Alle Ausgaben / 2015 Artikel von Catrina E. Schneider

Leid mit aushalten

Trauernde brauchen Begegnung

Von Catrina E. Schneider

Begegnungen mit Menschen in Trauer sind eine Herausforderung. „Und, wie geht Ihnen?“ Eine solche Frage scheint sich im Kontakt mit Trauernden fast zu verbieten. Was kann ich sagen? Oder was soll ich besser lassen, um mein Gegenüber nicht in Verlegenheit zu bringen oder gar zum Weinen?

Mehr als die Hälfte der Deutschen gab in einer Untersuchung an, sie wüssten „eigentlich gar nicht“, wie sie jemanden trösten sollten, der gerade einen geliebten Menschen verloren habe; besonders groß ist die Unsicherheit bei den unter 40-Jährigen. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, keine Erfahrung mit „Sterben und Tod“ zu haben, da dies heutzutage fast nur in Krankenhäusern und Altenheimen stattfinde.

„Jeder weiß, dass er sterben muss, aber keiner glaubt es.“ (Mitch Albom) Dieser Satz macht eine grundsätzliche Spannung deutlich: Um den Tod als existentielle Gegebenheit des menschlichen Lebens zu wissen ist das eine, den Tod beim Sterben eines geliebten Menschen zu erfahren etwas ganz anderes. Rituale wie Trauerjahr und Trauerkleidung, die früher Sicherheit gaben und schwierige Übergänge gestalten halfen, sind selbst in christlichen Gemeinden nicht mehr selbstverständlich. Anfang des 19. Jh. war im Durchschnitt jede/r 14-Jährige schon einmal mit dem Tod in Berührung gekommen: in der Familie, in der Nachbarschaft, im Dorf. Heute sind wir häufig 40 Jahre und älter, wenn wir zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert werden; und dann sind es meist nahe Angehörige, deren Tod uns sehr berührt. Wo denn sollen Menschen „lernen“, wie man stirbt und trauert und tröstet und weiterlebt? Ich möchte Sie in einige Trauergeschichten mitnehmen.

Trauergeschichten

Wir hatten zu einer ­Gesprächsgruppe für Trauernde ins ­Gemeindehaus ein­geladen. Am ersten Abend kamen etwa 25 Menschen aller Altersgruppen, aus verschiedenen sozialen Umfeldern und Berufen. Eine Frau betrauerte den Tod ihres Mannes, der wenige Monate zuvor seinem langen Krebsleiden erlegen war. Sie fühlte sich so erschöpft und „bodenlos“, dass sie nicht wusste, wie sie den nächsten Tag bewältigen sollte. Sie vermisste ihren Mann und fühlte sich unendlich verlassen. Eine andere, Mitte 50, war mit einer Freundin gekommen, die sich große Sorgen um sie machte. Jahre zuvor war der jugendliche Sohn tödlich verunglückt, später der Ehemann. Sie hatte diese tragischen Verluste nicht bewältigen können und befand sich in einer tiefen Depression. Ein Mann passte so gar nicht ins Bild: Ende 20, Sonnenbrille, Sonnenstudio­bräune, vom Outfit her einer von der „coolen Sorte“. Er hatte erst vor einigen Wochen seine Frau verloren. Plötzlicher Herztod. Da stand er nun mit einem zweijährigen kleinen Sohn und musste einen Weg finden, Vatersein und Arbeit bei der Straßenmeisterei unter einen Hut zu bringen. Der Winter stand bevor, er musste dann oft mitten in der Nacht zum Schneeräumen aus dem Haus. Dann waren da zwei sehr junge befreundete Witwen. Ihre Männer waren während eines Ausflugs mit Freunden bei einem Autounfall ums Leben gekommen, bei dem noch drei weitere junge Männer aus demselben Dorf starben. Der ganze Ort stand unter Schock, zumal fast alle durch die vielen verwandtschaftlichen und sozialen Verbindungen persönlich betroffen waren.

All diesen Menschen war der Tod unmittelbar widerfahren. Intuitiv wussten sie, dass es niemals mehr so werden würde wie früher. Das Lebenshaus jeder und jedes einzelnen war zutiefst erschüttert, auf einmal gab es keine vorstellbare Zukunft mehr, die lebenswert erschienen wäre. Die Atmosphäre war geprägt von tiefem Schmerz, von Gefühlen der Ohnmacht und Bodenlosigkeit, der Verzweiflung und Angst – und zugleich von großem Respekt, zurückhaltender Anteilnahme, bewegenden Mitteilungen und von vielen Tränen. 15 TeilnehmerInnen blieben ein Jahr lang als Gruppe zusammen. Sie erzählten ­einander von ihrem Alltag, von dem, was schwer war und blieb, und von den kleinen Schritten, die sie Tag für Tag weiterleben ließen. Sie hörten einander zu, hielten die immer wieder auftauchende Untröstlichkeit mit aus. Sie erlaubten einander, ihre Gefühle auszudrücken – und das waren durchaus nicht nur Gefühle von Trauer im Sinne von traurig-sein, vermissen, sich sehnen, suchen. Mit der Zeit konnten sich auch Gefühle wie Wut, Neid, Schuld und Angst zeigen. Und das war sehr befreiend. Einige berichteten von zutiefst kränkenden Erfahrungen: wie Menschen die Straßenseite wechselten, wenn sie sie kommen sahen; wie andere ihnen auf dem Friedhof aus dem Weg gingen, und wie auch die Kontakte zu Nachbarn und Freundinnen weniger wurden. Es gibt viele Gründe, die solches Verhalten nachvollziehbar machen. Für die Betroffenen aber bedeutet es ­einen schweren sekundären Verlust, der manchen von ihnen dann „den Rest gibt“.

Wenn wir trauern

Trauer ist die emotionale Reaktion, mit der unser Organismus auf bedeutsame Verluste antwortet. Trauer als Ausdruck des Mangels ist das Pendant zum Grundgefühl der Freude als Ausdruck der Fülle. Trauer und Freude bilden unsere grundlegende Ausrichtung auf ein „Du“ ab. Die Trauer ist quasi der Preis für unsere Beziehungs-und Liebesfähigkeit. Daneben meint Trauer aber auch den Prozess, der notwendig ist, um den Verlust nach und nach in das eigene Leben zu integrieren und das erschütterte Selbst- und Weltbild an die veränderte Realität anzupassen, den Verstorbenen zum inneren Begleiter werden zu lassen. Trauer ist dabei als Weg der Heilung zu verstehen. Im Erleben und Ausdrücken der Trauer vollzieht sich nach und nach der Prozess der Bewältigung, der existentiell betroffene Menschen vor dem Zusammenbruch bewahrt. Wenn die Anpassung an ein Leben ohne den Verstorbenen gelingt, dann darf sich das Leben in all seiner Bandbreite weiter entfalten, wieder neu entfalten.

Trauern ist also normal, sinnvoll und notwendig. Und doch führt es Menschen aus der ihnen vertrauten Normalität heraus. „Du setzt dich zum Abendessen, und das Leben, das du kennst, hört auf!“ (Joan Didion) Die Nachricht vom Tod einer nahen Bezugsperson ­erreicht uns zunächst auf körperlicher Ebene und löst alle Reaktionen aus, die unser Organismus bereitstellt, wenn Gefahr droht. Unser Gehirn gibt Signale, die Auswirkungen auf Atmung, Herz-Kreislauf-System haben, die Pupillen erweitern sich, entzündungshemmende und aufmerksamkeitssteigernde Stoffe wie Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet. Wir reagieren im Stressmodus: Angriff, Flucht, Totstellen – die konkreten Reaktionen sind sehr un­terschiedlich. Auf der psychischen ­Ebene wird die Bedeutung der Verlustnachricht zunächst nicht ganz wahrgenommen: „Das kann doch nicht (wahr) sein!?“ Erst nach und nach lässt uns der Filter unseres Gehirns den ganzen Verlust erkennen und spüren. Oft brechen die Emotionen erst auf, wenn der erste Stress vorüber ist – wenn die Kondolenzbesuche enden und die anfängliche Schockstarre abfällt. Trauer wirkt auch auf die geistig-kognitiven Fähigkeiten. Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit und Konzentration sind beeinträchtigt, oft kreisen die Gedanken um den Tod und die Sorgen, die mit der neuen Situation verbunden sind. Dabei ist ein „Tod vor der Zeit“, wie bei einem Kind, ist ein plötzlicher oder ein gewaltsamer Tod schwieriger einzuordnen als etwa der Tod eines alten, vielleicht kranken Elternteils, den wir eher als „normal“ empfinden. Hier knüpfen auch die spirituellen Fragen an: Warum? Warum jetzt? Warum wir? Welcher Sinn soll darin liegen? Anklage, Hoffnungslosigkeit, Erschütterung von Glaubenssicherheiten, auch Wut auf Gott, das Schicksal, Zweifel an sich, an der Welt, an Gott.

Bedeutsam für das Trauern ist schließlich, dass wir in vielfältigen Beziehungen leben. Innerhalb unserer Familien, unserer Lebens- und Arbeitskontexte nehmen wir bestimmte Aufgaben und Rollen emotionaler wie lebenspraktischer Art wahr. Wer macht die Steuererklärung? Wer kümmert sich um den Einkauf? Wer denkt an den Geburtstag der Kollegin? Beim Verlust eines Familienglieds kann die gesamte Konstruktion aus dem Gleichgewicht geraten. Nicht nur, dass an dieser Stelle häufig alte Familienkonflikte aufbrechen; es müssen auch völlig neue Rolle übernommen oder erst neu gelernt werden. Menschen werden zu Witwern und Witwen, verwaisten Kindern, verwaisten Vätern und Müttern, zu Alleinerziehenden, zu Singles, zu Erwerbstätigen.

Was tröstet?

Das „Aufgabenmodell“ von Kerstin Lammer zeigt, wie wir Trauernde unterstützen können: den Tod begreifen helfen; Reaktionen Raum geben; Anerkennung des Verlusts äußern; Übergänge begleiten; Erinnerungen und Erzählen ermutigen; Risiken und Ressourcen einschätzen. Das zu wissen ist hilfreich – nicht nur für Menschen, die mit Trauernden professionell zu tun haben oder ihnen ehrenamtlich begegnen. 80 Prozent der trauernden Menschen finden irgendwann wieder zu sich und einem befriedigenden Leben „danach“ zurück. „Es wird alles wieder gut, aber nie mehr wie vorher!“ Wer das denken kann, kann den Verlust integrieren und diese Lebens­krise in ein inneres Wachstum überführen. Die verbleibenden
15-20 Prozent der Trauernden benötigen professionelle Unterstützung durch Beratung oder Psychotherapie. Das gilt vor allem dann, wenn mit dem Tod eine traumatisie­rende Situation wie Suizid, Gewalt oder Nichtauffindbarkeit der Leiche verbunden ist. In der „normalen“ Trauersitua­tion hilft alles, was Stabilität und Kontinuität bietet. Dazu gehören die Gespräche und Kontakte im Alltag ebenso wie praktische Hilfe oder die Erfahrung, nicht ausgegrenzt zu werden. Die „Untröstlichkeit“, die wir in der Begegnung mit Trauernden erleben können, mag uns zunächst als unüberwindliche Hürde erscheinen. Wenn wir sowieso nicht trösten können, bleibt ja nichts als Schweigen? Das Gegenteil ist der Fall! Es kann uns enorm entlasten zu wissen: Nichts und niemand kann diesen Verlust ungeschehen machen – und schon gar nicht das, was er für diese Trauernde, diesen Trauernden bedeutet. Trauernde erwarten darum gar nicht von uns, dass wir die Situation besser machen, anders machen, weniger schmerzhaft, weniger schlimm, weniger katastrophal. Aber um zu überleben, sind sie angewiesen auf Menschen, die es mit ihnen aushalten. Die etwas Stärke einbringen und ein wenig Halt geben können, weil sie nicht selbst im Mark getroffen sind. Die mit den Tränen, mit der Verwirrung und der Sorge, wie es weiter gehen soll, mit den Fragen nach Sinn und Unsinn, mit der Wut, mit dem sehnsüchtigen Schmerz mitschwin­gen – und doch, wie ein Baum, verwurzelt und standfest sind.

Trauer, Trost und Treue

Die althochdeutschen bzw. indogermanischen Wortstämme von Trauer, Trost und Treue gehören eng zusammen. Trauer: den Kopf senken, die Augen niederschlagen; Trost: zuverlässig, stark sein; Vertrag, Bündnis; Treue: Baum, Holz. Dass das auch für uns im Leben „verwurzelte“ Bündnispartner/innen nicht leicht ist, liegt auch daran, dass die Evolution uns durch die Spiegelneuronen in unseren Gehirnen in die Lage versetzt hat, mit andern Menschen mitzuempfinden. Es steckt also ein Stück Selbstschutz darin, der Trauer nicht zu nahe zu kommen. Sie könnte anstecken.

Und um im Bild vom Baum zu bleiben: Ein Wald schützt besser vor heftigen Stürmen als ein einzelner Baum. Als christliche Gemeinden haben wir darum die Aufgabe, trauernde Menschen zu begleiten, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen und Zuwendung, Mitgefühl und Hilfe zu geben. Dabei geht es nicht um eine schnelle Vertröstung, sondern zunächst um die Anerkennung des Verlusts – einschließlich der Erlaubnis, irre werden zu dürfen am Leben, am Schicksal, an Gott, an Gottes Plan und Güte und Gerechtigkeit. Da sein. Annehmen. Den Schmerz benennen und anerkennen, Halt geben, das Leid mit aushalten, sich zu- statt abwenden, nahe bleiben, ermutigen: darin liegt der Trost, den wir spenden können im Vertrauen darauf, dass Gott uns darin begleitet. Wir dürfen trauernden Menschen, wie wund auch immer sie sein mögen, vertrauen. Sie selbst spüren sehr gut, was sie im Moment brauchen und was nicht. Wir können sie fragen, dann hören oder merken wir, was hilfreich ist und passt – für uns und für die andere, den anderen!

Für die Arbeit in der Gruppe

Material
Tischgruppe oder Stuhlkreis mit Mitte (Kerze/Blumen o.ä.); Fotos, Postkarten oder Bildkartei (s. Literatur); Satzstreifen: „Man setzt sich zum Abendessen und das Leben, das man kennt, hört auf.“; Kopien: Was es heißt, einen anderen Menschen zu trösten (S. 48f)

Ablauf
-Begrüßung und Hinweis, dass das Thema Trauern/Trösten oft eigene Emotionen anspricht und dass die Erfahrungen damit willkommen sind.

– Die Leiterin verteilt die Satzstreifen (J. Didion) und lädt ein, sich kurz mit der Nachbarin, dem Nachbarn über die Aussage auszutauschen.

– kurzer Austausch in der Gruppe: Kennen die TN bei sich selbst oder anderen die Erfahrung von „Plötzlich und unerwartet ist nichts mehr wie vorher“? – Die Leiterin achtet darauf, dass die TN nicht zu sehr ins Detail gehen, sondern eher die Trauersituation benennen.

– Brainstorming: Welche Reaktionen (körperlich, psychisch, gedanklich, im Verhalten) haben die TN bei sich oder anderen wahrgenommen? – Die Leiterin achtet auf zeitliche und inhaltliche Begrenzung!

– Die Leiterin lädt ein, ein Bild auszuwählen, das für Trost steht; die TN erläutern die Auswahl ihres Bildes und werden ermutigt auszudrücken: „Wer oder was hat mir in einer Abschiedssituation geholfen? Wer oder was hat mir gut getan?“ – Hinweis: Diese Erfahrungen sind sehr individuell und dürfen ohne Wertung stehen bleiben! – Die Aussagen werden auf Flipchart gesammelt, evtl. dann noch eingeteilt: in den ersten Tagen, später, heute.

– Die Leiterin liest das Bibelwort: „Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten“ (Jes 66,13). Die TN werden eingeladen zu erzählen, wie sie als Kind getröstet wurden oder ihre Kinder getröstet haben. Die Leiterin fragt nach, was sie als vertröstend und was als tröstend erlebt haben.

– Die Leiterin teilt den Text von M. Leist aus; er wird abwechselnd von den TN vorgetragen. – Die TN wählen einen oder mehrere Trostzugänge aus, die ihnen besonders zusagen, ihren eigenen Fähigkeiten entsprechen.

Abschied:
Die Leiterin lädt zu einem Gebet ein. Die Teilnehmenden werden eingeladen zu spüren, wie gut es tut, einander an der Hand zu halten, Halt zu geben und zu empfangen und sprechen gemeinsam: „Wie eine Mutter tröstet, so will auch ich trösten und mich trösten lassen.“ Amen

Catrina E. Schneider ist kath. Theologin, Syste­mische Familientherapeutin / Supervisorin und Psychoonkologin. Sie bietet u.a. Fortbildungen für Mitarbeitende im Arbeitsfeld Trauerbegleitung an. – mehr unter www.catrina-schneider.com

Literaturhinweis
J. Didion: Das Jahr magischen Denkens, Berlin 2008
K. Lammer: Trauer verstehen: Formen, Erklärungen, Hilfen, Neukirchen-Vluyn 2004
P. Rechenberg-Winter, E. Fischinger: Kursbuch systemische Trauerbegleitung, Göttingen 2008
J. Kaufmann, C. Kreitmeir, M. Wagner: Ein Quell in unserer Wüste, Wegbegleitung in einem Trauerkreis, Würzburg 2000
C. Schneider, C. Welter: Alles hat seine Zeit, Fotografien und Gedichte zu Texten aus dem Buch Kohelet; Bezug unter www.bildfolge.de

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