Essen zu Hause. Männer kaufen eher gerne mal ein teures, trendiges Kochbuch und beschränken sich auf das Besondere. Auch wenn Johannes B. Kerner freitags kochen lässt – ob „Sushi von Blattsalaten mit Hoisin-Schwein“ oder „Brikett vom sauren Seeteufel mit Zweierlei vom gekochten Ochs“ mit abschließendem „Topfencreme Palatschinken mit Schwarzbroteis“ – geht es um das Besondere. Es geht um Kochkunst, nicht um Milchreis mit Zucker und Zimt.

Kochen wird zur Kunst, die Küche zum Atelier. Die Diskrepanz zwischen der täglichen Sorge um die Ernährung der Familie und einer zur Kunst erklärten Küche ist augenscheinlich. Mit dem Prozess des sich Lösens vom „bloßen Hunger stillen“, setzt die Freiheit künstlerischer Produktion ein. Sie reicht von Kochkünsten über theatralische Thematisierungen des Essens und Hungerns, wie bei der Commedia dell'arte, bis hin zur Lebensmittel-Kunst des 21. Jahrhunderts. Es ist nur scheinbar ein weiter Bogen vom Kreuzstich auf der Küchenborte über die moderne Kunst des kulinarischen Happenings bis hin zur Frage nach der Bewahrung der Schöpfung.


Für die Arbeit in der Gruppe

– Die Frauen erhalten eine Kopie von Hans Baluscheks Bild „Hier können Familien Kaffee kochen“ (für AbonnentInnen unter www.ahzw.de/Service zum Herunterladen vorbereitet). Sie tauschen sich über den Titel des ¬ Bildes aus und anschließend über die auf dem Bild dargestellten Frauen. In Kleingruppen könnte zu jeder der Dargestellten (arbeitsteilig) eine Lebensgeschichte erfunden werden.

– Die Frauen erhalten mehrere Küchenlieder, lesen die Texte und singen eventuell. Sie tauschen sich darüber aus, ob in den Küche ihrer Mütter und Großmütter noch gesungen wurde. Und was?

– Was machen all die Männer in der Küche? Die Frauen reflektieren darüber, ob Männer heute wirklich häufiger in der Küche anzutreffen sind. Welchen Zusammenhang gibt es mit der veränderten Rolle der Frau in den letzten Jahrzehnten? Was ist „gut“, was „schlecht“ daran? Gibt es Auswirkungen auf die ästhetische Gestaltung der Küche?



Dr. Kirsten Beuth hat Kultur- und Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Akademie der Künste der DDR. Seit 1996 arbeitet sie am Frauenstudien- und -bildungszentrum der EKD.

Anmerkungen
1
Alfred Biolek: Meine neuen Rezepte und Wein, wie ich ihn mag, München 1999, S. 7
2 Michaela Langer: Männerwirtschaft. Das Kochbuch für hungrige Männer, Münster 1999, S. 7
3 siehe Seite 35

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