„Unser Schwesterchen ist getürmt“, feixte mein mittlerer Bruder. „Alle wollen es, und sie macht's einfach.“ Er war vierzehn, und ich sah ihn nur am Wochenende, wenn er
aus dem Internat nach Hause kam.
Meine Mutter fuhr herum. „Geh sofort in dein Zimmer, wir sprechen uns noch!“, herrschte sie ihn an.
„Wir sprechen uns noch“, äffte mein Bruder sie nach und verschwand in seinem Zimmer. Meine Mutter schimpfte mit mir, und ich musste ihr versprechen, dass ich so etwas nie wieder tun würde.
„Bilde dir bloß nichts darauf ein!“, sagte mein jüngster Bruder, als wir abends im Bett lagen. „Ich bin schon abgehauen, da lagst du noch als Quark im Schaufenster.“
„Gar nicht.“
„Du hast doch überhaupt keine Ahnung.“
„Und du bist doof.“
„Schnauze.“
„Selber.“
Meine Mutter kam herein.
„Schluss jetzt“, sagte sie streng und zog die Vorhänge zu.
Sie kam an unser Bett, küsste uns, und wir sagten unseren Gutenachtspruch auf, jeder immer ein Wort.
Ab – jetzt – ist – Ruhe.
Dann machte sie das Licht aus und ging.
„Ab jetzt ist Ruhe“ ist der Roman über die Geschichte der Familie Brasch. Eine Geschichte, in der noch das Allerprivateste politisch ist und die politischen Entwicklungen seit Anfang des 20. Jahrhunderts das Privatleben der Familie bestimmen. Horst Brasch, Sohn einer jüdischen Mutter, wächst in Bayern katholisch auf, will Priester werden. 1939 mit einem jüdischen Kindertransport nach London gelangt, entwickelt Brasch sich dort zum begeisterten Kommunisten. In England begegnet er auch Gerda, Tochter jüdischer EmigrantInnen aus Wien. 1945 wird der erste Sohn des Paares geboren, Thomas Brasch. Gegen den Willen ihrer Familie folgt Gerda ihrem Mann nach Berlin, wo Horst sich bereits um den Aufbau des neuen Deutschlands kümmert. Bis zum stellvertretenden Minister für Kultur wird er es in der DDR bringen. Gerda bringt in 5-Jahres-Abständen zwei weitere Jungen, Klaus und Peter, und die Tochter Marion auf die Welt.
Marion liebt und bewundert ihre großen Brüder, kann ihnen aber nicht das Wasser reichen – das sieht sie, das sehen auch die Brüder so. Als Marion 14 ist, stirbt Gerda an Krebs. Die Brüder sind da schon in ihre eigenen Leben aufgebrochen. Thomas als Schriftsteller und später Regisseur, Klaus als Schauspieler, Peter ebenfalls als Schriftsteller. Alle drei geraten früher oder später mit dem Staatsapparat der DDR in Konflikt und so auch in unversöhnliche Auseinandersetzungen mit dem Vater. Im Grunde hält Marion – nicht mehr Kind aber auch noch nicht erwachsen – die Familie zusammen. Auch deshalb, weil sie nicht in die offene Auseinandersetzung geht, weder mit dem Vater noch mit den Brüdern. Noch mit über 20 fühlt sie sich unbedeutend. „Meine drei Brüder hatten schon so wichtige Dinge getan, als sie in meinem Alter waren. Sie hatten rebelliert, um ihre Träume ins Leben zu holen. Und ich? Keine Leidenschaft für nichts.“
1980, kurz vor seinem 30sten Geburtstag, stirbt Klaus an Alkohol und Tabletten; keines der Geschwister wird dem Vater je verzeihen, dass der, scheinbar ungerührt, tags darauf zu einer geplanten Auslandsreise aufbricht. Zur Versöhnung zwischen Vater und Söhnen kommt es nicht mehr, wohl aber zu vorsichtiger Wiederannäherung und beginnendem gegenseitigen Verständnis. Im Sommer 1989 stirbt Horst Brasch. Die drei noch übrigens Braschs erleben die politische Wende und die Zeit danach. 2001 sterben auch Thomas und Peter.
„Roman meiner fabelhaften Familie“ untertitelt Marion Brasch das eben erschienene Buch. Hohe Literatur ist das nicht, eigentlich noch nicht einmal ein richtiger Roman. Um den schreiben zu können, ist der zeitliche und innere Abstand der Autorin, inzwischen Radiojournalistin und -moderatorin des RBB und Mutter einer siebenjährigen Tochter, zu den dramatischen Ereignissen wohl auch nicht groß genug. Aber eine fabelhafte, wahrlich atemberaubende Geschichte erzählt sie. Die zieht eine sofort in ihren Bann, lässt sie bis zur letzten Seite nicht wieder los. Und auch, wenn Marion Brasch es an keiner Stelle so direkt sagt – dass dieses Kind, diese Jugendliche, diese junge Frau das alles überlebt hat, ist Beweis genug. Längst kann sie ihren Brüdern mehr als nur das Wasser reichen. pa
Ab jetzt ist Ruhe.
Roman meiner fabelhaften Familie
Frankfurt am Main
S.Fischer Verlag 2012
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum
Thema „Bauen“ ist Mitte April 2024
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