Alle Ausgaben / 2008 Artikel von Simone Kluge

Literarische Salons

Weibliche Zugänge zur Welt des Lesens

Von Simone Kluge


Berlin, Ende des 18. Jahrhunderts.
Die Aufklärung hat – unter anderem – bewirkt, dass Bürger und auch Bürgertöchter Bildung als ein Lebensziel entdecken.(1) Lesegesellschaften entstehen, die allerdings meist Männern vorbehalten sind. Leihbüchereien aber richten besondere Abteilungen für „kultivierte Damen“ ein.


Und innerhalb von etwa drei Jahrzehnten verdoppelt sich die Zahl der jährlichen Neuerscheinungen. Wer liest, gilt als modern, kann auf Anerkennung unter aufgeklärten Menschen rechnen und entspricht dem Bürgerideal des allseits gebildeten Menschen.(2)

Während es die Bürger- und Adelssöhne auf die Universitäten zieht und sie ausgedehnte Bildungsreisen unternehmen, bleibt den Frauen der Besuch von Hochschulen verwehrt, Mädchenschulen gibt es nur vereinzelt. Bürger- und  Adelstöchter lesen Romane und werden schon gescholten, wenn sie das häufig tun. Pastoren und Rabbiner sind entsetzt über die weibliche Sucht nach den neuen Genüssen. Ein Schweizer namens Heinzmann trifft auf große Zustimmung, als er 1795 vor den unausdenkbaren Gefahren des vielen Lesens warnt und sie sogar mit den Folgen der Französischen Revolution vergleicht.(3)


Goethe mit Tee und Gebäck

Doch es gibt Frauen, die sich mit den ihnen auferlegten Einschränkungen nicht abfinden. Insbesondere in Berlin gründen sie literarische Salons nach Pariser Vorbild. Diese Salons stellen unter den geltenden gesellschaftlichen Bedingungen eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen dar, von sich aus Zugang zur (Bildungs-) Öffentlichkeit zu finden.(4)

Die beiden bekanntesten und in der Folgezeit berühmtesten Salons werden von den Jüdinnen Rahel Levin und Henriette Herz geführt. Die Salonnièren laden an einem festen Tag in der Woche in ihre privaten Räumlichkeiten ein und bilden den anziehenden und geistreichen Mittelpunkt der Gesellschaft. Die Besucher sind in der Mehrzahl Männer, adlige Herren, Dichter, Männer und Frauen von der Oper und dem Theater. Auch auswärtige Besucher, z.B. Diplomaten, suchen diese privaten  Treffen bei ihren Berlinbesuchen gerne auf. Fast alle Gäste sind literarisch  produktiv: im Briefeschreiben, im Romaneschreiben, im Journalismus. Frauen von Bürgern und vom Hof lassen sich zwar gern erzählen, was für ein Völkchen sich dort trifft und was in den Salons „getrieben“ wird, aber sie gehen nicht hin, um ihrem Ruf nicht zu schaden.
Denn entgegen der strengen Sitte bei Hofe geht es in den Salons zwanglos zu. Die Gesellschaft ist bunt zusammengewürfelt, ungeachtet der Religion, des Charakters und des Standes. „Es gab keinerlei festgeschriebene Verpflichtungen, außer gebildet oder bildungswillig zu sein und den guten Ton zu beherrschen.“(5) Als typisches Salongetränk wird Tee gereicht, auch Butterbrote oder Gebäck, Kleinigkeiten, die praktisch in die Hand zu nehmen sind. Um Gesprächspausen zu überbrücken, steht ein geöffnetes Klavier bereit und lädt die Gäste dazu ein, etwas zu Gehör zu bringen. Man macht sich mit einander bekannt, knüpft Kontakte, plaudert über die Liebe, über die Schauspielkunst …, aber am häufigsten und ausdauerndsten wird über Literatur gesprochen. Briefe werden vorgelesen und herumgereicht, Neuerscheinungen werden besprochen, Dichter wie Goethe nahezu kultisch verehrt, junge Talente in Literatur und Musik gefördert. „Die Gesellschaft hat sich in kleinere Gesprächsgruppen aufgeteilt. Man plaudert, sorgt sich um den schwerkranken Ferdinand Fleck, den berühmten Schauspieler, um gleich darauf die neuesten Ereignisse, auch die letzten Opernpremieren zu bereden.“(6)

Die Begegnungen in den Salons dienen in erster Linie dem Selbstausdruck. Geselligkeit wird als Kunstwerk verstanden. Jeder / Jede betritt den Salon wie eine Bühne, auf der es gilt, gesehen und vor allem gehört zu werden. In der Salonkultur zeigt sich das Bedürfnis nach unmittelbarem Gefühlsausdruck wie es auch in den Briefen und der damals beliebten Tagebuchform zum Ausdruck kommt. Der Austausch von Gefühlsregungen wird ebenso geschätzt wie ein Disput über Dichter(innen) und Denker: Rousseau, Kant, Goethe, Lessing …


Büchertausch und Briefverkehr

Eine neue Bildungsaristokratie hat sich herausgebildet, die sich vom Hof und seiner Etikette emanzipiert und nicht ohne Arroganz herabsieht auf die, die nicht so gebildet oder bildungsoffen sind wie sie selbst. Die vielfältigen Beziehungen werden genutzt, sich gegenseitig zu Macht und Einfluss zu verhelfen und Zugang zu weiteren Kreisen der gehobenen Gesellschaft zu verschaffen.

Auch Menschen mit einer umfangreichen Bibliothek sind gern gesehene Gäste. Druckerzeugnisse wie Zeitschriften und Bücher sind sehr teuer und nur schwer aufzutreiben, sodass man sie untereinander ausleiht.(7) Die Treffen dienen zudem dem Austausch von Briefen. Man gibt seine Post Bekannten oder Freunden mit, denn die Portogebühren sind teuer: das Porto für einen Brief  entspricht dem Wert von einem Pfund Fleisch!(8)

Für die einfachen Leute sind diese Druckerzeugnisse schlicht unerschwinglich. Viele Frauen müssen täglich zehn bis vierzehn Stunden arbeiten, zum Beispiel als Marktträgerinnen, und verdienen etwa einen Taler wöchentlich. Andere haben sich als Abortreinigerinnen verpflichtet und kippen abends für ein paar Groschen die tagsüber gesammelten Fäkalien in großen Kübeln in die Spree. Die Salonnièren dagegen führen das materiell sorgenfreie Leben der Oberschicht. Ihr Lebensstandard geht weit über den vieler Bürgerfamilien, Lehrer, Handwerker und Beamter hinaus.


Wiege der Frauenbildung

Diese ersten literarischen Salons waren geprägt vom Bildungs- und Selbstverwirklichungsstreben. Die relativ lang anhaltende, nämlich 40 Jahre währende Friedensperiode in Preußen machte die Bildung solcher weltoffenen und idealistischen Kreise möglich. Der Charakter der literarischen Salons änderte sich im 19. Jahrhundert und erreichte nie wieder den Glanz und die Ausstrahlungskraft der ersten Jahre.

Aber: „Das Vorhandensein der Salons und der in ihnen latent wirkenden Humanität, Mitmenschlichkeit und Mütterlichkeit war für die Entstehung der Frauenbewegung eine notwendige historische Voraussetzung. In gewisser Weise kann man sagen, dass die Salons die Wiege solcher Frauenbildungsvereine und ähnlicher sozialpolitischer Unternehmungen waren.“(9)


Für die Arbeit in der Gruppe

Ziel

– Im ausgehenden 18. Jahrhundert war Lesen unter aufgeklärten Bürgerinnen und Bürgern sehr beliebt und verbreitet, gleichzeitig war es eine gesellschaftliche Minderheit, die lesen und schreiben konnte. Ist das heute so viel anders? Ist Lesen nicht immer noch eher ein Phänomen gehobener gesellschaftlicher Schichten? Sicher, Bücher kommen in großen Mengen auf einen riesigen Markt, sie sind heutzutage jedem/jeder in öffentlichen Bibliotheken, auf Bücherflohmärkten u.ä. zugänglich. Aber wer hat die Zeit zum Lesen? Hier ist es wichtig, an die Lesegewohnheiten der Frauen anzuknüpfen.
– Das Lesen war damals umstritten, die Romanleserei wurde als durchaus gefährlich eingestuft. Bücher sollten von Frauen lieber ferngehalten werden. Heute wird oft vor den Gefahren der so genannten Neuen Medien gewarnt. Dabei hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Rahmen der dritten PISA-Studie herausgefunden, dass SchülerInnen, die gut mit dem Computer umgehen können, bessere Mathematikleistungen erbringen. Nach Angaben der ExpertInnen macht der Leistungsunterschied in wichtigen Schulfächern zwischen erfahrenen und unerfahrenen PC-Nutzern beinahe ein Schuljahr aus. (Vgl. dazu S. 70, bes. Fußnote 1)
Wir müssen uns daher fragen, ob wir unseren Kindern, Mädchen und Jungen, die Zugänge zu diesen neuen Medien ermöglichen und sie gleichermaßen fördern.
– Und wie war unsere eigene Förderung? Haben wir als Frauen die gleichen Bildungschancen erhalten wie unsere Brüder? Hier bietet es sich an, über die eigenen Erfahrungen ins Gespräch zu kommen und Wünsche für die Zukunft zu formulieren.


Zeit

ca. 1 1/2 Std.


Material

– Klaviermusik und CD-Player oder Live-Musik
– Zettel mit Impulsfragen für die Gruppenarbeit
– Eddings und Plakat oder Moderationskarten, um Wünsche zu notieren
– Mittengestaltung: In der Mitte steht eine große dicke Kerze, darum herum liegen verschiedene Medien: eine Zeitschrift, eine Tageszeitung, ein Wochenblatt, ein Gedichtband, Krimi, Roman, Kochbuch, Lexikon, Comic, ein Brief, ein Hörbuch, DVD, CD-ROM, Computerspiel…


Ablauf

Einstieg

je nach Gruppengröße 10-15 Min.
Die Leiterin berichtet von ihrer Beziehung zum Lesen. Zum Beispiel: „Ich persönlich habe als Kind und Jugendliche Bücher nahezu verschlungen. Ich habe es geliebt, mich in der Literatur-AG unserer Schule darüber auszutauschen. Noch immer lese ich viel für die Arbeit – aber privat? Manchmal reicht die Zeit noch nicht einmal für die Zeitung am Morgen. Im Urlaub lese ich dann am liebsten Romane, die mich fesseln und die ich in kürzester Zeit verschlingen kann. Wie ist das bei Ihnen?“

Vorstellungsrunde: Jede sagt kurz, wie ihre Beziehung zum Lesen ist. (Ein  schönes Buch geht herum und zeigt an, wer dran ist.)


Erarbeitung

30 Min.
– Impuls: Wie ist es heutzutage angesehen, wenn jemand (viel) liest? Wird das Lesen gefördert? Finden Sie es gut, wenn Kinder viel lesen?
– Antworten werden gesammelt und diskutiert.
– Mögliche Antwort: Grundsätzlich wird Lesen positiv bewertet. Möglicherweise werden auch Einschränkungen gemacht: „Kommt darauf an, was jemand liest, ob es eine Flucht vor der Realität ist, oder ob es ihn/sie von der Umwelt entfremdet. Lesen ist besser als Computerspiele zu machen …“
– Lesen wird heutzutage überwiegend positiv bewertet. Doch das war nicht immer so. Lassen Sie uns einen kleinen Ausflug in das 18. Jahrhundert und zu den Anfängen der Lesekultur unternehmen… (Einspielung von  Klaviermusik: live oder von Band)
– Kurzreferat über die Situation der Frauen im ausgehenden 18. Jahrhundert (Auszug aus dem Informationen oben, evtl. zwischendurch mit  Klaviermusik)
– Nach dem Referat Raum lassen für spontane Reaktionen, eigene Erfahrungen u.ä.
– Gründe zusammentragen für die damalige Hinwendung zum Lesen einerseits und die Abwehr gegenüber dem Lesen andererseits.


Problematisierung

ca. 30 Min.
– Das Lesen hatte für die Frauen, besonders für Jüdinnen des Großbürgertums im ausgehenden 18. Jahrhundert ein starkes emanzipatorisches Element. Durch ihren Zugang zur Literatur und zum Gespräch über Literatur konnten sie sich autodidaktisch weiterbilden. Und durch ihre Bildung konnten sie sich trotz ihrer Glaubenszugehörigkeit und ihres Geschlechts Anerkennung verschaffen und teilhaben an der gehobenen Gesellschaft, die bis dahin ausschließlich Männern vorbehalten war.
Heutzutage haben Frauen Zugang zu höheren Schulen und Universitäten, die Welt der Bücher steht ihnen offen. Wenn Mädchen oder Frauen nach  Bildung streben, wird dieses in gleicher Weise unterstützt wie das Bildungsstreben von Jungen und Männern. Oder?
– Austausch in Kleingruppen (ca. 20 Min.)
Gruppe A: Was ist Ihre eigene Erfahrung? Welche Einstellung hatten Ihre Eltern? Wie sehr wurde Ihre Schul- und Berufsbildung, wie sehr ihre Verwirklichung in Beruf gefördert? Fühlen Sie sich in gleicher Weise anerkannt wie Ihr Bruder, Ihr Kollege, Ihr Partner?
Gruppe B: Wird das Lesen bei Jungen und Mädchen aus Ihrem Umfeld  (Kinder, Enkel, Nachbarskinder) in gleicher Weise gefördert? Zu welcher Literatur werden Mädchen, zu welcher Literatur werden Jungen ermuntert? Was ist, wenn Mädchen sich den neuen Zugängen zur Bildung, dem Computer und Internet, zuwenden?
– Zusammentragen der Kleingruppenergebnisse (5-10 Min.)


Transfer

ca. 10 Min.
Was würden Sie sich für die heutige Zeit wünschen
– für die Bildungschancen der Geschlechter?
– für Frauen und Männer, Jungen und Mädchen?
Wünsche sammeln und auf einem Plakat oder Zetteln festhalten


Abschluss

Lied: Steh auf, bewege dich, denn nur ein erster Schritt verändert dich, verändert mich, steh auf, bewege dich. (Text: Thomas Laubach, Musik: Thomas Quast, Rechte im tvd-Verlag, Düsseldorf)

Gebet:
Du, Kraft über mir
Du Kraft in mir
Hände hast du mir gegeben
und Geist
Gefühl und Energie
Ich will heute tun, was dem Menschen
   dient
Ich will
mit meinen Händen ein Stück Welt
  gestalten
mit meinem Geist die Möglichkeit ertasten
mit meinem Gefühl das Recht erspüren
mit meiner Energie alle Hürden
  überwinden
Lass mich erleben,
dass ich Anteil habe an Dir
Du göttliche Kraft

Verfasserin ist mir leider nicht bekannt.


Simone Kluge lebt in Hildesheim und arbeitet seit 2005 als pädagogisch-theologische Mitarbeiterin im Landesverband Braunschweig der Ev. Frauenhilfe.
Sie ist Mitglied in der Arbeitsgruppe ahzw.


Leipziger Lesekränzchen

Nicht zuletzt fürchten die zeitgenössischen Männer die „Lesewut“ der Frauen, weil diese darüber ihre hausfraulichen Pflichten vernachlässigen könnten. Ein diesbezüglich besorgter Mann entwickelt daher für Frauen eine Art Spinn-Strick-Lesepult, das seine Ehefrau in einer Zeitschrift anpreist:

„Dieses Pulpet (Pult) dient mir nicht nur beim Spinnen, sondern auch beim Nähen, Stricken und dergleichen. Mir ist es unmöglich, bloß allein an solche Arbeiten, wenn ich damit beschäftigt bin, zu gedenken. Sie lassen mir beständig soviel Raum in der Seele übrig, dass ich mit völligem Nachdenken dabei lesen kann. Aber eben so unmöglich ist es mir auch, allein zu lesen, ohne eine häusliche Arbeit dabey zu verrichten.“

Bild und Zitat aus: Annette Kuhn (Hg.),
Die Chronik der Frauen, Dortmund 1992
Radierung von Marianne Chodowiecki


Anmerkungen

1 Die Aufklärer riefen Menschen dazu auf, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, selbst zu denken, selbst zu urteilen, damit sie befreit von Unmündigkeit und geistigem Zwang einander gleich werden und glücklich.
2 Gewiss, drei Viertel der Bevölkerung konnte weder lesen noch schreiben; gemessen daran waren es nur sehr wenige, die Bücher lasen. Aber unter diesen war ein wahres Lesefieber ausgebrochen.
3 Carola Stern, S. 44
4 „Daß die Salons ein Erfolg wurden und, nicht nur auf die Frauen bezogen, eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung erlangten, ist alles andere als selbstverständlich und setzt voraus, dass auch der Männerwelt an der Salongeselligkeit, ihrer gesellschaftsrevolutionären ,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit', gelegen war und die Männer an dieser speziellen Art von Begegnung mit dem weiblichen Geschlecht und den gebildeten und geistreichen Vertreterinnen desselben Gefallen fanden… Die bildungswilligen Frauen suchten in ihren Salons die Öffentlichkeit der Bildungswelt einzufangen, die Öffentlichkeit der Männerwelt verlangte nach der privaten, intimen Sphäre der Salons.“ Petra Wilhelmy-Dollinger, S. 2
5 Petra Wilhelmy-Dollinger, S. 15
6 Carola Stern, S. 86
7 ebd., S. 82
8 ebd., S. 152
9 Petra Wilhelmy-Dollinger, S. 17


Verwendete Literatur

Ingeborg Drewitz: Berliner Salons. Gesellschaft und Literatur zwischen Aufklärung und Industriezeitalter, Berlin (Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung) 31984
Carola Stern: Der Text meines Herzens. Das Leben der Rahel Varnhagen, Hamburg (Rowohlt Verlag GmbH) 1994
Petra Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons.
Mit kulturhistorischen Spaziergängen, Berlin (Walter de Gruyter) 2000

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