Alle Ausgaben / 2015 Material von Margot Papenheim

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Von Margot Papenheim

DER GESCHMACK VON BLAU
Gerade die Theologen wollten sich der Herausforderung durch eine blinde Ex-Kommilitonin (…) nicht gern aussetzen. Der Grund für diese Hemmung rutschte meinem alten Gemeindepfarrer heraus, der eigentlich nur einen Weihnachtsbesuch bei Omma machen wollte. Unvorbereitet und keineswegs freiwillig fand sich der arme Mann vor eine frisch erblindete Enkelin gestellt. (…) „Was soll man dazu sagen?“, fragte er, und ich hätte wetten können, dass er ein Kopfschütteln von der Omma zur Mutter zum Vater der Blinden schickte. Ihr selbst ins Gesicht zu schauen, hielt er nicht aus. Es war eine fast verzweifelte Ratlosigkeit, die ihn verstummen ließ. „Dazu kann man überhaupt nichts mehr sagen! Ich jedenfalls … weiß nichts zu sagen.“

Und schwieg.

Wahrscheinlich war es eine unendlich peinliche Situation für einen glanzvollen Kanzelredner wie ihn. (…) Wie dankbar ich dem Pfarrer für seine Weigerung war, irgendeinen erklärenden, beschwichtigenden, gar tröstlichen Kommentar abzugeben, ahnte der Mann nicht. Sein Verzicht darauf, seines Amtes zu walten, sich und mich an die Macht des Wortes zu erinnern und die Leere, die von meinem Anblick ausging, mit Vokabeln auszustopfen, war eines der glaubwürdigsten Zeichen der Solidarität, das ich je von einem professionellen Gottsucher erfahren hatte.

Was soll man auch dazu sagen? Das Schicksal hat es mit Susanne Krahe nicht gut gemeint. Hat ihr, wieder und wieder, Steine auf den Lebensweg gelegt. Jeder für sich dick genug, eine ins Stolpern, wenn nicht zu Fall zu bringen. 1959 wird die kleine Susanne in Unna geboren – mit einem Fuß ohne Ferse, immerhin „orthopädisch reparabel“. Elf Jahre später die Katastrophe: der anderthalb Jahre jüngere Bruder stirbt bei einem Autounfall. Gerade 18, erkrankt Susanne Krahe an Diabetes. Macht trotzdem ihr Abitur. Bricht – „neugierig, nicht gläubig“ – auf zur „professionellen Gottsuche“, zum Theologiestudium in Münster, macht ihr Examen. Kurz darauf, da ist sie gerade 30, der nächste Schlag. Susanne Krahe erblindet vollständig. Vor dem „Abschied aus meinem Leben als Augenmensch“ erlebt sie „die besten vier Wochen“ ihres Lebens. Eine Reise mit einer Freundin nach San Francisco und eine Autofahrt durch Amerika, auf der sie, die drohende Erblindung vor sich, „Farben speichern“ will und kann. Aber nicht die Erblindung allein hat ihr „Tempo für immer gewaltsam gedrosselt“; hinzu kommt eine dauerhafte Gehbehinderung, nachdem eine nicht rechtzeitig entdeckte Vereiterung in einem ihrer Oberschenkel den Streckmuskel des Beins zerstört hat. Wut und Verzweiflung und der Wunsch zu sterben packen sie. Sich selbst zu töten, dazu ist sie „zu feige“, schreibt sie. Und dass sie auch nicht an ein besseres Leben nach dem Tod glaubt. Und dann ist da die vitale, kämpferische Seite in ihr, „die sich durchaus auf Zukunft einrichtete“. Die Seite, die auch dann noch weiterkämpft, als sie kurz darauf „ans Dialysekreuz gehängt“ wird. Die sie schließlich zustimmen lässt, in die gleichzeitige Transplantation einer Niere und einer Bauchspeicheldrüse einzuwilligen. Die Seite in ihr, die sie und ihre „Adoptivorgane“, wie sie sie nennt, seitdem schon 25 Jahre weiter am Leben hält. Die sie 1991 ihr geliebtes „Paulusbuch“ fertigstellen und veröffent­lichen lässt, dann elf weitere. 2011 erscheint Susanne Krahes Autobiografie, jetzt, 2015 die zweite Auflage. Sie teilt mit ihren LeserInnen, was sie „weiß, seit ich nichts mehr sehe“. Man möchte ihrem alten Gemeindepfarrer zustimmen: „Dazu kann man überhaupt nichts mehr sagen.“ Und das ist gut so. Aber man kommt sehr ins Nachdenken. Auch, und das ist Susanne Krahe sicher recht, über das eigene Leben.

Susanne Krahe: Der Geschmack von Blau.
Neukirchen-Vluyn, 2. Auflage 2015, ISBN 978-3-7615-6232-1, 16,90 €


WORTFLUEGEL

Liebe Freundinnen und Freunde,

in letzter Zeit hat ein seltsames Innenleben begonnen. Je stärker die Schmerzen und die Angst in Bewegung sind, desto stärker schreibt es im Innern. Als schreibe es etwas ab, was gesagt werden will. Ein spöttischer Blick versagt es mir manchmal. Was habe ich schon zu sagen? Leid hat keine Buchstaben. Pubertär empfinde ich mich mit Mitte vierzig.

Gefühle in Worte umsetzen – dünnes Eis des schon Gesagten. Ich rieche den eigenen Angstschweiß, dusche, Zellenhygiene, spiele Frühstück, lass wie immer etwas übrig – für wen? Und dieser Rest spricht, wie viel Leben bleibt noch?

Der Rücken macht zurzeit nicht gut mit. Wundert mich eh, wie lange er das alles mitträgt. Nun war es auch die Kälte, die die Nerven strapazierte.

Ich werde wieder schreiben, so spricht die Seele. Die Seele, grüner Vogel. Je schlechter ich mich fühle, desto wahrer wird dieser Vogel. Es ist eindeutig ein Vogel. (…)

Mein Seelengewitter in der Nacht wurde vom Tag in seine Schranken gewiesen.

Wer wagt der Hoffnung zu widersprechen?

Das schreibt Benita Joswig am 20. Februar 2012. Knapp sieben Monate später, am 2. Oktober, stirbt sie. Zwei Jahre lang lässt sie einen Kreis von Freundinnen und Freunden durch Emails an ihrem Leben teilnehmen, das von ihrer Krebserkrankung tödlich bedroht ist. „Wer schreibt lebt“, sagt sie. Und also schreibt sie. Erzählt von kleinen alltäglichen Erlebnissen und großen Ängsten und unbeirrbarer Hoffnung. Von unerträglichen Schmerzen wie von Momenten reinen Glücks. Es ist im besten Sinne tief berührend, diesen Lebensweg bis zum Ende lesend mitzugehen – schon wissend, dass es nicht „gut“ ausgehen wird. Manchmal sogar kaum auszuhalten, selbst wenn man/frau die Theologin und Künstlerin nicht persönlich kannte. Zu lesen, dass, wie sehr Freundinnen und Freunde ein Leben und ein Sterben mitleben und mittragen können, ist tröstlich und ermutigend. Es ist gut, dass sie diese Erfahrung öffentlich gemacht haben.

Benita Joswig: Wortflügel. Briefe eines langen Abschieds.
Mit Zeichnungen von Benita Joswig und Barbara Bux,
hgg. von Bärbel Fünfsinn, Claudia Janssen, Teresa Roelcke,
Berlin (EB-Verlag) 2015, ISBN 978-3-86893-9, 19,80

DER UNERFUELLTE KINDERWUNSCH

Ungewollt kinderlos: Menschen, deren Lebenspläne davon über den Haufen geworfen werden, sind oft untröstlich. Der Sammelband macht eine große Palette auf: u.a. von frauengesundheitlichen über andrologische und rechtliche Fragen der Reproduktionsmedizin bis hin zu ethischen Perspektiven auf die Frage nach dem Herkunftsrecht des Kindes und Entscheidungsprozessen in der Familiengenese bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Dies ist kein „Lesebuch für Betroffene“. Aber eins, das auf den Schreibtisch aller gehört, deren Unterstützung in Beratungs- und auch seelsorglichen Gesprächen gefragt ist. Den Herausgeberinnen und AutorInnen ist dafür zu danken, dass sie auf der Höhe der Wissenschaft Auskunft und Orientierung geben, ohne den Zugang zu den hilfreichen Erkenntnissen durch unverständliches InsiderInnen-Deutsch zu verstellen. Schade nur, dass eine Perspektive nicht eigens erscheint: die Perspektive – und die Möglichkeiten der Unterstützung – derjenigen, die allen Möglichkeiten zum Trotz ungewollt kinderlos bleiben. Was dem Verdienst des Buches insgesamt aber keinen Abbruch tut.

Birgit Mayer-Lewis, Marina Rupp (Hgg.):
Der unerfüllte Kinderwunsch. Interdisziplinäre Perspektiven, Opladen Berlin Toronto (Verlag Barbara Budrich) 2015, ISBN 978-3-8474-0189-6, 243 Seiten, 29,90 €

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