Alle Ausgaben / 2008 Material von Gisela Brackert

Lebensspuren

Von Gisela Brackert


Die Bibel meiner Mutter gehört zu den wenigen Dingen, die ich aus dem bescheidenen Nachlass an mich genommen habe. Aus einem Impuls heraus. Sie hatte auf ihrem Nachttisch gelegen.

Als ich nach Jahren eher zufällig danach griff, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Da hatten uns die Eltern immer wieder gepredigt, dass man in Bücher nichts  hineinschreibt, dass auch Unterstreichungen ungehörig sind. Und nun das: Unterstreichungen ohne Zahl. Mit  Bleistift, Tinte, Kuli, Rotstift. Dazu Randbemerkungen, Einrahmungen, Daten, Namen, das Deckblatt vollgeschrieben mit Texten und Verweisen.

Der erste Eintrag stammt vom 20. März 1927. Die 14-Jährige hat einen Konfirmationsspruch notiert. Ein Wort aus dem Johannes-Evangelium: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, bringt viele Frucht.“ Später hatte die gleiche Hand mit Bleistift dazugefügt: „Denn ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Johannes 15,5).
Drei Jahre später, 1930, hat die Besitzerin der Taschenbibel, nunmehr 17jährig, einen weiteren Satz notiert. Kein Bibelwort und trotzdem ein Vermächtnis: „Sei Herr Deines  Willens und Knecht Deines Gewissens.“ – „Von Vater, als ich von daheim fortging“, steht mit Bleistift darunter.
Danach in dichter Folge: die Fundstellen des Trautextes, der Taufsprüche der vier Kinder, ihrer Konfirmationssprüche, des Grabspruches der Großmutter, zuletzt der Hinweis auf die Beerdigung meines Vaters, 28. November 1980: „Denn du lässt mich erfahren viele und große Angst und machst mich wieder lebendig und holst mich aus der Tiefe der Erde herauf“ (Psalm 71,20).

Ich bin betroffen. Angerührt. Und ich schäme mich ein bisschen. Denn niemand hat in dieser Chronik nachgetragen, was doch noch hineingehört: Den Grabspruch der Chronistin und lebenslangen Bibelleserin.

Ich schlug das Buch auf und fing an zu lesen.
Auch so kann die Bibel auf einen zukommen.


Gisela Brackert
Textauszüge des Zuspruchs:
„Lebensspuren in einem Buch“
aus:
„Gott ist eine Frau und sie wird älter“
88 Zusprüche
(c) Ulrike Helmer Verlag
Königstein/Taunus 2007

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