Alle Ausgaben / 2005 Material von Heinz Schröter

Letzter Brief aus Stalingrad

Von Heinz Schröter


In Stalingrad die Frage nach Gott stellen, heißt sie verneinen. … Du bist Seelsorger, Vater, und man sagt in seinem letzten Brief nur das, was wahr ist oder von dem man glaubt, dass es wahr sein könnte. Ich habe Gott gesucht in jedem Trichter, in jedem zerstörten Haus, an jeder Ecke, bei jedem Kameraden, wenn ich in meinem Loch lag, und am Himmel. Gott zeigte sich nicht, wenn mein Herz nach ihm schrie. Die Häuser waren zerstört, die Kameraden so tapfer oder so feige wie ich, auf der Erde war Hunger und Mord, vom Himmel kamen Bomben und Feuer, nur Gott war nicht da. Nein, Vater, es gibt keinen Gott. Wieder schreibe ich es und weiß, dass es entsetzlich ist und von mir nicht wieder gutzumachen. Und wenn es doch einen Gott geben sollte, dann gib es ihn nur bei Euch, in den Gesangbüchern, den frommen Sprüchen der Priester und Pastöre, dem Läuten der Glocken und dem Duft des Weihrauches, aber in Stalingrad nicht.

Wenn ich heimkehre, wollte ich Dir die Wahrheit sagen, und dann hätten wir nie wieder vom Krieg gesprochen. Nun wirst Du die Wahrheit schon vorher erfahren, die letzte Wahrheit. Und nun kann ich nicht mehr schreiben.
Es wird immer Brücken geben, solange es Ufer gibt; wir sollten nur den Mut haben, diese Brücken zu betreten. Die eine Brücke geht jetzt zu Dir, die andere geht in die Ewigkeit, das ist für mich ganz zuletzt das gleiche.
Ich betrete morgen die letzte Brücke, das ist der literarische Ausdruck für den Tod, aber Du weißt, dass ich immer die Dinge gern umschrieb, aus Freude am Wort und am Klang. Reich mir Deine Hand, damit der Weg nicht so schwer wird. 


aus: Heinz Schröter (Hg.) Letzte Briefe aus Stalingrad
© Christa Schröter, Osnabrück

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