Alle Ausgaben / 2012 Material von Joachim-Ernst Berendt

Landschaft für die Ohren

Von Joachim-Ernst Berendt

Ort der Handlung: Der Crane Prairie Lake im Gebirge der Cascades Mountains in Oregon, 1700 Meter hoch. Ich liege auf einem Bett aus Kiefernnadeln am Rande des Sees.

Ich sehe, hineinblinzelnd in die Helle des Sommerhimmels: drei senkrecht über
mir in die Höhe ragende Kiefern – pine trees – vor leuchtend blauem Hintergrund. Keine einzige Wolke. Ab und zu ein seine Bahn ziehender Vogel. Näher bei mir: schnell vorbeihuschende Fliegen, sich wiegende Libellen, kreisende Moskitos. Nicht viel für die Augen.

Aber ich höre: Stille. Sie höre ich zuerst. Wie ein Gewicht, das ich greifen kann. Ein schweres, glattes Gewicht. Meine Ohren befühlen es, als seien sie tastende Finger. Ich nehme wahr: Das Gewicht fühlt sich gut an. Ich denke: Solche Stille hast du lange nicht gehört. Ich beschäftige mich mit: Stille. Sie ist lebendig. Ein Tropfen aus Stille. Meine Ohren dringen in ihn ein. Ich bin in ihm. Der Tropfen wird Universum. Ein Kosmos, der – zu tönen beginnt.

Dies ist der Kosmos: Zuerst der See: Ein rhythmisches Glucksen. Ein tiefer Ton – blubbernd ein wenig – und zwei höhere: klackend und klatschend. Ein Dreier-Rhythmus. Als tanze der See Walzer. Es ist kein fröhliches Tanzen. Ein schlaffes, sich hingebendes, gemächliches.

Dann meldet sich die erste Libelle. Bevor ich sie sehen kann, höre ich sie. Das schwirrende Geräusch ihrer kreisenden Flügel. Der Ur-Helikopter. Immer noch funktioneller als alle von Menschen gemachten. Weitere Libellen folgen, und ich erfahre: Es gibt viele verschiedene Libellen-Sounds. Hellere, schnell sirrende und langsamere, dunkel summende. Samt allen zwischen ihnen möglichen Übergängen. Eine Tonleiter aus Libellen. Ich brauche lange, bis ich das bemerkt habe, denn es fliegt nur selten eine Libelle vorbei.

Manchmal entsteht Polyphonie. In vielerlei Lagen und Schichtungen. Zum Beispiel: Zwei Insekten kommen – verschieden schnell – und entfernen sich in entgegengesetzte Richtungen: schnurrend das eine, rumpelnd das andere. Genau so: Es schnurrt wie ein Elektromotor, und das andere rumpelt, entsprechend „verdünnt“, wie ein LKW auf einer Holperstraße.

Längst schon hat einer der über mir in den Himmel ragenden Bäume, wenn er sich unter dem Zwang des Windes (ver-) beugt und wieder in seine senkrechte Stellung zurückkehrt, zu knacken begonnen. Ein knarrendes Knacken. Ein älterer Herr, der darauf besteht, dass er recht hat. Jedesmal, wenn es zwei- oder dreimal knackt, denke ich, er meint: Ich hab's ja gleich gesagt. Andere Bäume knacken mit. Sagt jeder das gleiche? Die anderen ab-, gar zurechtweisend? Ob sie sich nicht mögen? Oder klingt es nur so?

Ich wünsche mir, das Rauschen würde heftiger werden, orkanartige Stärke erreichen. Die vier Orgeln im Freiburger Münster gleichzeitig gespielt. Ich habe mich in der Mittagsglut auf mein Kiefernadelbett gelegt und spüre: Der Wind kündigt den Abend an. Ich wünschte, er brächte Wolken heran. Es würde zu regnen beginnen. Ich stelle mir die „Tropfen-Sounds“ vor. Ich würde sie auf meiner Haut vernehmen, als sei ich eine Trommel, auf die eine himmlische Hand irgend etwas ganz Leichtes – gerade nur schwer genug, damit mein „Fell“ anspricht – herabfallen lässt. Ich stelle mir vor, was es da alles zu hören gäbe – aber dann bin ich froh, dass es nicht regnet. Es wäre hoffnungslos, die Fülle der Klänge, die dann entstünden, beschreiben zu wollen. Es rauscht und rauscht und rauschtrauschtrauschtrauschtrauschtrauschtrauschtrauscht … Das wäre fast alles, was man sagen könnte. Man hätte nicht annähernd die zwei oder drei Dutzend Rauschworte, über deren klangliches Pendant der Regen verfügt. Pladdern und platschen und die paar anderen, die es noch gibt, sind nicht genug.

Ich höre jemanden meinen Namen rufen. Und in diesem Augenblick höre ich: mich! Ich höre – ohne ihn zu ertasten – das Pochen meines Pulses, das Schlagen meines Herzens, das Vibrieren meiner Schläfen, das Rauschen des Blutes in meinen Adern: den Ur-Strom und Ur-Nada – das Mini-Modell aller Ströme der Welt. Ich höre all dies so deutlich wie vorher See und Insekten, Wind, Bäume und Schilf – und meine, es länger und intensiver zu hören, als ich es je zuvor in meinem Leben gehört habe.

Ich werde gefragt: „Was hast du den Nachmittag über gemacht?“ Ich: „Gehört.“ Frage: „Sonst nichts? Gab's nichts zu sehen?“ Ich: „Blauen Himmel und drei pines.“ Weil ich aber gehört habe, war's ein erfüllter Nachmittag.

gekürzt aus der Neuauflage:
Das dritte Ohr –
Vom Hören der Welt
© Traumzeit Verlag
ISBN 978-3-933825-67-4
www.traumzeit-verlag.de

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