Alle Ausgaben / 2014 Andacht von Susanne Paul

Lasst die Kinder zu mir kommen!

Andacht zum Kinderevangelium Markus 10,13-16

Von Susanne Paul


Kinder sind etwas ganz Besonderes: klein und bedürftig, sie riechen gut (meistens), sind noch nicht eingebunden in die Geschäfte der Welt, auch noch nicht von ihnen gezeichnet wie wir Erwachsenen das sind. Sie haben Freude am Entdecken, sind vertrauens­voll und offen.

Und deshalb sollen sie uns Vorbild in der Begegnung mit Gott sein. „Lasst die Kinder zu mir kommen! Nur wer Gottes Reich wie ein Kind aufnimmt, wird dort hineingelangen.“ Mit diesen Worten weist Jesus seine Jüngerinnen und Jünger zurecht, die Kinder von ihm fern halten wollten. Kinder sind auch bei Jesus etwas ganz Besonderes.

In Taufgottesdiensten wird über diesen Text oft gepredigt: wenn ihr nicht werdet wie die Kinder. Sie sollen uns mit ihrer Unbedarftheit und ihrem Vertrauen Vorbild im Glauben sein. Da regt sich Unruhe in mir: wie ein Kind werden, um Gott nahe zu sein? Ist es nicht unsere Aufgabe, erwachsen zu werden, Verantwortung zu übernehmen, einzustehen für das, was wir tun und denken? Dahinter wollen wir doch auch nicht mehr zurück. Deshalb möchten wir doch auch erwachsen an Gott glauben. Andererseits: Wir reden ja auch vom Kind in uns, von der Lust zu spielen, auf Entdeck­ungs­reise zu gehen, von dem Wissen um Verletzlichkeit und Zartheit, der Sehnsucht nach Schutz.

Und ist unser Sicht auf Kinder nicht auch zu idealisierend? Kindheit als kleines Paradies – das trifft sicherlich für viele Kinder zu, aber wie viele sind eben doch schon ganz jung gezeichnet durch Verletzungen, Missbrauch und Ablehnung. Und wie viele Kinder haben nicht genug zu leben, kämpfen mit ihren Müttern und Vätern täglich um Überleben. In unserem reichen Land sind 2,5 Millionen Kinder von Einkommensarmut betroffen, ganz zu schweigen von Kindern in ärmeren Ländern.

Wie so oft entpuppt sich ein oft gehörter Bibeltext beim näheren Hinsehen sper­riger als geahnt. Es lohnt sich also, noch einmal genauer in den Text zu sehen.

Lasst die Kinder zu mir kommen und hindert sie nicht daran, denn sie gehören zu Gottes Reich! – Im Markus­evangelium steht diese Begegnung Jesu mit den Kindern. Jesus ist mit den Menschen vor Ort im Gespräch, es geht um Fragen des Miteinanderlebens, um Ehescheidung und ewiges Leben. Und mittendrin diese Begegnung mit den Kindern. Leute aus dem Dorf bringen Kinder zu Jesus, damit er sie berühre. Was bei uns schnell mit Taufe gleichgesetzt wird, hat hier einen ganz anderen Zusammenhang. Wenn Jesus Menschen berührt, dann heilt er sie. Menschen bekommen neue Kraft, können wieder auf ihr Leben sehen, auf eigenen Füßen stehen, werden befreit aus Verstrickungen, die mit dem Bild der bösen Geister beschrieben sind. Jesus berührt Menschen, um heil werden zu lassen, was in ihnen zerbrochen und verletzt war.

In diesem Ort bringen Leute Kinder zu Jesus, dass er sie berühre. Leute, die sich verantwortlich fühlen für Kinder, die der Heilung bedürfen. Woher sie kommen, zu wem sie gehören – darüber sagt uns der Text nichts. Aber wir wissen etwas über die Situation der Kinder zur Zeit Jesu. In jüdischen Familien galt den Kindern besondere Sorge. Sie waren Träger und Trägerinnen der Verheißung Gottes, sie waren die Zukunft des Gottesvolks. Aber diese Sorge fiel in der damaligen Zeit vielen Eltern sehr schwer. Im römischen Imperium ging es vielen Menschen in den besetzten Gebieten schlecht. Manche fanden keine Arbeit, um ihre Familien zu ernähren; das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg erzählt von denen, die stundenlang warten, dass sie Arbeit bekommen, um wenigsten etwas zum Lebensunterhalt zu verdienen. Andere wurden durch überhöhte Abgabeforderungen in die Verschuldung getrieben. Ganze Familien wurden auseinander gerissen. Kinder waren auf sich gestellt, lebten auf der Straße, weil ihre Eltern Schuldsklaven wurden oder starben. Und oft wurden Kinder auch selbst Sklaven oder Sklavinnen, mussten sich prostituieren oder schwere Arbeit tun.

Diese Kinder sind es, derer sich die Leute im Dorf annehmen. Jesus soll sie berühren, ihnen Würde zurückgeben, heilen, was in ihnen zerbrochen ist. Die Leute aus dem Dorf haben hingeschaut und handeln. Die Jüngerinnen und Jünger schauen auch hin und handeln – aber ganz anders. Sie „herrschen sie an“, so steht es da. Ganz unverständlich, wo sie doch Jesu Wirken aus der Nähe kennen und erleben und auch wissen müssten, dass in der jüdischen Tradition Kinder ein Segen sind und ihnen selbst in der größten Not die Sorge gilt.

Aber so ist das wohl – nicht nur bei den Jüngerinnen und Jüngern, sondern auch bei uns. Es eigentlich besser wissen und doch anderes tun. Das, was im wahrsten Sinne des Wortes notwendig wäre, nicht sehen. Da können wir an den Jüngerinnen und Jüngern unser Verhalten schulen: Sie, die so Jesus so nahe sind und bestens über die Frohe Botschaft Bescheid wissen, auch sie verlieren manchmal den Blick für das Wesentliche. Vielleicht wollten sie Jesus schützen, ihm einen Moment der Ruhe verschaffen zwischen den Diskussionen mit den Menschen vor Ort. Vielleicht war ihnen auch selbst alles zu viel, vielleicht hatten sie in diesem Moment keine Kraft mehr hinzusehen, die Kinder wahrzunehmen, die der Berührung durch Jesus so bedürftig waren. Deshalb sind wir aufeinander angewiesen – weil uns manchmal der Blick verstellt ist, ist es gut, dass es andere gibt, wie hier die Leute aus dem Dorf, die hinsehen und aktiv werden und die uns selber auch wieder den Blick weit machen.

Lasst die Kinder zu mir kommen und hindert sie nicht daran, denn sie gehören zu Gottes Reich! – Die Kinder sind bei Jesus gewesen. Sie sind zu ihm gekommen mit dem, was heilen sollte. Er hat sie berührt. Wie ist es mit ihnen weitergegangen? Das Kinderevangelium sagt uns darüber nichts. Aber vielleicht ist durch die Berührung Jesu etwas in Bewegung gekommen, was auch das Leben der Kinder weiter berührt. Jesus wendet sich den Kindern zu, übersieht sie nicht. Er stellt sie in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit, und damit rückt er sie auch ins Blickfeld all derer, die da stehen und Antworten für ihr Leben von ihm erwarten. Schon da wird etwas von der heilmachenden Botschaft Gottes deutlich: Menschen werden in ihrem Schicksal sichtbar gemacht, die, bei denen wir wegsehen, weil wir ihre Situa­tion nicht ertragen, keine Lösungen für ihr Schicksal haben, stehen hier im Mittelpunkt – als geliebte Kinder Gottes.

Und die Umstehenden – lassen sie sich auch berühren? Ich stelle mir die Jünger und Jüngerinnen vor, die auf einmal merken, was sie da taten, als sie die Kinder wegschicken wollten. Vielleicht erkennen sie hier ein weiteres Mal, wie umfassend Jesus unsere gewohnten Lebenseinstellungen infrage stellt und Neues aufbricht. Und die anderen? Da sind ja die Leute, die die Kinder zu Jesus gebracht haben. Vielleicht schaffen sie es alleine nicht, für die mit zu sorgen, die keine Eltern mehr haben. Aber mit denen, die da standen? Vielleicht bildet sich da eine Gemeinschaft, die es schafft, das, was sie zum Leben haben an Essen und Trinken, aber auch an Wärme und Zuneigung, zu teilen. Und vielleicht entsteht so ein Zuhause für die, die keines mehr haben.

Der Text lässt all das offen. Aber eigentlich kann es doch gar nicht anders sein. Und so werden wir eingeladen, selbst Bilder für das Geschehene zu finden. Und diese Bilder wirken auch in unsere Gegenwart, werden Hoffnungsbilder, können unser Handeln bestimmen. So kann es sein, wenn wir ernst machen mit Gottes Liebe, so kann es werden, wenn wir hinschauen, uns berühren lassen.

Nur wer Gottes Reich wie ein Kind auf­nimmt, wird dorthin gelangen. – Es geht nicht darum, zu werden wie die Kinder, um Gott nahe zu sein. Es geht darum, Gott anzunehmen wie eines dieser Kinder, die Jesus berührte. In seinem Handeln und seinen Worten an die Umstehenden zeigt Jesus uns das, zu dem uns die Jahreslosung für das vor uns liegende Jahr einlädt: „Nehmet einander an wie Christus uns angenommen hat zu Gottes Lob.“

Gott lässt sich in denen finden, die klein und schutzlos sind, denen das Nötigste zum Leben fehlt. Gott will sich in denen finden lassen, denen Recht geschaffen werden muss, die nicht wahrgenommen werden. Gott lässt sich im Kleinen, Unscheinbaren finden, um es in unser Blickfeld zu holen, damit es Bedeutung für uns und unser Handeln gewinnt.

Einander annehmen, wie Christus uns angenommen hat, damit geben wir Gott Raum in unseren Leben, loben wir Gott, weil wir zeigen, woran wir glauben, was unser Miteinander bestimmen soll. Die eigene Bedürftigkeit genauso wahrnehmen wie die der anderen. Uns berühren lassen und anderen zu dieser Berührung verhelfen. Einen Blick haben, der hinter die Kulissen sieht und sich mit Vordergründigem nicht zufrieden gibt. Und die Hoffnung nicht aufgeben auf die Gerechtigkeit, die wieder ins Lot bringt, was wir aus dem Gleichgewicht gebracht haben. – Wege, die uns das Kinderevangelium zeigt, Wege, einander anzunehmen, wie Christus uns angenommen hat, Gott zum Lob.

Segen:
Gott segne deinen Blick, deine Offenheit und deine Mit-Leidenschaft.
Gott segne deine Schultern und gebe dir Kraft für das, was du dir vornimmst.
Gott stärke deinen Rücken, dass du für deine Hoffnungen einstehen kannst.
Gott segne deine Hände, dass du annehmen und loslassen kannst.
Gott segne dein Herz, es schlage für die Gerechtigkeit und die Liebe.
Gott stehe dir zur Seite wie Freunde und Freundinnen, die dich lieben und begleiten.
Gott segne dein Leben und deine Leidenschaft. Amen.

nach einem Segen von Karin Böhmer und Herta Leistner in: Fernstudium Feminstische Theologie, Studienbrief Spiritualität, S. 149 und (leicht verändert) in: INTA Nr. 1 (2014), S. 24


Lied: Kind, du bist uns anvertraut (EG 596)


Susanne Paul, geb. 1962, ist Pastorin in Ehlershausen. Sie engagiert sich u.a. im Netzwerk Kirchenfrauen in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers und im Konvent evangelischer Theologinnen und hat in den Feministisch-theologischen Basisfakultäten auf den Kirchentagen in Hannover, Köln und Bremen mitgearbeitet.

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