Ausgabe 2 / 2012 Artikel von Betina Seibold

Lass mich den Zwiespalt leben

Erwachsen durch die Pubertät begleiten

Von Betina Seibold

„,Ich bin', so die 14jährige Henriette, ‚einfach hin- und hergerissen. Ich spüre schon den Druck, der auf meinen Schultern lastet. Alle wollen etwas von mir. Und ich möchte ja auch etwas tun. Nur weiß ich nicht, ob ich das auch schaffe.'

David nickt, als er das hört. Auch er ist 14 Jahre alt: ‚Ich kann schon viel erreichen, wenn ich nur will. Aber das kostet auch Kraft. Und dann bin ich unsicher, ob das richtig ist, was ich mache. Es ist ein ewiges Hin und Her. Trotzdem ist es eine geile Zeit!' ‚Stimmt', fällt Ronald ihm ins Wort. ‚Du kannst Pläne machen. Deine Pläne. Irre Pläne. Aber dann wirst du auch auf den Boden der Tatsachen geholt. Aber das ist manchmal auch gut so.' Er zögert etwas. ‚Nur zur Schule, da habe ich momentan keinen richtigen Bock drauf. Das kommt einem alles so klein vor, diese Schule. Ich will doch die Welt bewegen!'“(1)

Unser Leben verläuft von Anfang an in aufeinander folgenden Lebensphasen. Jede Lebensphase zeichnet sich durch eigene Besonderheiten aus. Immer wieder stehen wir vor der Herausforderung der Veränderung. Besonders während der Übergänge von dem aktuellen zum nächsten Lebensabschnitt sind für die / den Einzelne/n wie für die Familie und das Umfeld Aufgaben zu bewältigen, die Einfühlungsvermögen und Gelassenheit erfordern. Die so genannten „Trotzphasen“, Trennungssituationen durch Scheidung oder Tod, Umzüge, der Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule sind solche Übergänge.

In der Pubertät, die eine Zeit der Wandlung, Loslösung, Emanzipation und Neuorientierung ist, gilt es für Eltern vor allem auf das zu vertrauen, was sie ihren Kindern seit deren Geburt vorgelebt haben. Diese Zeit ist mitunter sowohl für die Jugendlichen als auch für die Erwachsenen eine Zeit interessanter Herausforderungen. Für die Jugendlichen ist dieses Durchgangsstadium eine anstrengende Zeit. Sie spüren die Entwicklungsaufgaben, die durchaus Stress und Druck bedeuten können. Sie können und wollen Entscheidungen, die die Gestaltung ihres Alltags, das Zusammenleben in der Familie und mit Freunden angehen, eigenverantwortlich treffen. Sie dürfen ab 13 Jahren mit Zustimmung ihrer Eltern zwei bis drei Stunden täglich arbeiten, sofern dies den Schulbesuch nicht negativ beeinflusst.(2) Viele Jugendliche nehmen Verantwortung wahr und arbeiten als Babysitter oder engagieren sich in Jugendgruppen. Zur gleichen Zeit können sie sich aber auch in ihr Zimmer zurückziehen und sich lange mit den Spielsachen ihrer Kindheit beschäftigen.

Für Eltern ist dieses widersprüchliche Verhalten manchmal nicht leicht zu verstehen. Der Wechsel zwischen kindlichen und erwachsenen Handlungsweisen verlangt von ihnen ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen. Alte Gewohnheiten im Zusammenleben gelten nicht mehr. Das gemeinsame Leben muss neu gestaltet werden. Für Eltern liegt hier eine Chance, mit ihren Kindern eine neue partnerschaftlich orientierte Beziehung aufzubauen, die von gegenseitigem Respekt und der Achtung voreinander geprägt ist und auf Macht, Kontrolle und Manipulation verzichtet.(3) Um sich dieser Aufgabe zu nähern, ist es immer wieder hilfreich, sich an die eigene Jugendzeit zu erinnern, sich vor Augen zu führen, was in dieser Zeit wichtig war, welche Werte galten, welche Emotionen überwogen, wie das Verhältnis zu gleichaltrigen oder zu Erwachsenen innerhalb und außerhalb der Familie war. Welche Vorbilder man hatte und wie es gelang, Konflikte zu lösen und Auseinandersetzungen zu führen.

Außer den emotionalen Veränderungen spielt auch die körperliche Entwicklung eine Rolle. Den Übergang vom Kind zum Erwachsenen teilt Klaus Fischer in drei Phasen ein; zu berücksichtigen ist, dass die Tabelle (siehe rechts, S. 79) nur eine grobe Orientierung sein kann.(4)

Eine weitere Hilfe, um zu verstehen, in welcher körperlichen und emotionalen Lage sich Jugendliche befinden, können die Erkenntnisse der Hirnforschung sein. Die besagen, dass in der Pubertät Umbauaktivitäten im Gehirn stattfinden, in deren Zentrum die Weiterentwicklung des Frontalhirns steht. Das Frontalhirn ist diejenige Region im Gehirn, die sich am spätesten entwickelt. Dem Frontalhirn werden dabei verschiedene wichtige Funktionen zugeschrieben:
– unpassendes Verhalten unterdrücken können
– planen
– Entscheidungen treffen
– Informationen im Kopf behalten
– zwei Dinge gleichzeitig tun(5)

Auch die Ausbildung dieser Fähigkeiten durch neuronale Veränderungen bindet Energie, die dann zum Beispiel in der Gestaltung einer gelingenden Kommunikation besonders mit Erwachsenen nur eingeschränkt zur Verfügung steht.

Das Zusammenleben mit Jugendlichen, die in der Pubertät sind, bedarf also besonderer Sensibilität. So ist es in dieser Lebensphase im Zusammenleben von Familien wichtig, dass sich vor allem die Erwachsenen bewusst sind, dass ihre Grundhaltung zum Leben, die Werte, die sie vertreten und ihr Verhalten wesentlich zum Gelingen beitragen. Eine Möglichkeit, das eigene Bewusstsein über die Erinnerung an die eigene Pubertät hinaus zu schärfen, bietet die Tabelle oben. Hier werden Grundhaltungen und Verhaltensmöglichkeiten einander gegenübergestellt.

Bei dieser Tabelle(6) kann man zwei beliebige Begriffe einer Seite miteinander kombinieren und sagen: je mehr von dem einen desto mehr auch von dem anderen. Man kann aber auch einen Begriff von der linken Seite mit einem beliebigen von der rechten Seite verknüpfen und sagen: Je mehr von dem einen desto weniger von dem anderen. Wenn zum Beispiel mein Machstreben sehr groß ist, werde ich auch eher misstrauisch sein und gleichzeitig weniger offen. Habe ich ein solides Selbstwertgefühl, brauche ich weniger Angst zu haben und bin eigenständiger. Wichtig zu wissen ist dabei, dass beide Seiten zu einem Menschen gehören. An den Erwachsene ist es somit zu versuchen zu erkennen, was auf sie oder die Menschen, mit denen sie zusammenleben, zutrifft – und zwar, ohne eine Wertung der Persönlichkeit damit zu verbinden.

Wann die Zeit der Pubertät beendet ist, lässt sich nicht mit Altersangaben beziffern. Die Entwicklung vom Kind zum erwachsenen Menschen kann als nahezu abgeschlossen betrachtet werden, wenn sich das Zusammenleben in der Familie und mit Freundinnen und Freunden dahingehend beruhigt hat, dass Auseinandersetzungen auf Augenhöhe geführt werden können und die Beziehung aller Beteiligten auf gegenseitigem Respekt und der Anerkennung der jeweiligen Persönlichkeit beruht.

Für die Arbeit in der Gruppe

Material
weiße oder farbige Blätter A4 in ausreichender Anzahl, dicke Filzschreiber, Tesakrepp, Flipchartpapier oder Blätter A3, grüne und rote Punkte oder entsprechende Filzschreiber, Briefumschläge

Zeit
insgesamt 2-3 Stunden; die vorgeschlagenen Einheiten können auch in Auswahl durchgeführt oder auf zwei Treffen verteilt werden

Ablauf
Einander (neu) kennenlernen
Eine Gruppe von zehn oder mehr Frauen kann man gut mit einem „Soziometrischen Kennlern-Spiel“ an das Thema Pubertät heranführen. Dazu braucht man möglichst in der Mitte oder auf der einen Seite des Raumes eine freie Fläche, auf der sich die Anwesenden verteilen können. Anhand einer Reihe von Fragen stellen sich die Teilnehmerinnen entweder in einer Reihe auf, oder an den von der Leiterin vorher genannten Stellen Ecken im Raum.

Ist die Gruppe kleiner als 10 Frauen, können die folgenden Fragen auch in der Runde betrachtet werden.

– Ich bin aufgewachsen: Stadt – Land
– Ich habe (hatte) Geschwister: 0 – 1 – 2 – 3 – 4 – 5 – mehr
– Ich bin/war in der Geschwisterreihe an 1., 2., 3. … Stelle
– Meine Pubertät ist ca. 10, 20, 30, 40 … Jahre her
– An meine Gefühle während der Pubertät erinnere ich mich: gut – weniger – kaum
– Meine (unsere) Kinder haben Großeltern: ja – nein
– Die Zeit des Umbruchs verlief / verläuft in unserer Familie bisher: maßvoll – wechselnd – temperamentvoll

Die Frauen in den jeweiligen „Ecken“ tauschen sich jeweils maximal eine Minute zur gewählten Antwort aus.

Als ich 14 war
Ein Rückblick in die Zeit der eigenen Jugend ist der nächste Schritt, sich in das Thema „Leben in der Pubertät“ einzufühlen. An den Wänden sind Blätter mit Satzanfängen angebracht. Nach dem immer gleichen „Als ich 14 war“ folgen:
fand ich meine Eltern …
wollte ich am liebsten …
fand ich mich …
habe ich in der Schule …
hätte ich gerne …
habe ich zuhause …

Die Frauen wandeln im Raum herum und bleiben bei den Aussagen stehen, zu denen sie sich gerne mit den anderen austauschen wollen. Alternativ können die Gedanken zu den Satzanfängen auch auf Karten geschrieben werden und zu den Sätzen an die Wand gepinnt oder auf den Boden gelegt werden.

Eine andere Möglichkeit, sich in die Zeit des 14. Lebensjahres zurück zu versetzen, ist eine Stillarbeit, in der jede für sich auf einem Blatt notiert, an welche Begebenheiten, Gefühle, Menschen dieser Zeit sie sich erinnert. Diese Einzelarbeit kann durchaus der Gruppenarbeit vorgeschaltet sein oder sie ersetzen. Je nach Bedarf oder Bereitschaft, die Empfindungen der eigenen Person einzubringen, können sich die Frauen über das, was sie aufgeschrieben haben, austauschen oder jede behält es für sich als Grundlage zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Thema.

Typisch Pubertät
Nun finden sich die Frauen durch Ziehen von Losen in Gruppen von 3-4 Frauen zusammen. Sie unterhalten sich darüber, welches für sie wichtige Themen im familiären Zusammenleben mit Jugendlichen sind. Die fünf wichtigsten Themen schreibt jede Gruppe auf ein Flipchart oder bei kleineren Gruppen auf ein A3-Blatt.

Falls Anregung durch die Gruppenleiterin erforderlich ist, kann sie nennen:
Ordnung – Zimmer der Jugendlichen, gemeinsame Räume
Aufgabenverteilung im Haushalt
Einsatz für die Schule
Kommunikation Eltern/Großeltern – Jugendliche
Selbständigkeit – Freiheit – Kontrolle
Kleidung, Frisur
Freizeitgestaltung

Die Ergebnisse der Kleingruppen werden von allen gemeinsam betrachtet. Nun erhält jede 5 grüne und 5 rote Klebepunkte. Die Frauen werden aufgefordert zu überlegen, mit welchen der aufgeführten Themen – egal auf welchem „Plakat“ – ihnen der Umgang gut gelingt und welche für sie persönlich eher schwierig sind. Jetzt kleben die Frauen 1-5 grüne Punkte neben das Thema oder die Themen, mit denen sie gut zurechtkommen und 1-5 rote Punkte neben das Thema, die Themen, die sie weniger gut meistern.

Im nächsten Schritt finden sich zu je einem Thema die „Grün-Punkt-Kleberinnen“ mit den „Rot-Punkt-Kleberinnen“ zusammen und tauschen ihre Erfahrungen aus. Ziel ist dabei, dass die „Roten“ von den Erfahrungen der „Grünen“ lernen können. Je nach Diskussionsbedarf können die Kleingruppen die gefundenen Lösungsmöglichkeiten im Zusammenleben mit pubertierenden Jugendlichen noch in die gesamte Gruppe einbringen.

Abschluss
Als Abschluss eignet sich noch einmal eine Besinnung auf die eigenen Kinder/Enkelkinder, falls das Thema mit Müttern oder Großmüttern behandelt wird. Jede schreibt fünf positive Eigenschaften der eigenen Kinder/Enkelkinder auf und gibt das Blatt in einen Umschlag. Wollen die Frauen das Thema in die eigene Familie tragen, können sie den Umschlag den jeweiligen Kindern/Enkelkindern geben.

Betina Seibold, 58 Jahre, ist verheiratet und hat einen Sohn (29) und eine Tochter (23). Sie hat als Lehrerin für Deutsch und Kunst gearbeitet wie u.a. als Elternkursleiterin des Deutschen Kinderschutzbundes. Seit 1998 ist sie Mitarbeiterin bei den Evangelischen Frauen in Hessen und Nassau mit unterschiedlichen Aufgaben. Heute leitet sie die Evangelische Familien-Bildungsstätte Wiesbaden.

Anmerkungen:
1 Jan-Uwe Rogge: Pubertät, Hamburg 1999, S. 121
2 Jugendarbeitsschutzgesetz § 5 Absatz 3
3 Vgl. auch Paula Honkanen-Schoberth: Starke -Kinder brauchen starke Eltern, Berlin 2003 und Klaus Fischer: Pubertät oder „Eltern sind peinlich“,
www.familienhandbuch.de 2002
4 Fischer, Klaus, www.familienhandbuch.de, 2002
5 Sarah-Jayne Blakemore, Uta Frith: Wie wir lernen, München 2006
6 Arthur Brühlmeier: Macht und Autorität in der Erziehung, www.bruehlmeier.info

Literatur
www.familienhandbuch.de
Geo Wissen: Pubertät: Auf der Suche nach dem neuen Ich: Heft 41/2008
Jan-Uwe Rogge: Pubertät, Hamburg 1999
Cherry Benard, Edit Schlaffer: Einsame Cowboys. Jungen in der Pubertät
Cheryl Benard, Edith Schlaffer: Wie aus Mädchen tolle Frauen werden – Selbstbewusstsein jenseits aller Klischees
Laurie Graham: Teenager. Überlebensbuch für Eltern
L.E. Shapiro: EQ für Kinder. Wie Eltern die Emotionale Intelligenz ihrer Kinder fördern können
Sarah-Jayne Blakemore, Uta Firth: Wie wir lernen, Was die Hirnforschung darüber weiß
Manfred Spitzer: Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens

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