Ausgabe 2 / 2011 Material von Susanne Krahe

Lisabetha und die Datumsgrenze

Von Susanne Krahe

Sie nennen mich eine Frau von einem Tag. Aber mit meinen 97 Jahren habe ich das Sterben schon verpasst. Als ob die Zukunft vorbeigeflogen und ich nicht eingestiegen wäre. Ja, das gibt es. Mit 60 wird der eigene Tod allmählich wahrscheinlicher, mit 70 eine Bedrohung, mit 85 dringlich. Aber dann schnarren die Uhrzeiger unmerklich über die Zwölf hinaus in Richtung Unendlichkeit. Meine Sonne geht einfach nicht unter.

Sie denken, man freunde sich mit dem Tod an, wenn man ihm nur nahe genug gekommen ist. Sie hoffen, dass man eines Tages die Statistiken wie einen persönlichen Lebensbericht liest und es sich in seinem wahrscheinlichen Todesjahr gemütlich macht. Aber da muss ich sie enttäuschen.

Unsere Betreuer rechnen mit keiner Person mehr, wenn sie in ihrem Büro ihre Einsätze nach Nummern vergeben. Jeden Helfer trifft sein lästiges Los. Ich bin Nummer 18 und, falls übel gelaunt, eine Niete. Vor dem Eintauchen in die Muffigkeit meiner Wohneinheit schnappt mein Gehör den Schwertstreich einer Frauenstimme auf. Sie höhnt ihren Kollegen zu: „Da kommt Nummer 16 nach Hause. Ich muss nach drüben!“ Und schon die Art, wie sie mich mit ihrem „drüben“ auf einen ungeliebten Arbeitsplatz reduziert, zerrt eine Spannung in Lisabethas ausgeleiertes Herz. Streicheleinheiten sind in der Betreuungspauschale eben nicht inbegriffen.

Dabei will ich gar nicht, dass sie mich streicheln. Die Tätscheleien wären mir widerlich. Aber manchmal beobachte ich von meiner Zelle aus, wie die jungen Leute sich Eistüten aus dem italienischen Café holen und fröhlich unter sich verteilen. Die vanilleweißen, zitronengelben und erdbeerroten Hütchen tanzen in ihren Händen, glitzern im Licht … – Ich wünschte, sie fragte mich einmal, ob sie mir auch so eine Eistüte mitbringen soll. Ob Lisabetha vielleicht auch Appetit auf Pistazienträume habe. Nur, dass ich gefragt würde. Dass jemand an mich, die Frau hinter der Nummer 18, dächte. … Es geht mir nicht um das Geld. Ich könnte das Eis durchaus aus vollen Taschen bezahlen. Es ist die Geste, die mir fehlt. Ich möchte so gern etwas geschenkt bekommen. Ich will etwas umsonst. Einmal sich überraschen lassen.

Auszüge aus:
Lisabetha und die Datumsgrenze
in:
Der defekte Messias.
Alternative
Passionserzählungen von Susanne Krahe (verstorben 2022)
© bei der Autorin

Der vollständige Text „Lisabetha und die Datumsgrenze“ ist für AbonnentInnen
unter www.leicht-und-sinn.de / archiv-arbeitsmaterialien/ zu finden.

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