Ausgabe 1 / 2010 Frauen in Bewegung von Ulrike Helwerth

Lilo Wollny und der Atom-Widerstand im Wendland

Ich bin ein anderer Mensch geworden

Von Ulrike Helwerth

Die Elbe hat in ihrem Unterlauf eine wunderbare Auenlandschaft geschaffen. Mitten in diesem Naturparadies liegt auf niedersächsischer Seite des Flusses bei Kilometer 492 ein kleines Dorf. Niemand kannte seinen Namen, bis es im Februar 1977 über Nacht in die Schlagzeilen geriet.

Gorleben. Chiffre für den Widerstand gegen Atomenergie, einen Widerstand, der beeindruckende Persönlichkeiten hervorgebracht gebracht hat. Frauen wie Lilo Wollny aus Vietze.

Seit fast 65 Jahren lebt sie in diesem kleinen Wendland-Dorf in einem Fachwerkhaus, das einst ihren Großeltern gehörte. Sie betrieben hier eine Bäckerei. In den Ferien fuhr die Enkelin zu Oma und Opa. „Das war mein Paradies“, sagt Lilo Wollny, Jahrgang 1926, geboren und aufgewachsen in Hamburg. Ihre Eltern, kleine Ladenbesitzer, waren Sozialdemokraten. Lilo besuchte ein Mädchengymnasium, wollte Abitur machen und Journalistin werden. 1943 aber wurde ihre Schule von Bomben zerstört und sie zum Arbeitsdienst nach Bayern eingezogen. Als die 19-Jährige endlich nach Hamburg zurückkehrte, ging der Krieg seinem Ende zu. In der Stadt herrschte Chaos, wer konnte, ging aufs Land, Lilo zu den Großeltern – und blieb. Zunächst arbeitete sie auf der amerikanischen Kommandantur als Dolmetscherin. Sie war ja die einzige im Dorf, die Englisch konnte. Rund um Vietze hielten die Amerikaner über 30.000 Wehrmachtssoldaten gefangen. Im Internierungslager herrschte Mangel, auch an Brot. Die Bäckerei brauchte Verstärkung. Lilo fand unter den Kriegsgefangenen einen Bäcker. Dieser Peter wurde bald ihr Mann. 1946 kam ihre erste Tochter zu Welt. Peter und Lilo Wollny übernahmen die Bäckerei, später eröffneten sie ein kleines Café, vier weitere Kinder wurden geboren.

„Wir waren ja Hinterwäldler“, sagt Lilo Wollny. Die landwirtschaftlich geprägte Region war mit der Teilung Deutschlands Zonenrandgebiet geworden. „Man hatte die größten Schwierigkeiten, überhaupt zu erklären, woher man kommt, und in den Dörfern war es relativ ruhig. Es gab hier keine großen sozialen Unterschiede.“ Abwechslung brachten die Amerikaner, die regelmäßig in die Gegend kamen für Lauschangriffe auf die sowjetischen Besatzer auf der anderen Seite des Flusses. Im Café von Vietze fanden sie Ansprache. Und Lilo wurde zwei ihrer Töchter los. Die Älteste heiratete einen amerikanischen Soldaten, später ging auch die jüngste Tochter in die USA, ein Sohn nach Kanada. Heute lebt Lilos große Familie, zu der inzwischen fast ein Dutzend Enkelkinder, mehrere Ur- und auch schon zwei Ur-Urenkelkinder gehören, weit verstreut auf zwei Kontinenten.

Als die Kinder fort waren, fiel Lilo Wollny in ein Loch. „Mit fünfzig war ich so depressiv, dass ich kaum mehr das Haus verließ. Ich habe damals zu meinen Kindern gesagt: Also, wenn ich sterbe, könnt ihr gern noch am gleichen Tag tanzen gehen. Das ist kein Grund, sich aufzuregen. Es wäre gut, wenn das Leben vorbei wäre.“ Dann aber kam 1977 Gorleben, brachte Unruhe in die ländliche Idylle und für Lilo ein ganz neues Leben.

Die machen mein Paradies kaputt
Vom Elbdeich in Vietze ist bei Dunkelheit das Flutlicht der Atommüllanlage im nahen Gorleben zu sehen. Ein paar Kilometer entfernt im Wald liegt hinter Strahlenschutzwall und Nato-Draht das gut bewachte Brennelementelager. Geplant war an diesem Standort eine atomare Wiederaufbereitungsanlage auf zwölf Quadratkilometern. „Das passt hier nicht rein, die machen mein Paradies kaputt“, beschreibt Lilo Wollny ihre damaligen Gefühle und Gründe, sich in der Bürgerinitiative im Landkreis gegen das Projekt zu engagieren. Von Atomenergie hatte sie noch „keine Ahnung.“ Doch sie fing an, systematisch zu lesen. Pro und Kontra, beide Seiten schienen ihr gleich plausibel.
Bis sie auf die Arbeiten des amerikanischen Strahlenforschers John Gofman stieß, Mitentwickler der ersten Atombombe, der später zu einem führenden Atomgegner wurde und damit seine Karriere aufs Spiel setzte. Sein Buch „Poisoned Power“ (1971) wurde zu einer Art Bibel der Antiatombewegung und zur Offenbarung auch für Lilo Wollny. Er überzeugte sie, „weil er beide Seiten kannte und weil er alle seine Privilegien drangab, um die Wahrheit zu sagen. Und weil es im Fall der Atomenergie keine Neutralität gibt, also jeder, der nichts tut, mitverantwortlich ist, bin ich richtig eingestiegen.“

Dem „Widerstand“, wie der Anti-Atom-Kampf im Wendland fast liebevoll genannt wird, gehört Lilo Wollny bis heute an. Zunächst war sie im harten Kern der Bürgerinitiative in verschiedenen Funktionen aktiv und natürlich bei den meisten Aktionen in den Wäldern und auf den Straßen rund um Gorleben dabei. Immer wieder musste sie dabei eigene Ängste bekämpfen, wuchs über sich hinaus. Wie bei der ersten Straßenblockade: „Da hatte ich furchtbar Angst und habe innerlich gebetet: Lieber Gott, gib mir Mut, ich möchte mich auf die Straße setzen. Und als ich es irgendwann geschafft habe, hatte ich das Gefühl, ich könnte fliegen.“ Oder 1980 im Hüttendorf „Freie Republik Wendland“, das AtomkraftgegnerInnen im Wald von Gorleben am Bohrloch 1004 errichtet hatten, um weitere geologische Erkundungen des Salzstockes auf seine Eignung als Endlager hin zu verhindern. Diese sechs Wochen, erzählt Lilo Wollny, „haben mein Leben total verändert. Ich hatte bis dahin eine schreckliche Abneigung dagegen, Leute zu berühren oder berührt zu werden. Und auf 1004 habe ich gelernt, mich in den Arm nehmen zu lassen und Leute in den Arm zu nehmen. Das hat mich sehr glücklich gemacht.“ Aber sie erinnert sich auch an die schrecklichen Szenen bei der Räumung des Hüttendorfes: „Da wurde ich in ein Spalier gestoßen und von jedem Polizisten, an dem ich vorbeimusste, getreten, geknufft, geschlagen. Einer riss mich an den Haaren, und zu dem habe ich dann gesagt: Benimm dich doch ordentlich, ich könnte ja deine Mutter sein. Und da hat er geantwortet: Wenn du meine Mutter wärst, würde ich dich Schwein vergiften.“

Von Anfang an waren Frauen das Rückgrat des wendländischen Widerstandes. „Weil Frauen näher am Leben sind. Mag vielleicht banal klingen und ist im Zeichen des Feminismus ja auch nicht mehr so modern. Aber es hat damit zu tun, dass wir die Kinder kriegen und um deren Schicksal besorgter sind als Männer. Und dass wir auch nicht so technikhörig sind wie Männer, nicht so fasziniert von Technik, und vielleicht ein bisschen mehr denken,“ gibt Lilo Wollny zu bedenken und erzählt, wie sie und ihrer Mitstreiterinnen die „Gorleben-Frauen“ erfanden und zur Bedeutung brachten (vgl. S. 48).

Meine Autoritätshörigkeit ist vorbei
Jahre später wurde die parteilose Atomkraftgegnerin eher „zufällig“ Spitzenkandidatin der niedersächsischen Grünen und zog von 1986 bis 1990 als Abgeordnete in den Bundestag in Bonn ein. Von den wortgewaltigen Vollblutpolitikern ließ sich die „Hausfrau aus Vietze“ nicht einschüchtern. Sie redete, wie sie es verstand: „Wenn ich Reden gehalten habe, hat man mir zugehört. Und wenn ich nur einen einzigen Erfolg gehabt habe, dann den, dass Hildegard Hamm-Brücher irgendwann zu mir kam und sagte, ich hätte sie vom Saulus zum Paulus bekehrt. Sie sei immer pro Atomenergie gewesen, aber ich hätte sie vom Gegenteil überzeugt. Das hat mich ganz stolz gemacht, weil diese Frau es wirklich wert war.“

Gorleben hat Lilo Wollny tiefgreifend verändert. „Ich bin ein anderer Mensch geworden“, sagt sie, „es gibt keine Autoritäten mehr für mich, die mir Angst machen könnten. Ich kann mich heute mit jedem Minister, mit jedem Polizeiboss anlegen, mit dem Kaiser von China, wenn es sein muss, der jagt mir keine Angst mehr ein. Meine Autoritätshörigkeit, die ist vorbei.“ Mit ihren 83 Jahren ist sie inzwischen zwar ruhiger geworden und nicht mehr wie früher mit der „Ini 60″, einer äußerst agilen SeniorInnengruppe des Widerstands, bei allen Aktionen im Gelände dabei. Aber gern spricht sie immer noch über ihr Lieblingsthema: Die Gefahren der Atomenergie, und warum deren friedliche Nutzung eine Lüge ist. Das kann die stets gut informierte Fachfrau jedem Publikum, ob alt oder jung, ExpertInnen oder Laien gleichermaßen nachdrücklich erklären: „Es gibt keine Langzeitsicherung, das ist reines Wunschdenken. Und ich finde es unfair und fies, was wir mit der Atomenergie den nachfolgenden Generationen antun. Manchmal denke ich, dass wir eine verfluchte Generation sind, schlimmer vielleicht, als unsere Väter es waren.“

Ulrike Helwerth ist Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Frauenrates.

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