Ausgabe 2 / 2023 Artikel von Susanne Billig

Liebe! Liebe!

Eine buddhistische Perspektive

Von Susanne Billig

Im Christentum ist der Begriff der Liebe zentral. Wie sieht das eigentlich bei Buddhist*innen aus? Hört man von ihnen das Wort Liebe nicht sehr viel weniger? Welche Bedeutung hat die Liebe im Buddhismus? Auf die mir gestellte Frage möchte ich mit einer persönlichen Reflexion antworten. Denn „der“ Buddhismus ist ein sehr weites Feld mit einer mehr als 2500-jährigen Geschichte und sehr unterschiedlichen Ausprägungen quer durch die Zeiten und Kulturen.

Zunächst einmal: Ja, die Grundbeobachtung stimmt. Man hört das Wort Liebe in buddhistischen Kreisen durchaus, aber sicherlich sehr viel weniger als in christlichen. Warum ist das so? Sehnen wir uns, ganz unabhängig von der Religion, nicht alle danach, Liebe zu geben und zu empfangen? Ist die innige Zuwendung unserer Eltern nicht eine tiefe Prägung, die wir alle (hoffentlich) erfahren, wenn wir als hilflose Babys in diese Welt hineinwachsen, an der Liebe unserer Eltern empor? Empfinden wir als Erwachsene unsere menschlichen Beziehungen nicht alle dann als besonders wertvoll, wenn sie von Zuwendung, Zuhören, Entgegenkommen, Großzügigkeit, Ausdauer, Verzeihen, der Bereitschaft, immer wieder neu anzufangen, getragen sind – also von Liebe?

Religion ohne Gott

Ein Aspekt der Liebe, der im Christentum von Bedeutung ist, spielt für die meisten Buddhist*innen tatsächlich meist so gut wie keine Rolle: sich von absichtsvollen höheren Mächten geliebt und getragen zu fühlen. Oft sieht man zwar in buddhistischen Zentren und Tempeln Statuen und Bilder von „Bodhisattvas“, man könnte sie als mythische Heilige bezeichnen. Doch das sind Imaginationen und werden auch als solche gelehrt. Sie sich vorzustellen, kann helfen, in ihre Qualitäten hineinzuwachsen. Man zieht sich sozusagen wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Kraftlosigkeit und Unentschlossenheit in Richtung Liebesfähigkeit. Gottheiten irgendwo anders als im Herzen der imaginierenden Menschen sind die Bodhisattvas jedoch nicht.

Es ist erstaunlich, wie gut es sich ohne höhere Liebesmächte leben lässt. Offen gestanden frage ich mich selbst manchmal, etwa wenn ich einen christlichen Gottesdienst besuche, warum ich auf all das verzichte: die Liebe Gottes, der mich bei meinem Namen gerufen hat, und nun bin ich sein. Das Fallen nie tiefer als in ihre Hand. Das Geborgensein in ihrem Geheimnis. Mir geht, aus kindlicher Gewohnheit und aus Empfänglichkeit für Poesie, das Herz auf, wenn ich solche Beschreibungen höre, und ich gehe deshalb auch bisweilen gern in christliche Gottesdienste. Aber tatsächlich spielt der Glaube an solch ein liebevolles Beschützt- und Behütetsein in meinem Alltag keinerlei Rolle. Wenn es mir schlecht geht, hilft mir meine beste Freundin. Wenn ich traurig bin, weine ich die Kräfte der Resilienz herbei oder gehe in die Natur. Wenn körperliche Schmerzen mich quälen, suche ich einen Arzt oder eine Ärztin auf.

Bei Grübeleien und psychischen Schmerzen konsultiere ich kluge Bücher oder wiederum eine meiner Freundinnen oder erwäge therapeutische Unterstützung. Alles das in großer Dankbarkeit für die Liebe und Kompetenz meiner Mitmenschen und für die Erholungskräfte der Natur. Und wenn ich mir meiner Sterblichkeit und Vergänglichkeit bewusst werde, was durchaus wehtun kann, ziehe ich aus diesen Tatsachen des Lebens möglichst weise Schlüsse für meine Ausrichtung im Hier und Jetzt. Im Tod, so denke ich, werde ich zurückfallen in ein großes Ganzes. Das sagt mir schon naturwissenschaftliche Beobachtung: Mindestens ein Regenwürmchen setzt meine Geschichte fort; es gibt, wie ich einmal in einem Text von ihr erfreut gelesen habe, eine ähnliche Überlegung von Dorothee Sölle. Was nach dem Tod aus meinem Ich wird, ist für mich keine bange Frage, sondern einfach nur eine offene, weil meine Erkenntnisfähigkeiten nicht ausreichen, um darüber etwas Qualifiziertes sagen zu können. Ich spekuliere ein bisschen über die Einheit von Materie und Geist und weiß, dass ich spekuliere. Damit kann ich gut leben.

Viel positives Verhältnis zur Liebe

Doch die Liebe hat weitere Aspekte. Gibt es im Buddhismus nicht Vorstellungen, die dem christlichen Liebesgebot, ohne dessen theistische Färbung, doch sehr nahekommen und sich vielleicht nur in andere Worte kleiden? Immerhin empfiehlt der Buddhismus die meditative Erkundung und handelnde Ausübung von Mitgefühl (karuna), liebender Güte (metta) und Mitfreude (mudita). Er empfiehlt, in der buddhistischen Lebensführung davon motiviert zu sein, das Leiden aller Wesen zu verringern und ihr Glück vermehren zu helfen. Oben war schon die Rede von den großen Bodhisattvas, jenen quasi übernatürlich begabten Helfer*innengestalten, die längst erleuchtet sind und sich doch dazu entschieden haben, wieder und wieder in den Kreislauf des Lebens und Leidens geboren zu werden, um andere mit ihren Wunderkräften zu unterstützen. Mit extragroßen Ohren lauschen sie den leidenden Wesen, und mit tausend Händen strecken sie sich ihnen helfend entgegen. Überall in der Welt verehren Buddhist*innen solche Figuren und eifern ihnen nach.

Der Buddhismus kennt also ausgesprochen viel positives Verhältnis zur Liebe! Er hat aber auch – und macht in seiner Haltung zur Liebe da keine Ausnahme – eine zutiefst skeptische Seite. Es gibt eine Skepsis gegenüber Gefühlen aller Art, auch wenn sie mit den Etiketten „natürlich“, „sozial erwünscht“, „religiös geboten“ oder „aufgeklärt und modern“ ausgezeichnet sind. Die wichtigste buddhistische Praxis, und das gilt für fast alle Strömungen, die sich in der Geschichte des Buddhismus herausgebildet haben, besteht darin, sich selbst gründlich zu beobachten. Was spüre ich? Was fühle ich? Was denke ich? Was spreche ich? Wie handle ich? Diese Selbstbeobachtung hat keinen normativen Charakter, ausdrücklich nicht. Es geht zunächst überhaupt nicht darum, besser oder anders zu fühlen und zu denken. Es geht darum, sich selbst freundlich, aber beharrlich und vor allem ehrlich kennenzulernen. Was hat das mit der Liebe zu tun, und warum ist es wichtig?

Friktionen zwischen Sollen und Sein

Gefühle und Weltanschauungen, die bestimmte Gefühlsbeteiligungen einfordern, sind komplizierte Angelegenheiten. Da gibt es, wie oben schon angedeutet, viele Ebenen und Schichten. Es gibt per Instinkt und Natur in uns eingesenkte Grundbefindlichkeiten wie Angst und soziale Aggression, sexuelle Bedürfnisse und solche nach Zugehörigkeit und Bindung. Es gibt Schichten, die unsere sozialen Prägungen und Konventionen hinzufügen, die Dos and Don‘ts unserer zwischenmenschlichen und ideologischen Umwelten. Dazu kommen individuelle Erfahrungen, kondensiert in Glaubenssätzen, die sich quer durch unsere Ich- und Weltwahrnehmung ziehen.

Die romantische Rede über die Liebe, auch die religiös-romantische, legt sich über diese vielen Schichten häufig keine genaue Rechenschaft ab, sondern sie wünscht und ersehnt und postuliert und weiß aus den Schriften und hängt den Himmel voller Geigen und kennt meist auch eine Menge Imperative. Das macht die Liebe äußerst komplex und erzeugt Friktionen zwischen dem, was sich an Haltungen und Empfindungen in uns tatsächlich abspielen mag, und dem, von dem wir behaupten oder meinen, dass es sich in uns abspielen würde, weil es das sollte. Für diese Friktionen interessiert sich aus gutem Grund die Psychologie, und schon lange tut das auch die buddhistische Erkundung des Geistes – oder des Herzgeistes, wie einige asiatische Sprachen psychologienah formulieren. Beide wissen, dass Menschen zu leiden beginnen, wenn Anspruch und Wirklichkeit zu stark auseinanderklaffen.

Wer viel meditiert und die Selbsterkundung ernstnimmt, wird all der Schichten, die das eigene Innenleben ausmachen, nach und nach gewahr werden. Das wird mit Desillusionierungen einhergehen. Ja, es wird ozeanische Höhenflüge in der Meditation und im buddhistischen Alltag geben. Und es wird Zeiten geben, in denen da nicht mehr viel zu sein scheint an Liebe und Liebesfähigkeit, an Metta und Karuna und Mudita. Der religiöse Impetus wird vorübergehend flöten gehen, und wohlwollende Grundannahmen über die vorteilhaften, karitativen Bereitschaften des eigenen Charakters werden sich in Luft auflösen, wenn man erst einmal merkt, wie viel Missgunst und Neid und Kleinlichkeit und Selbstverachtung und Hinunterblicken auf andere und anhaltende Bitterkeit über erlebtes Unrecht sich im Herzgeist auch so tummeln.

Das ist die Lage dessen, was wir unser Ich nennen. So sieht es aus. Kein Grund für Selbstverachtung. Aber auch kein Grund, nicht weiter ehrlich hinzusehen.

In die Welt hinaus

Mit diesem Wissen und der ständigen Erfahrung der Selbstbeobachtung gehen Buddhist*innen in die Welt hinaus und werden tätig auf den Gebieten, die das Christentum als Diakonie bezeichnet. Sie bauen Hospize und stehen Sterbenden bei. Sie gehen in Gefängnisse und meditieren mit Straftäter*innen. Sie begeben sich auf Friedensmärsche und vermitteln in Konflikten. Sie versöhnen sich in ihren Familien und pflegen kranke Angehörige. Sie sammeln Geld und bringen es Flutopfern und Mädchenschulen und medizinischen Einrichtungen in den global benachteiligten Ländern. Sie engagieren sich ehrenamtlich in ihren Gemeinschaften, für Kinder und Jugendliche, für Menschen mit Fragen und Sorgen, für Tiere und Natur, für die menschliche und spirituelle Weiterbildung aller.

Und sie meditieren immer weiter und bleiben vorsichtig. Die Liebe blüht ja nicht auf, wenn sie religiös diktiert wird. Das Gegenteil ist der Fall und führt zu den bekannten Schattenseiten: Bigotterie, Doppelmoral, Missbrauch, Frauenfeindlichkeit und orthodoxes Erstarren. Skepsis und Vorsichtigkeit helfen, solche Hindernisse schon von weitem gut zu erkennen – unter anderem und in erster Linie in sich selbst. Und die Orte, an denen leider auch der Buddhismus in Missbrauch abgeglitten ist, sind immer auch die Orte, an denen Glaubensideale und -dogmen die Realität besonders stark überwuchern.

Jenseits der Trennungen

Buddhistisch betrachtet steht die ganze Konstruktion unseres Ichs, egal ob es liebt oder etwas anderes tut und fühlt, ohnehin auf tönernen Füßen. Nur eines wolle er lehren, hat der Buddha betont: Befreiung. Gemeint ist die Befreiung von der Illusion des Ich-Seins. Auf dem Weg zu dieser Befreiung ist Selbsterhöhung ebenso wenig hilfreich wie Selbsterniedrigung. Hilfreich ist allein die freundliche und optimistische Dekonstruktion der Ich-Illusion. Deshalb ist die Liebe, mit der sich Buddhist*innen ihrer Mitwelt und sich selbst zuwenden, immer auch Teil eines Übungsweges. Je weniger Ich sich aufbläht, so denken und erfahren sie, umso mehr Raum gibt es, andere in ihrer Art und Weise und ihren Bedürfnissen wirklich wahrzunehmen. Und damit Ich sich nicht aufbläht, ist ausdauernde und ehrliche Übung nötig, nicht zuletzt auch durch die Hinwendung an andere.

Wer diesem Ansatz unterstellt, wie ich es einige Male im interreligiösen Kontext gehört und gelesen habe, die Liebe als Übungsweg sei eine unreine und egozentrische Art zu lieben, weil es dabei ja „nur um die eigene Befreiung“ gehe, verkennt, wie eng Ich-Erweiterung und Raum-für-andere zusammengehören, obwohl das eigentlich zur Alltagserfahrung aller Menschen gehört. Das Ich zu erweitern und durchlässig zu machen, um es schließlich ganz als Illusion zu durchschauen und vielleicht sogar beiseitezulegen, wird im Buddhismus nicht moralisch gefordert, sondern als Weg gelehrt. Den nicht-normativen Charakter des Buddhismus zu betonen, ist im interreligiösen Dialog sehr wichtig, sonst lässt sich seine Form der Spiritualität weder vermitteln noch verstehen. Immer wieder auch zu scheitern und daraus zu lernen, gehört ausdrücklich zum buddhistischen Weg. Nicht, weil die buddhistische Lehre verständnisvoll sein möchte; das möchte sie auch. Vor allem aber möchte sie, dass das Ich scheitert. Auch das Ich, das meint zu lieben. Jede Form der Ich-Illusion.

Wie also ließe sich die buddhistische Perspektive auf die Liebe beschreiben? Vielleicht so: Was alles das wirklich bedeutet – Verbundensein, Großzügigkeit, Herzlichkeit, Nähe, Füreinander – enthüllt sich jenseits der Trennungen von oben, unten, ich, du, er, sie, es. Dahin geht die Reise. Bleiben wir auf dem Weg.

Susanne Billig ist Biologin, Buchautorin, Rundfunkjournalistin (Wissenschaft, Gesellschaft) und Sachbuchkritikerin. Sie ist seit 1988 in Praxis und Theorie mit dem Buddhismus und dem interreligiösen Dialog befasst, Kuratoriumsmitglied der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg und Chefredakteurin der vierteljährlichen traditionsübergreifenden Zeitschrift „BUDDHISMUS aktuell“. – www.buddhismus-aktuell.de

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Die Anrufung des Avalokiteshvara

Wir rufen deinen Namen, Avalokiteshvara / denn wir haben die feste Absicht, / deine Art des Zuhörens zu erlernen, / um das Leiden in der / Welt lindern zu helfen. / Du weißt, wie man zuhört, um zu verstehen. / Wir rufen deinen Namen, um mit offenem Herzen und unserer ganzen Aufmerksamkeit das Zuhören zu üben. / Wir werden dasitzen und zuhören, ohne voreingenommen zu sein. / Wir werden dasitzen und zuhören, / ohne zu verurteilen oder zu beeinflussen. / Wir werden dasitzen und zuhören, um zu verstehen. / Wir werden dasitzen und so aufmerksam zuhören, / dass wir wirklich wahrnehmen können, / was die andere Person sagt, / und auch, was sie nicht sagt. / Wir haben erfahren, dass unser tiefes Zuhören / viel Schmerz und Leid im anderen Menschen lindern kann.

Avalokiteshvara bedeutet wörtlich „der Herr, der (die Welt) betrachtet“. Ursprünglich wurde Avalokiteshvara nicht als Herrscher verstanden und der Name lautete Avalokitasvara, „Wahrnehmer der Klänge“. In China, Vietnam und Japan sind auch weibliche Darstellungen als Guanyin, Quan-am und Kannon sehr populär.

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