Alle Ausgaben / 2008 Andacht von Hanne Finke

Lesen, essen, wiederkäuen

Andächtige Übung zu Psalm 25,1-7

Von Hanne Finke


Gottes Wort wurde erzählt und aufgeschrieben. Die Botschaft können wir lesen, vortragen, hören. Wie aber wird die Botschaft Gottes zum „Lebensmittel“ für uns?

In schweren Zeiten der Deportation durch Nebukadnezar fühlte sich Ezechiel, der aus einer priesterlichen Familie stammte, durch Gottes Geist zum Propheten für sein Volk berufen. Im hebräischen Testament der Bibel finden wir seine Vision so beschrieben: „Du aber, Mensch, höre, was ich zu dir sage! Sei nicht trotzig wie die trotzig Verschlossenen! Öffne deinen Mund und iss, was ich dir gebe! Ich schaute: Da – eine Hand streckte sich mir entgegen, und in ihr war eine Schriftrolle. … Sie (die Ewige) sprach zu mir: Mensch, was du da vor dir hast, iss! Iss diese Rolle, und dann geh, rede zum Haus Israel! Da  öffnete ich meinen Mund und sie gab mir diese Rolle zu essen und sagte zu mir: Mensch, gib deinem Bauch Nahrung und fülle deinen Magen mit dieser Rolle, die ich dir gebe! Da aß ich sie, und sie war in meinem Mund so süß wie Honig.“

(Ez 2,8.9, 3,1-3 nach der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache)

Der Text mutet seltsam an. Wie können wir uns diese eigentümlichen Verse  deuten? Gott redet sehr lange mit Ezechiel, bereitet ihn auf eine schwierige Zeit vor. Und um die zu bestehen, soll Ezechiel Gottes Wort buchstäblich essen. Gottes Wort „essen“? Die Schriftrolle – also das, was über die bisherigen Erfahrungen des Volkes mit Gott aufgeschrieben worden war – kann ja gelesen werden. Und beherzigt werden. Aber „Nahrung“ sein? Aber auch wenn es noch so unglaublich klingt, die Weisung der Ewigen an Ezechiel ist da ganz klar: „Iss!“


Gottes Wort verinnerlichen

Die Schriftrolle stärkt und gibt Mut, denn sie erinnert an Gottes Beziehung zu den Menschen, an Gottes Hilfe und Begleitung in existentiellen Nöten. Diese „Nahrung“ aber gibt nicht nur Kraft, sondern schmeckt obendrein noch süß, ist also auch Genuss. Ezechiel nimmt die Schriftrolle, nimmt damit die Worte der Schrift ins Innere seines Körpers, in seinen Leib. Die Schriftrolle soll in  seinem Inneren weiterwirken. So wird Gottes Weisung geradezu verinnerlicht! Die Schriftrolle kann ihm niemand nehmen. Ist sie damit nicht auch gewissermaßen sicher?

Die Ewige gibt Ezechiel den Auftrag, nach Verspeisen der Schriftrolle mit dem „Haus Israel“ zu reden. Es ist notwendig, den Menschen diese Nahrung zu bringen. Heute können wir die vielen Geschichten in der Bibel lesen. Gottes Wort lesen. Doch die Erfahrung ist, dass häufig eine merkwürdige Distanz zwischen dem gelesenen Text und mir bestehen bleibt. Wie können wir die Botschaft aufnehmen, wie „verinnerlichen“ wir die dort niedergeschriebenen Gedanken und Erfahrungen?
Wie kommt Gottes Wort in unseren Leib und in unser jetziges Dasein?

Versuchen wir es mit dem lauten Lesen – nicht im Gottesdienst, nein, für uns allein an einem stillen Ort. Wie fühlt sich die Bibelstelle, die wir gerade lesen, an? Wie „schmeckt“ sie? Wie verändern sich die Gedanken beim mehrmaligen Lesen, etwa auch mit unterschiedlicher Betonung und Lautstärke, langsam oder schnell gelesen? Wie klingen die Worte nach, wie klingen sie in uns?


Gottes Wort einverleiben

Nehmen wir Psalmen zu Hilfe und dazu den beeindruckenden Text „Psalmen essen“ von Dorothee Sölle. „Psalmen muss man essen“, sagt sie. Psalmen hören, lesen, beten, sprechen, singen – aber essen? Was hat sich Dorothee Sölle dabei gedacht? Für sie sind Psalmen Lebensmittel, das wichtigste Lebensmittel für Menschen überhaupt: Brot. Nicht von Ungefähr ist Brot ja auch das Symbol für spirituelle Nahrung. Das Psalmen-Brot, sagt sie, ist von Gott gebacken und ist durch die Jahrhunderte von unseren Glaubens-Vätern und -Müttern weitergegeben worden. Wenn wir Brot essen, werden wir satt. Und so, wie Brot unseren körperlichen Hunger stillt, können Psalmen unseren spirituellen Hunger stillen. Dorothee Sölle meint, dass wir krank werden, wenn wir dieses Brot der Psalmen nicht zu uns nehmen. Für uns Menschen heute sind, genauso wie für die Menschen damals, die Lebenserfahrungen von Ohnmacht oder Trauer, von Glück oder Friede und Stimmungen wie Trost und Zorn, Dankbarkeit und Freude, Verzweiflung und Ermutigung, die wir in den Psalmen finden, existenziell. Psalmen können helfen, das Leben mit seinen Höhen und Tiefen, seinen Zumutungen und Erlebnissen zu bewältigen.

Von einer über 90-jährigen pflegebedürftigen Frau wurde mir erzählt. Sie ist blind, lesen kann sie also nicht mehr. Aber sie betet Psalmen, so wie sie es einmal gelernt hat, immer wieder. Lebenshilfe am Ende eines langen Lebens. Welche Möglichkeiten haben wir? Dorothee Sölle legt uns ans Herz: „Esst Psalmen, jeden Tag einen.“  Psalmen, die Kraft geben, sind Lebensmittel, andere können wieder ausgespuckt werden. Dieses Brot des Lebens ist uns bereitet, wir können es kauen und uns stärken lassen. Probieren wir es doch öfter mal aus: Suchen wir uns einen Psalm – vielleicht sogar in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache mit ihren neuen, ungewohnten Worten? Und „kauen“ wir darauf herum. Ohne Eile, hin und her, wieder und wieder. Und schlucken wir erst, wenn unser Inneres dazu bereit ist.

Der Vorschlag D. Sölles bezieht sich konkret auf unsere Lebenspraxis, unseren Alltag. Somit steht er in einer langen Tradition religiöser Praxis, die Menschen Zeit ihres Lebens gesucht und ausgeübt haben. Im Christentum führt uns eine Spur zurück in die Zeit der Mönchsbewegung, etwa 3.-4. Jh. n. Chr.: Männer und Frauen zogen in die palästinensische, syrische und ägyptische Wüste, lebten dort und entwickelten ganz eigene Gebetsformen und Meditationspraktiken, die vermutlich auch durch andere Religionen – etwa Traditionen aus dem Judentum, Hinduismus, Buddhismus – beeinflusst wurden. Das christliche Mönchtum und Eremitenleben breitete sich später in viele Länder aus. In der Zurückgezogenheit, im Schweigen, im Frieden suchten diese Menschen die ganz besondere Ruhe, um mit Gott eins zu werden. Es wird angenommen, dass z.B. das inzwischen wieder bekannt gewordene Jesus- oder Herzensgebet, dass in der Ostkirche einst eine große Blütezeit erlebte, aus dieser frühen Mönchsbewegung stammt.

Und so können wir uns heute vorstellen, dass womöglich die Wüstenmütter und -väter vielleicht gerade den Psalm 1stark in ihr Leben einbezogen haben, in dem es heißt: „…sondern ihre Lust haben an der Weisung Gottes, diese Weisung murmeln Tag und Nacht.“(BigS) Die Weisung „murmeln“, das erinnert an das „Kauen“ der Psalmen, von dem Sölle spricht. Worte Gottes murmeln, immer wieder, um sie schließlich ganz bei sich zu haben und damit auch eins mit Gott zu sein. Mit Leib und Seele kann ich die Worte der Bibel in mich aufnehmen. Ich kann sie mir einver-Leib-en – so, wie Ezechiel einst die Schriftrolle gegessen hat.

Aus diesem Bewusstsein und in der  religiösen Praxis sind seit damals viele Gebets- und Meditationsformen entstanden. Denken wir an Übungen wie Meister Eckharts „Gott im Augenblick erfahren“, Franz von Assisis Sonnengesang, das „innere Beten“ der Teresa von Avila, Edith Steins „Leer- und Stille werden“ oder auch die spirituellen Angebote von Taizé. Die Mystikerin Mechthild von Hackeborn beschreibt eine Übung, in der die fünf Körpersinne auf Gott ausgerichtet werden sollen. In unserer Gegenwart ist ein Suchen nach tiefen religiösen Erfahrungen wieder entstanden: Wie und wo finden wir diese Erfahrungen? D. Sölle hat in ihrem Buch „Mystik und Widerstand“ davon gesprochen, dass in uns allen „mystische Empfindlichkeit“ steckt. Wir können diese Empfindlichkeit also getrost zulassen und wieder lernen, das Brot des Lebens zu kauen.


Gottes Wort wiederkäuen

Eine alte Übung, die wir für uns neu entdecken können, heißt „Ruminatio“. Ruminatio kommt aus dem Lateinischen und meint das Wiederkäuen der Nahrung, etwa durch Kühe. Die Menschen der Mönchsbewegung bezeichneten damit „das stete Wiederkäuen bestimmter heiliger Worte oder Sätze. Sie deuteten damit die reinen wiederkäuenden Tiere (vgl. Lev 11,3: ‚Alle Tiere, die gespaltene Klauen haben, Paarzeher sind und wiederkäuen, dürft ihr essen.') allegorisch auf Menschen, die das Wort Gottes beständig wiederkäuen.“1 Das stetige Wiederholen der Weisung Gottes könnte schon im alten Rabbinat eine Rolle gespielt haben. Aus vielen Religionen kennen wir solche „mantrischen Meditationen“, auch „Wiederholen eines Leitwortes“ genannt. Augustinus hat uns zum Ruminatio folgende Aussage hinterlassen: „Wer im Gesetz des Herrn Tag und Nacht meditiert, der kaut gleichsam wieder und wird gleichsam am Gaumen des Herzens vom Wohlgeschmack des Wortes erfreut.“(2)

Wie Augustinus würden wir die Erfahrung mit dem Ruminatio heute wohl nicht mehr ausdrücken, eher kommt uns der Text zum „Psalmen essen“ von D. Sölle entgegen. Entscheidend scheint mir jedoch die Praxis zu sein.

Daher lade ich ein, Ruminatio auszu probieren. Denn ich bin sicher, dass uns heute das Kauen, Murmeln, Wiederkäuen, Essen, Schmecken der Worte oder Sätze aus der Bibel viele Möglichkeiten bietet, spirituell nicht zu verhungern. Wir können mit Hilfe dieser Übung Kraft und Gelassenheit spüren, immer wieder neu. Nehmen wir Psalmen für den Ruminatio, bekommen wir Hilfe für unseren Schmerz, für Trauer und erlittenes Unrecht. Wir können unsere Freude und unseren Mut ausdrücken, wir  können Verzagtheit und Kranksein beklagen. Indem wir Worte der Bibel wiederkäuen, wird uns Gottes Da-Sein und Nähe leiblich spürbar. Und eine ganz besondere Nahrung könnte dann für uns die Vergewisserung sein, dass Gott für unsere Lebendigkeit sorgt.


Praxisvorschlag für eine Gruppe


Der folgende Vorschlag eignet sich für eine Gruppe von bis zu 20 TeilnehmerInnen. Der Raum sollte nicht zu klein sein – sehr schön wäre ein sakraler Raum bzw. eine Kirche, im Idealfall ein Kreuzgang eines Klosters. Bei passendem Gelände und entsprechender Wetterlage kann die Übung auch im Freien gemacht werden. Die Übung dauert ca. 30 Minuten, für den Andachtstext müsste zusätzlich Zeit eingeplant werden.


Vorbereitung:


– Für die Übung wird Psalm 25,1-7 (Übersetzung BigS; siehe unten) vorgeschlagen. Die einzelnen Verse werden kopiert und in Streifen geschnitten – etwa 3-fache Anzahl der Teilnehmenden, damit ausgewählt werden kann (für AbonnentInnen unter www.ahzw.de / Service zum Herunterladen vorbereitet).
– Die Zettel werden um eine gestaltete Mitte gelegt, im Raum verteilt oder im Altarbereich auf einem Tuch ausgebreitet, so dass die Verse gut gelesen und ausgewählt werden können.
– Vorschlag für eine Mitte, sofern der Raum dafür geeignet ist: violettes Tuch, Brot, Bibel, Kerze, Blumen


Durchführung:

– Die TN werden mit Hilfe des Textes oben an das Thema herangeführt.
– Anschließend suchen sie sich einen der Verse aus. Sie nehmen den Papierstreifen mit ihrem gewählten Vers an sich und gehen im Raum umher. Dabei sprechen, murmeln, „kauen“ sie ihren Text, so wie es für jede richtig ist. Gedacht ist dabei nicht an ein stilles, sondern an ein stimmhaftes Vor-Sich-Hersagen. (ca. 10-15 Minuten)
– Danach werden die TN eingeladen, in gemeinsamer Runde über die Erfahrungen und Gefühle sprechen, sofern sie möchten. Evtl. greift die Leiterin dabei auch noch einmal Aspekte des Andachtstextes auf. (ca. 10 – 15 Minuten)
– Abschließend wird der Psalm im Zusammenhang noch einmal vorgelesen. Mit einem Lied wird die Übung beschlossen.


Liedvorschläge:

aus: Singen von deiner Gerechtigkeit, Gütersloh 2005: Du bist da, wo Menschen leben (98); Nada te turbe (111); Ubi caritas (102) oder: Schalom chaverim (EG 434)


Psalm 25,1-7

Nach dir, Adonaj, strecke ich mein Leben aus.
Mein Gott, auf dich vertraue ich.
Lass mich nicht scheitern,
lass meine Feinde über mich nicht triumphieren.
Die auf dich hoffen, werden nicht scheitern.
Es scheitern, die die Treue brechen – für Nichts.
Deine Wege, Adonaj, lass mich  erkennen,
deine Pfade lass mich lernen.
Lass mich in deiner Verlässlichkeit gehen, belehre mich.
Du bist Gott, meine Befreiung. Auf dich hoffe ich jeden Tag.
Erinnere dich an deine Zuneigung, Adonaj, an deine Freundlichkeit.
Die waren immer schon da.
An die Verfehlungen meiner Jugend
und an meine Vergehen erinnere dich nicht.
Weil du freundlich bist, erinnere dich an mich, du!
Weil du gütig bist, Adonaj!

Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache

Hinweis, auch für die TN: Diese  Gruppenübung Ruminatio ist eher ein „Schnuppern“. Um die Methode für sich selbst nutzen zu können und Wirkung für Leib und Seele zu erfahren, ist das Üben zuhause für einen längeren Zeitraum angebracht. Dann kann auch jede probieren, wie und wann die Übung ihr gut tut, auch die Suche nach einem persönlich oder zur jeweiligen Situation passenden Psalm ist dann möglich.

Hanne Finke, 55 Jahre, ist Landesbeauftragte (ehrenamtlich) im Frauenwerk der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers. Die Diplom-Pädagogin hat neun Jahre als Erzieherin gearbeitet sowie zehn Jahre als kommunale Frauenbeauftragte. Heute ist sie in der kommunalen Sozialarbeit tätig. Hanne Finke ist  Mitglied der Arbeitsgruppe ahzw.


Anmerkungen

1 Richard Reschika: Praxis christlicher Mystik, Freiburg/Br 2007
2 ebd.

zum Weiterlesen

Dorothee Sölle, Luise Schottroff: Den Himmel erden, München 1996
Dorothee Sölle: Mystik und Widerstand, München 1999
Wolfgang Lenk: Meditation, Hannover 2007

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