Ausgabe 2 / 2011 Material von Kerstin Decker

Lese-Tipp: Fünfzig. Was für eine Zahl.

Von Kerstin Decker


Es ist Frieden. Sie wird auch nicht mehr Menschen erschrecken, die es gut mit ihr meinen. War es wirklich nötig, dass George Grosz mit mühsam verborgener Fassungslosigkeit vor ihr stehen musste, weil er ihre mit Papier beklebten Pantoffeln bemerkt hatte? Doch was hätte sie tun sollen, es waren Löcher drin und sie besaß keine anderen.
Mit fünfzig Jahren sollte der Mensch sich vernünftige Pantoffeln kaufen können. Wie gut dieser Paul Cassirer das Datum getroffen hat, dabei ahnt er nicht, dass sie schon so alt ist. Eine Gesamtausgabe und eine Theateraufführung in ihrem fünfzigsten Jahr! Dass sie nicht mehr so jung wirkt, wie sie behauptet zu sein, weiß sie. Gut, dass sie nicht alles weiß. … Im nächsten Jahr wird Bertolt Brecht in seinem Arbeitsjournal vermerken: „Ende der Woche höre ich die Else Lasker-Schüler lesen, gute und schlechte Gedichte, übersteigert und ungesund, aber im einzelnen wunderschön. Die Frau ist alt und abgelebt, schlaff und unsympathisch.“
Fünfzig. Was für eine Zahl. Sie schreibt jetzt oft, seit zwei Jahren schon, einem blinden Schriftsteller. Den kann sie nicht erschrecken, der kann sie nicht sehen. Der kann nur hören, wie schön ihre Gedichte sind. Das ist gut, Seelen altern nicht im Gegensatz zu Gesichtern. Das ist ihr Realismus, ihre Wahrheit. Vielleicht macht ihr Sehendsein die meisten Menschen blind. … Ihm kann sie viel von sich sagen, wer ihr alles den Buckel raufrutschen kann und auch, dass sie einen Autounfall hatte. Ihm kann sie sagen: … Ich bin so müde, ich lege Theben bald in seine Schachtel und mach mir einen Laden auf. Ich bin so müde, das fassen Sie nicht. Wahrscheinlich war er irritiert von ihren Fortbewegungsangaben. Denn andererseits: nachts sauste ich wie ein Bumerang durch die Straßen, über die Plätze genau wie die hölzerne Mondsichelwaffe denn ich kam immer wieder zurück.

„Seelen altern nicht im Gegensatz zu Gesichtern.“ – Einer von einer ganzen Reihe, mal Zustimmung, mal Widerspruch anregender Blickwinkel auf das Altern, den diese Biografie der laut Gottfried Benn „größten Lyrikerin, die Deutschland je hatte“ eröffnet. „So exzellent und furios ist die Geschichte dieser Frau noch nicht beschrieben worden.“ (Neues Deutschland). Wohl wahr. Das Buch ist, wie es sich für eine DIchterInnen-Biografie gehört, selbst ein ganz feines Stück Literatur. Es macht Lust auf mehr. Mehr Else Lasker-Schüler und mehr Kerstin Decker.


aus:

Mein Herz –
Niemandem.
Das Leben der Else Lasker-Schüler
Berlin 2010
© Ullstein
Buchverlage GmbH 2009

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang