Alle Ausgaben / 2016 Andacht von Eva-Maria Ranft

Machet die Tore weit

Andacht im Advent zu Psalm 24

Von Eva-Maria Ranft

Lied: Macht hoch die Tür

„Macht hoch die Tür“ haben wir gerade gesungen – das Adventslied schlechthin. Es gründet sich auf Psalm 24, der im Mittelpunkt dieser Andacht steht. Ich möchte Sie einladen, dass wir uns diesem Psalm auf eine besondere Weise nähern, die Dorothee Sölle so beschrieben hat:
„Die Psalmen sind für mich eins der wichtigsten Lebensmittel. Ich esse sie, ich trinke sie, ich kaue auf ihnen herum, manchmal spucke ich sie aus, und manchmal wiederhole ich mir einen mitten in der Nacht. Sie sind für mich Brot. … Und so möchte ich als erstes sagen: Esst die Psalmen … Esst den Psalm, Gott hat schon Brot gebacken, die Väter und Mütter des Glaubens haben schon für uns vorgesorgt. Esst und lernt, Brot zu backen.“1

Lesen von Psalm 24

Ich habe die Lutherübersetzung gewählt, weil sie vielen noch im Ohr ist. Jede bekommt ein Textblatt, der Psalm wird reihum versweise mehrmals gelesen, die römischen Zahlen werden zunächst ignoriert. Die Teilnehmenden können einzelne Worte oder Versteile nennen, die sie besonders ansprechen. Danach den Psalm noch zwei oder drei Mal lesen, wer mag, kann Worte oder Versteile mitlesen, die wichtig sind. Es kann einen kurzen Erfahrungsaustausch geben.

Psalm 24
I 1Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen. 2Denn er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet.
II 3Wer darf auf des Herrn Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?
III 4Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist; wer nicht bedacht ist auf Lug und Trug und nicht falsche Eide schwört:
IV 5der wird den Segen vom Herrn empfangen und Gerechtigkeit vom Gott seines Heils. 6Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt, das da sucht dein Antlitz, Gott Jakobs.

I 7Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehren einziehe!
II 8Wer ist der König der Ehre?
III Es ist der Herr, stark und mächtig, der Herr, mächtig im Streit.

I 9Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!
II 10Wer ist der König der Ehre?
III Es ist der Herr, Zebaoth; er ist der König der Ehre.

Auffällig an diesem Psalm sind das eindrucksvolle Frage- und Antwortspiel und die Wiederholungen im letzten Teil. Als sollte den Menschen etwas ganz fest eingeprägt, ans Herz gelegt werden, damit es unvergesslich bleibt in den Wechselfällen des Lebens.

Und tatsächlich: Diese Fragen und Antworten spiegeln ein altes Ritual wider, mit dem Menschen Einlass gesucht haben in den Jerusalemer Tempel. Der Clou ist allerdings: Der Tempel war bereits zerstört, als dieser Psalm entstanden ist. Und so begleitet dieser Psalm Menschen, die alles verloren haben. Er begleitet das jüdische Volk, ins Exil verschleppt, machtlos, auf der Suche nach neuen Wegen, Gott zu begegnen, zu Gott zu rufen und zu beten, jetzt, wo es keinen bestimmten Ort, keinen Tempel mehr gibt, an dem Gott wohnt und zu finden ist.

Die ersten beiden Verse sind direkt der ganz große Aufschlag: Die Erde ist des Herrn, der Erdkreis und die darauf wohnen. Nicht nur am Tempel wohnt Gott, nicht nur dort ist er zu finden, nein, sein ist die ganze Erde. Diese Verse sind zugleich eine Absage an die Herrschaftsansprüche der babylonischen Könige und ihrer Götter: Es gibt nur einen, der den Erdkreis regiert, der Gott, den das jüdische Volk am Jerusalemer Tempel angerufen hat, der Gott, der sein Volk auch in den Schrecken des Exils begleitet, der Gott, der den Erdkreis begründet hat.

Lesen von Psalm 24, 3-6
Wo das möglich ist, gehen die Teilnehmerinnen umher, wiederholen einzelne Verse oder Worte für sich, sprechen sie anderen zu, hören, was andere ihnen zusagen, um sich den Psalm „einzuverleiben“. Sonst die Verse 3-6 mehrfach in den Gruppen lesen, die die römischen Zahlen angeben. Diese Gruppen können frei und spontan gewählt werden.

Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, darf auf den Berg des Herrn, zu seiner heiligen Stätte. Unschuldige Hände stehen an erster Stelle. Was tue ich, wie verhalte ich mich meinen Mitmenschen gegenüber? Gerechtigkeit und Nächstenliebe sind hohe Werte für Menschen, die in einem besetzten Land leben, für die Armut und Rechtlosigkeit alltägliche Erfahrungen sind. Untrennbar verbunden damit das reine Herz, ein Herz erfüllt von der Liebe zu Gott und den Menschen. Das reine Herz als Zugangsvoraussetzung zu Gottes heiligem Berg – das mag uns erschreckend erscheinen. Ein reines Herz zu haben – wer kann das schon von sich behaupten? Suche ich nicht vielleicht gerade deshalb Gottes heilige Stätte auf, weil ich mich sehne nach einem Herzen, das von der Liebe zu Gott und den Menschen erfüllt ist? Wie sehr muss diese Anforderung Menschen erschrecken, die unter Fremdherrschaft und Besatzung leben, wo sie oft genug um des Überlebens willen Kompromisse eingehen müssen mit der Besatzungsmacht? Die Jahreslosung 2017 öffnet uns einen Zugang: Gott selbst will den Menschen ein neues Herz geben und ihr Inneres mit Geistkraft erfüllen. Keine Voraussetzung, sondern ein Geschenk!

In Psalm 24 sind die Menschen nicht als einzelne Beterinnen unterwegs. Psalmen sind Gebete einer Gemeinschaft von Menschen, die zu Gott rufen, die ihn suchen und auf ihn hoffen. Und so bestärken und unterstützen sich die Menschen gegenseitig, sie sind nicht allein unterwegs, wenn sie sich aufmachen zu Gottes heiliger Stätte, um sein Antlitz zu suchen, wie es in Vers 6 heißt. Diesen Gottsucherinnen öffnet Gott Herz und Hand, öffnet er seine heilige Stätte.

Psalm 24, 7-10 lesen in den durch die römischen Zahlen eingeteilten Gruppen, die frei gewählt und gewechselt werden können.

Macht hoch die Tür – dieses Lied klingt aus jedem Wort dieser Verse. Und tatsächlich hat die frühe christliche Gemeinde das Leben Jesu im Licht der Psalmen Israels verstanden, im Lichte auch von Psalm 24. Und so geraten Christinnen und Christen, wo immer sie die Tore weit und die Türen in der Welt hoch machen, in die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel hinein. Wo immer wir erwarten, dass der König der Ehren einziehe, werden wir „in Israels Ringen um eine gerecht gestaltete Gemeinschaft mit hineingenommen.“2 Wir werden Teil der Gemeinschaft von Gottsuchenden mit der Sehnsucht nach einem reinen Herzen und unschuldigen Händen, die zupackend und zärtlich Gottes Gerechtigkeit weitertragen.

Psalm 24 als Ganzes lesen in den durch die römischen Zahlen eingeteilten Gruppen.

Lied: Macht hoch die Tür

Eva-Maria Ranft, geb. 1956, Pfarrerin und seit vielen Jahren Frauenreferentin im Kirchenkreis Bochum.

Literatur
Klara Butting: Erbärmliche Zeiten – Zeit des Erbarmens. Theologie und Spiritualität der Psalmen. Uelzen 2013
Dorothee Sölle: Erinnert euch an den Regenbogen. Texte, die den Himmel auf Erden suchen. Herder Spektrum, Freiburg Basel Wien 1999
Erich Zenger: Psalmen. Auslegungen, Bd. 2. Freiburg 2011

Anmerkungen
1) aus: Dorothee Sölle, Erinnert euch an den Regenbogen.
2) Klara Butting, S. 12.

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