Ausgabe 1 / 2013 Artikel von Birgit Reiche

Leben und volle Genüge für alle

Diakonie und Mission in der evangelischen Frauen(hilfe)arbeit

Von Birgit Reiche


„Die Zuwendung Gottes zu den Menschen wirkt als Befreiungs- und Heilungsge-schehen in die Lebenswirklichkeit von Frauen hinein.“(1) Das steht für die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen im Zentrum des Glaubens. Sie weiß sich darum beauftragt, diese wahrlich froh machende Botschaft in ihrer diakonischen Arbeit erfahrbar zu machen.

Die Grünen Damen besuchen aus ihrer christlichen Überzeugung heraus Menschen im Krankenhaus und im Altenheim. Von der Evangelischen Familienbildung ausgebildete Seniorinnen und Senioren bieten Vorlesestunden in der Kita an. Zwei Mitglieder der Frauenhilfe trauen sich aufgrund ihrer Ausbildung bei der Telefonseelsorge zu, in ihrer Kirchengemeinde ein monatliches Trauercafé anzubieten. Evangelische Frauenverbände sind mit einem hohen finanziellen Eigenanteil Trägerinnen von Mütterkurheimen, Frauenhäusern, Beratungsstellen für Opfer von Menschenhandel und Familienbildungsstätten. – Ist das nun Mission oder Diakonie? Oder beides zugleich?

Das Wort „Mission“ lässt ruft bei vielen Menschen negative Bilder hervor. Häufig wird Mission in den Zusammenhang mit Kolonisation und Unterdrückung gestellt – waren es doch christliche Missionarinnen und Missionare, die den Menschen in Afrika, Amerika und Asien ihre eigene Identität genommen haben. Mission, so der für viele nahe liegende Verdacht, kann anderen Glauben und andere Weltanschauungen nicht stehen lassen. Wer missioniert, hat den Anspruch, allein die Wahrheit zu besitzen.

Mission: Gott sendet sich selbst
Für solche Bilder gibt es angesichts der Missionsgeschichte und der Praxis einiger heute aktiver missionierender Kirchen durchaus Anhaltspunkte in der Realität. Innerhalb der ökumenischen Bewegung ist der Begriff Mission in den letzten sechzig Jahren aber ganz anders gefüllt worden. Mission ist demnach nicht das Werk der Kirche, sondern das Werk Gottes, missio dei: Gott selbst hat sich in Jesus Christus und dem Heiligen Geist in die Welt gesandt, in der missio dei kommt die Zuwendung Gottes zur Welt zum Ausdruck. Nicht die Kirche, sondern Gott selbst ist also das Subjekt der Mission. Das bedeutet aber gerade nicht, dass Christinnen und Christen mit der Mission nichts mehr zu tun hätten und auf das Wirken des Heiligen Geistes zur Ausbreitung des Evangeliums warten könnten.

Auf der 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, die vom 30. Oktober bis zum 8. November 2013 in der Republik Korea stattfinden wird, wird unter dem Titel „Gemeinsam für das Leben: Mission und Evangelisation in sich wandelnden Kontexten“ eine neue Missionserklärung vorgelegt werden, die schon vom Zentralausschuss verabschiedet wurde und im Internet veröffentlicht ist.(2)

Diese Missionserklärung führt auf 23 Seiten unter anderem aus, dass Sendung (missio) und Dienst (diakonia) zusammen gehören. Gleich zu Beginn heißt es dort: „Der dreieinige Gott lädt uns zur Teilnahme an seiner Leben spendenden Mission ein und schenkt uns die Kraft, Zeugnis von der Vision eines Lebens in Fülle für alle angesichts des neuen Himmels und der neuen Erde abzulegen.“(3)

Diakonie und Mission in Deutschland: eine gemeinsame Geschichte
Die diakonische Arbeit innerhalb der evangelischen Kirche hat ihre Wurzeln vielfach im 19. Jahrhundert. Die Verelendung großer Bevölkerungsgruppen zu Beginn der Industrialisierung veranlasste Christinnen und Christen dazu, initiativ zu werden und die „soziale Frage“ durch die Gründung von Hilfs-Werken und Hilfs-Vereinen anzugehen. Es entstanden Rettungshäuser für Kinder, Frauen und Obdachlose, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und Kindergärten, Gemeindeschwestern und Krankenhäuser. Sie alle waren zusammengeschlossen im 1849 gegründeten Central-Ausschuß der Inneren Mission, einer Vorläuferorganisation des Diakonischen Werkes. Denn neben der Eindämmung des Massenelends ging es den InitiatorInnen auch um eine Re-Christianisierung. Diakonie und Mission gehörten zu dieser Zeit eng und ungebrochen zusammen. Aus dieser Tradition heraus ist etwa die Arbeitsgemeinschaft Missionarischer Dienste entstanden, bis heute als Fachverband Mitglied im Diakonischen Werk der EKD.

Wurzeln der evangelischen Frauenverbände in der Inneren Mission
Die gleichen Motive führten Ende des 19. Jahrhunderts auch zur Gründung der evangelischen Frauenverbände, von denen die 1899 gegründete Evangelische Frauenhilfe die größten Mitgliederzahlen erreichte. Neben der häuslichen Pflege und der Pflegeausbildung war die „Rettung gefallener Mädchen und Frauen“, die Arbeit mit Prostituierten, straffälligen Frauen und ledigen Schwangeren, die in eine bürgerliche und damit christliche Existenz geführt werden sollten, ein wichtiges Thema der evangelischen Frauenverbände. Dies führte zur Gründung von Rettungshäusern, ländlichen Arbeiterinnenkolonien und Mitternachtsmissionen in Trägerschaft oder unter maßgeblicher Beteiligung dieser Verbände.

In einigen Landeskirchen gibt es die Evangelische Frauenhilfe bis heute als eigenständigen Verein, vielfach haben aber in den letzten Jahrzehnten umfangreiche Umstrukturierungs- und Fusionsprozesse stattgefunden. Gleichwohl ist die Verbindung von diakonischer und missionarischer Arbeit in den Strukturen der Frauenverbände bis heute vielfach verankert. Frauengruppen in den Kirchengemeinden unterstützen aus einer langen Tradition heraus die Missionswerke finanziell und beteiligen sich an Ökumene-Sonntagen. Der Weltgebetstag der Frauen öffnet den Blick für die eine gemeinsame Mission der christlichen Kirchen und für die Lebenssituation von Christinnen in aller Welt und dient mit seiner Projektarbeit der Diakonie an Frauen und Kindern weltweit. Die Bildungsarbeit der Frauenwerke und -verbände macht Frauen sprachfähig auch im Blick auf den eigenen Glauben, zum Beispiel durch das „Fernstudium Theologie feministisch“. Die theologische und spirituelle Arbeit hilft dabei, auch Frauen, die durch Ortsgemeinden nicht erreicht werden, eine Glaubensheimat zu geben. Die diakonische Prägung evangelischer Frauenarbeit drückt sich in der Trägerschaft von Einrichtungen der Altenhilfe, der Behindertenhilfe und der Kurarbeit ebenso aus wie in der Begleitung von ehrenamtlichen Frauen in ihrem diakonischen Engagement.

Auf Bundesebene sind aus dem Fusionsprozess die Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD) als Dachverband hervorgegangen, deren „missionarisches Erbe“ unter anderem in der Mitarbeit in der „Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen“ deutlich wird, die die Monatssprüche und Jahreslosungen und den ökumenischen Bibelleseplan herausgibt.

Mission und Diakonie der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen
Die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. ist heute ein Mitgliederverband, ein Trägerverein und eine zertifizierte Einrichtung der evangelischen Frauen- und Familienbildung. Sie tätigt die gemeindebezogene Frauenarbeit in Westfalen in Bindung an die Evangelische Kirche von Westfalen. Zum Mitgliederverband gehören 38 Bezirks-, Stadt- und Synodalverbände, in denen sich fast 70.000 Frauen in fast 1.300 Ortsgruppen zusammengeschlossen haben.

Neben Altenpflegeheimen und Einrichtungen der Behindertenhilfe unterhält die Ev. Frauenhilfe in Westfalen ein Frauenhaus, Nadeschda, eine Beratungsstelle für Opfer von Menschenhandel, und seit 2011 Theodora, eine Prostituierten- und Ausstiegsberatung für Mädchen und junge Frauen. Nicht zuletzt geschieht in den Frauenhilfegruppen in den Kirchengemeinden ehrenamtliche gemeindliche Diakonie in erheblichem Ausmaß.

„Fülle des Lebens, Gerechtigkeit und Teilhabe, ‚Das Leben und volle Genüge für alle' sind die Leitworte unserer Vision, die das theologische Nachdenken ebenso bestimmen, wie die Inhalte und Methoden unserer Ausbildungs- und Fortbildungsangebote sowie die Konzepte der sozialdiakonischen Arbeit. Unser sich von der Gemeinde her aufbauender Verband schafft gute Bedingungen zur Umsetzung gemeinsamer Ziele und Maßnahmen. Diakonie und Barmherzigkeit gehören zu uns, wie die theologisch gut begründete Vision von der Fülle des Lebens für alle Menschen; wie unser Glaube, dass ‚die Zuwendung Gottes zu den Menschen als Befreiungs- und Heilungsgeschehen in die Lebenswirklichkeit von Frauen hineinwirkt'. Auf dieser Grundlage und getragen von diesem Glauben sind wir in der Lage, diakonisch und ökumenisch, politisch und theologisch, pädagogisch und praktisch zu arbeiten.“ So stellt die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen sich in einer Image-Broschüre aus dem Jahr 2012 dar. Was bedeutet das konkret?

Theodora als Gottesgeschenk
Die Entstehung der Prostituierten- und Ausstiegsberatung Theodora und ihre Unterstützung durch die Mitglieder der Frauenhilfe ist ein gutes Beispiel für die Verbindung von Mission und Diakonie. Eine zunehmende Zahl junger Frauen, die in der ländlichen Region von Ostwestfalen-Lippe in der Prostitution arbeiteten, wandte sich mit der Bitte um Beratung und Unterstützung im Ausstieg aus der Prostitution an Nadeschda. Die Beratungsstelle ist seit 1997 in Trägerschaft der Frauenhilfe in dieser Region tätig. Die Refinanzierung dieser Beratungsstelle schränkt die Zielgruppe von Nadeschda allerdings auf Opfer von Menschenhandel ein. Um auf den Bedarf zu reagieren, entwickelte die Frauenhilfe eine Konzeption und eröffnete – nach der Bewilligung einer Projektförderung durch Aktion Mensch – die Beratungsstelle Theodora.

Gleichzeitig wurde innerhalb des Mitgliedsverbandes das Thema Prostitution auf unterschiedlichen Ebenen behandelt, um die Mitglieder für einen akzeptierenden Umgang mit Prostituierten zu sensibilisieren. Der Beratungsansatz, der bei den Ressourcen der Klientinnen ansetzt und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt, wird in schriftlichen Veröffentlichungen über die Arbeit von Theodora ebenso dargestellt wie in Vorträgen. Dabei ist ein Leitgedanke, die Klientinnen von Theodora nicht zu Opfern zu stilisieren, sondern ihre Kraft und ihren Mut sichtbar zu machen.

Zum Sonntag Judika 2012, dem Kollekten-Sonntag der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen, wurde den Mitgliedsgruppen ein Gottesdienst zum Thema Prostitution zur Verfügung gestellt, um die Arbeit der Beratungsstelle in der Landeskirche bekannt zu machen.(4) Viele Frauenhilfegruppen unterstützen die Arbeit von Theodora mit Kollekten und Spenden – und, nicht minder wichtig, können eine Übereinstimmung zwischen dieser diakonischen Arbeit ihres Vereins und ihrem christlichen Glauben formulieren.

Und das ist Mission?
In der Vergangenheit auch unseres eigenen Verbandes hätte die Mission in der Arbeit mit Prostituierten vor allem darin bestanden, sie davon zu überzeugen, dass sie in Sünde leben, und sie zur Umkehr zu bewegen. Heute können wir formulieren, dass wir gemeinsam mit den Klientinnen von Theodora, die häufig Christinnen aus den Ländern Mittel- und Osteuropas sind, von Gott gesandt sind.

Dazu noch einmal ein Ausschnitt aus der Missionserklärung des ÖRK: „Wir bekräftigen, dass Menschen in Situationen der Marginalisierung eine aktive Rolle in der Mission übernehmen und ihnen die prophetische Rolle zukommt, ein Leben in Fülle für alle zu fordern. Die Menschen am Rande der Gesellschaft sind die Hauptpartner in Gottes Mission. Marginalisierte, unterdrückte und leidende Menschen haben die besondere Gabe zu unterscheiden, was für sie in ihrem bedrohten Leben eine gute Nachricht oder aber eine schlechte Nachricht ist. In unserer Verpflichtung auf Gottes Leben spendende Mission müssen wir auf die Stimmen der Menschen an den Rändern der Gesellschaft hören, um zu erfahren, was dem Leben dient und was es zerstört. Wir müssen unsere Mission neu auf die Wege ausrichten, die die Marginalisierten heute selbst gehen. Gerechtigkeit, Solidarität und Inklusion sind zentrale Ausdrucksformen der Mission, die von den Rändern der Gesellschaft ausgeht.“(5)

Für die Arbeit in der Gruppe

Was hat Mission und Diakonie mit unserem Glauben zu tun?

Ziel
Die Teilnehmerinnen nehmen wahr, dass Mission und Diakonie konstitutiv zum christlichen Glauben und Leben gehören. Sie reflektieren kritisch eigene Klischees über Mission und Diakonie und werden sprachfähig darüber, wo sie selbst „Zeugnis von der Vision eines Lebens in Fülle für alle angesichts des neuen Himmels und der neuen Erde ablegen“.

Material
– 2 leere Plakate, Zettel, Stifte
– Kopien mit Abschnitten der ÖRK Missionserklärung

Ablauf
– Die Leiterin lädt dazu ein, sich mit dem inneren Zusammenhang von Mission und Diakonie zu beschäftigen.

– In der Mitte liegen 2 Plakate – eins mit MISSION, das andere mit DIAKONIE überschrieben; darunter ist jedes Plakat durch einen dicken Strich geteilt – über der linken Spalte steht ein dickes Minuszeichen, über der rechten ein Pluszeichen. Zudem werden ausreichend Zettel (ca. 5 pro Teilnehmerin) und Stifte verteilt.

Impuls: Wenn wir diese beiden Begriffe MISSION und DIAKONIE hören oder lesen, entstehen unweigerlich Bilder in unseren Köpfen – positive wie negative Assoziationen. Welche sind das bei Ihnen?

– Die Teilnehmerinnen besprechen in Murmelgruppen (3-4 TN), welche negativen und positiven Assoziationen zu den Begriffen „Mission“ und „Diakonie“ sie selbst haben (oder auch von anderen vom Hörensagen kennen) und notieren diese stichwortartig auf den Zetteln (pro Zettel nur ein Stichwort). – ca. 10 Minuten

– Anschließend werden im Plenum zunächst die negativen, dann die positiven Assoziationen zusammengetragen; die Zettel werden für alle sichtbar auf die entsprechenden Plakatspalten gelegt oder geklebt. – ca. 5 Minuten

– Nun bittet die Leiterin darum, ausgehend von den positiven Assoziationen erneut in den Murmelgruppen zu besprechen, wo die Teilnehmerinnen Mission und Diakonie positiv erlebt haben. – ca. 10 Minuten

– Anschließend werden die Ergebnisse wieder ins Plenum zurückgemeldet. – ca. 5 Minuten

– Dann werden einzelne Abschnitte der Missionserklärung an die Teilnehmerinnen verteilt (ein bis zwei pro Gruppe, z.B.: 24, 31, 34, 36, 37, 78, 107; Auswahl siehe S. 42/43 – Kopiervorlage für AbonnentInnen unter www.ahzw-online.de / Service zum
Herunterladen vorbereitet).

– Die Abschnitte werden in der Kleingruppe gemeinsam angeschaut. Leitfrage für das anschließende Gespräch: Wo sind wir – nach diesem Verständnis von Mission und Diakonie – selbst missionarisch und diakonisch tätig? – 30 Minuten

– Die Ergebnisse werden im Plenum gesammelt. Abschließend gibt es eine kurze Feed-back-Runde: Was nehme ich mit?

Vater unser

Segen
Gott, wir leben hier – segne uns.
Du schickst uns in die Welt – behüte uns,
du gibst uns Aufgaben – lass dein Angesicht über uns leuchten.
Wenn wir versagen – sei uns gnädig.
Wenn wir uns allein fühlen – erhebe dein Angesicht auf uns.
Schenke uns und der Welt Frieden. Amen

nach: EG Ausgabe Rheinland, Westfalen, Lippe,Nr. 993

Lied
Sonne der Gerechtigkeit (EG 262) oder Selig seid ihr (EG 666)

Birgit Reiche ist Theologin und Master in Diakoniemangement. Sie arbeitet als Verbandspfarrerin und Bildungsreferentin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V. und als Leiterin der Beratungsstellen Nadeschda und Theodora.

Anmerkungen:
1 Satzung der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen e.V., § 2
2 http://www.oikoumene.org/fileadmin/files/wcc-main/2012pdfs/TogetherTowardsLifeGEN07de_revised4-10-2012.pdf
3 ebd., S. 1
4 nachzulesen unter http://www.frauenhilfe-westfalen.de/pdf/2011-judika.pdf
5 Missionserklärung, Abschnitt 107, S. 22

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