Ausgabe 1 / 2015 Frauen in Bewegung von Annette Leyssner

Madame Chairman

Christine Lagarde im Porträt

Von Annette Leyssner

Sie setzt sich in der männerdominierten Finanzwelt durch. Ihre Weiblichkeit und Eleganz aber hat sie dem Erfolg nicht geopfert. Statt auf Ellbogen setzt sie auf Überzeugungsarbeit.

Die Französin Christine Lagarde, 58, leitet seit dem Sommer 2011 als erste Frau den Internationalen Währungsfonds (IWF). In der von Männern dominierten Finanzszene ist sie eine Ausnahmeescheinung. „Madame Chairman“, so bezeichnet sie sich selber. „Ich möchte kein weibliches Äquivalent für ‚Vorstandsvorsitzender' finden. Auf dem weiblichen Genus von Wörtern zu bestehen, ist lächerlich“, sagte sie dazu.

Die selbstbewusste Französin ist ein ­Gewächs der katholischen bürgerlichen Mittelschicht. Christine Madeleine Odette Lagarde wuchs mit drei jüngeren Brüdern in Le Havre in der Normandie auf. Der Vater Robert Lallouette war Professor für Literatur an der Universität Rouen, die Mutter Nicole Lehrerin. Die strenge Katholikin legte großen Wert auf Manieren. Sie zeigte den Kindern, „wie man anständig isst und wie man ordentlich Französisch spricht, ohne Akzent“, erinnert sich Lagarde. Als sie als Teenager Jeans tragen wollte, gab es Konflikte. Die Mutter war der Meinung, dies sei kein Stil für eine Lady.

Der Vater gab ihr die Sehnsucht nach der Ferne mit. Er war fasziniert vom Amerika der sechziger Jahre: John F. Kennedy, Martin Luther King, Studentenrevolten. Ihr Vater starb, als sie 16 Jahre alt war. Dieser Schlag beendete das behütete Dasein von Christine. Wirtschaftlich wurde es jetzt härter. So musste Christine neben der Schule Geld verdienen, als Verkäuferin oder auf dem Fischmarkt. Ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters ging Lagarde 1973 als Austauschschülerin in die USA. Sie besuchte als Stipendiatin ein Jahr lang die private Mädchenschule Holton Arms in der Nähe von Washington und wohnte bei einer Gastfamilie. „Dank dieser Erfahrung habe ich nicht nur die Amerikaner kennengelernt. Unter den Austauschstudenten waren auch Australier, Afrikaner, Dänen…; wir haben uns alle zwei Wochen getroffen, um Erfahrungen auszutauschen. Das hat die Basis gelegt für meine internationale Ausrichtung“, sagt Lagarde.

Nicht brillant, aber fleißig

Den Abschluss in Jura machte sie daheim in Paris. Der Erfolg flog ihr nicht zu. Die Aufnahmeprüfung für die Elitehochschule École Nationale d'Adminis­tration, die in Frankreich den Weg zu den höchsten Ämtern in Verwaltung und Regierung bahnt, hatte sie zweimal verpatzt. „Wenn man scheitert, ist das natürlich enttäuschend. Rückblickend glaube ich aber, dass das eine große Chance für mich war“, sagte Lagarde später. „Ich hätte sonst vermutlich nie in Betracht gezogen, eine international tätige Anwältin zu werden.“

Frauenbewusst

Die Spezialistin für Arbeits- und Wettbewerbsrecht stieg bei der amerikanischen Anwaltskanzlei Baker & McKenzie in Chicago 1999 bis zur Leiterin der Geschäftsführung auf und war damit verantwortlich für 4.000 BeraterInnen in 70 Ländern. Sie führte die Kanzlei so erfolgreich, dass sich der Jahresumsatz binnen weniger Jahre auf mehr als eine Milliarde Dollar verdoppelte. Lagarde, die zweimal geschieden ist, ließ ihre Söhne im Alter von 11 und 13 Jahren in Paris beim Vater, als sie nach Chicago zog. Die Verbindung beschränkte sich auf Wochenenden und Telefonate. Schuldgefühle bleiben zurück, räumte sie gegenüber zwei französischen Buchautoren ein. Und fügt bei solchen Gesprächen über ihr Privatleben gerne hinzu, dass bei Männern solche Fami­lienfragen nie in der Öffentlichkeit erörtert werden.

Als junge Juristin hatte Lagarde das Gefühl, nicht die gleichen Chancen zu haben wie Männer. Gerne hätte sie bei einer Anwaltskanzlei in Frankreich Karriere gemacht. Doch in Paris sagte man ihr, zur Partnerin würde sie es als Frau nie bringen. Solche chauvinistischen Einstellungen ärgern sie. „Es ist besser, wenn Männer und Frauen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Dabei geht es nicht um Moral. Es ist gut für die Wirtschaft. Das ist doch klar“, sagt Lagarde. Auf jeder ihrer Geschäftsreisen führt sie mindestens eine Gesprächsrunde nur mit Frauen. Girls' night out nennt sie diese Treffen. Die Chefin des IWF fördert und fordert Frauen bewusst: „Frauen sind wie Teebeutel: Ihre wahre Stärke entfalten sie, wenn man sie ins Wasser wirft“, lautet einer ihrer Leitsprüche. Bei gleicher Qualifikation bevorzugt sie weibliche BewerberInnen. „Ich habe lange geglaubt, dass Arbeit und Kompetenz genügen, damit Frauen sich in Unternehmen durchsetzen – das glaube ich nicht mehr“, begründet die IWF-Chefin, warum sie mittlerweile Frauenquoten für sinnvoll hält.

Ihr Vorbild in Sachen Frauenförderung ist ihre Freundin Madeleine Albright, die ehemalige amerikanische Außenministerin. In einem ihrer Bücher hat Albright geschrieben: „Es müsste einen Extra-Platz in der Hölle geben für Frauen, die andere Frauen nicht unterstützen.“ Dabei rät Lagarde Frauen, niemals Männer zu imitieren, um Erfolg zu haben. In den USA sei die Auffassung verbreitet, um in der Geschäftswelt voranzukommen, müsse man sich wie ein Mann verhalten. „Diese Debatte hatte ich öfters mit Madeleine Albright. Sie denkt, ­Frauen müssten auch fluchen wie ein Droschkenkutscher, um sich durchzusetzen. Ich selber bin überzeugt, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern einen Wert haben.“ Lagardes Meinung nach hat männliche Zügellosigkeit zur Finanzkrise beigetragen: „Mit einer Bank ‚Leman sisters', geführt von Frauen, wäre es nicht soweit gekommen“, sagte sie einmal, nur halb scherzend.

Eleganz und Ausstrahlung

Im Jahre 2005 wechselte Lagarde in die Politik, zunächst als Handels- und später als Agrarministerin. Eine Stunde Bedenkzeit gab der damalige Premierminister Dominique de Villepin der Juristin, um den Spitzenjob bei Baker & McKenzie gegen das Amt der Staatssekretärin für Außenhandel zu tauschen. Sie nahm an, gab ihre Anwaltskarriere und ihr Jahresgehalt von 800.000 Dollar auf, „aus dem Bedürfnis heraus, etwas für ihr Land zu tun“. Präsident Nicolas Sarkozy berief sie dann 2007 an die Spitze eines Superministeriums für Wirtschaft und Finanzen. Drei Jahre später kürte die Financial Times sie zur „besten Finanzministerin in der Euro-Zone“.

Heute gehört Lagarde zu den beliebtesten Persönlichkeiten Frankreichs, wurde zum „Ritter“ und zum „Offizier der französischen Ehrenlegion“ ernannt. Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble schätzt sie ebenfalls sehr. „Christine ist eine starke Frau, sie hat die Eleganz einer französischen Dame“, sagte er in einem Interview des Spiegel. Die Zuneigung beruht auf Gegenseitigkeit: Als Schäuble erkältet war, schenkte Lagarde ihm Honig aus ihrem Bienenstock. An seinem 70. Geburtstag hielt sie die Laudatio. Während ihrer Zeit als Finanzministerin ist Lagarde aber durchaus in einige Fettnäpfchen getreten. Mitten in der Energiekrise, als die Benzinpreise bis dahin unbekannte Höhen erklommen, hatte sie den FranzösInnen geraten, mehr mit dem Rad zu fahren – während sie im Dienstwagen umherkutschiert wurde. Das erinnerte ihre Landsleute an ihre ehemalige Königin Marie Antoinette. Die soll kurz vor Beginn der Französischen Revolution gesagt haben: „Wenn die Armen kein Brot haben, sollen sie Kuchen essen.“ Bald trug Lagarde den Spottnamen „Madame La Gaffe“ – „Madame Fettnapf“.

Fragt man Kommunikationsberater von Christine Lagarde nach einer Schwäche ihrer Chefin, verweisen sie auf ihre Vorliebe für edlen Behang: „Der Schmuck, immer dieser Schmuck!“ Angeblich stand bei ihren Geschäftsreisen manchmal nur ein Wort in ihrem Terminkalender: Steine. Das war das Zeitfenster, das sie zum Einkaufen von Kleinoden reserviert hatte. Lagarde steht zu ihrer Leidenschaft für schöne Steine: „Es berührt mich, dass so viel Schönheit so lange im Fels verschlossen bleiben kann, und dass das Ganze dann durch Menschenhand – Zuschneiden und Einfassen – so viel Eindruck macht“, sagte sie in einem Interview. Image-ExpertInnen rieten ihr, auf die Ringe, Ketten und Broschen zu verzichten: Sie müsse als Politikerin mehr wie jedermann und jedefrau aussehen. Lange hielt Lagarde das nicht durch. Die große französische Dame ist ihre Marke geworden. Ihre Juwelen, die grade Haltung, der Schopf in silbrig schimmerndem Grau – keine Frage, Madame Chairman ist eine imposante Erscheinung.

Ihr stets makelloses Outfit sieht sie allerdings auch als Voraussetzung an, um in der Arbeitswelt ernst genommen zu werden: „Man vergibt eher einem Mann, dessen Jackett ausgebeult ist, als einer Frau, wenn sich an ihrem Kostüm ein Saum gelöst hat.“ Bei Fototerminen ist so mancher mächtige Mann froh, wenn er nicht neben ihr stehen muss. Mit ihren Einmeterachtzig überragt Christine Lagarde viele von ihnen – wie übrigens auch ihren Lebenspartner Xavier Giocanti. Die beiden kannten sich bereits vom Jurastudium in Paris. Vor sieben Jahren traf sie Giocanti, der eine Immobilienfirma in Marseille leitet, bei einer Wirtschaftskonferenz wieder. Seitdem sind sie ein Paar.

Mit „weniger Testosteron“

Lagardes Ansatz, den IWF zu lenken, unterscheidet sich von dem ihres Vorgängers Dominique Strauss-Kahn. Madame Chairman sagte dazu 2012 in einem Interview mit der amerikanischen Zeitschrift Newsweek: „Ich weiß nicht, ob es generell ein Unterschied zwischen Männern und Frauen ist, aber mir wird gesagt, dass mein Stil inklusiver ist.“ Frauen zeigten in öffentlichen Ämtern „weniger Libido, weniger Testosteron“ und hätten kein Interesse, ihre Verhandlungspartner zu erniedrigen. Dominanzgebahren liege ihr wenig, das Mannschaftsspiel sei ihre Stärke, sagt Lagarde. In ihrer Jugend war sie Mitglied des französischen Nationalteams im Synchronschwimmen. Da „muss man sich perfekt mit den anderen abstimmen, das liegt mir“, sagt sie. „Ich habe nie als Einzelgängerin gut funktioniert, als Kind hatte ich meine Brüder um mich, später andere Menschen.“ Konsens im Team zu finden ist ihr wichtig: „Auch wenn es bedeutet, dass ich nicht so bestimmend wirke, à la ‚My way or the highway'“, sagt sie. Nicht nur die Arbeitshaltung ist zurückgeblieben von ihrer Zeit im Sport. Wenn sie reist, geht sie nur in Hotels mit Pools. Für den Ausgleich. Yoga macht sie auch. Für die innere Ruhe. Lagarde entspannt sich auch gerne bei der Gartenarbeit und verzichtet auf Fleisch und Alkohol. Dazu ist sie mit einer Konstitution gesegnet, die es ihr erlaubt, mit fünf Stunden Schlaf auszukommen.

Harmonie ja – aber nicht über alles

Obwohl Lagarde gerne Konsens sucht, stellt sie Harmonie nicht über alles. Ihre Grundüberzeugung: Sind sich alle ständig einig, kommt man nicht vorwärts. In einem Team brauche es deshalb „einen troublemaker, jemand, der manchmal auch Ärger macht, aber die Einförmigkeit vermeidet“. Gerade in der Politik, sagt sie, sei „das Risiko sehr groß, dass man im eigenen Saft schmort“. Als Wirtschaftsministerin gab sie alle zwei Monate ein Abendessen mit Menschen, die normalerweise keinen Zugang zur Regierung haben. Bei diesen out-of-the-box-dinners, wie Lagarde sie nannte, diskutierten KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen, Computerfreaks und PhilosophInnen unorthodoxe Herangehensweisen an aktuelle Themen. Lagarde improvisiert auch gerne, lässt sich von ihrem BeraterInnenstab keinesfalls das Heft aus der Hand nehmen. Wenn der ein Manuskript für eine 25minütige Rede erstellt, spricht sie auch schon mal doppelt so lange.

In ihrer Umgebung schätzt sie den persönlichen Touch. Als Wirtschaftsministerin hatte sie in ihrem Büro einen Teppich mit Zebramuster auslegen lassen: 50 Quadratmeter psychedelischer Rausch. „Weil sie nun einmal Finanzexperten sind, gelten die Beamten in diesem Haus als etwas introvertiert“, sagte damals die Ministerin. „Mit dem Teppich, sage ich mir, können diese Herren nicht mehr auf ihre Füße starren, wenn ich mit ihnen rede.“ So extravagant hat sie ihr Büro in Washington nicht ausstaffiert, von dem aus sie die Belange der 188 Mitgliedsländer des IWF im Blick behalten muss.

Lagarde hat bei ihrer Vorstellung als neue Chefin deutlich gemacht, dass sie sich besonders für die Belange der ärmeren Länder einsetzen will. Befürchtungen, sie könne sich als Französin vor allem um die Probleme Europas kümmern, trat sie entgegen. Mit dem in der Krise steckenden Griechenland zum Beispiel hat Lagarde wenig Mitleid. „Ich denke mehr an die Dorfkinder in Niger, die sich in der Schule einen Stuhl teilen müssen und trotzdem eifrig lernen. Sie brauchen Hilfe dringender als die armen Leute in Athen“, sagte die IWF-Chefin und lehnte es ab, die Sparauflagen zu lockern, die mit dem IWF-Kredit an Griechenland verbunden waren. Unter Christine Lagarde ist der IWF nicht mehr die Trutzburg des Neoliberalismus, die er einst war. „Unternehmenschefs und Politiker sollten sich bewusst machen, dass in zu vielen Ländern die Früchte des Wachstums von viel zu wenigen Menschen genossen werden“, gab sie den Wirtschafts- und PolitiklenkerInnen im Januar in Davos mit auf den Weg. Das zeigt einen erstaunlichen Sinneswandel. Schließlich ist der Währungsfonds seit Jahrzehnten das Feindbild linker Denker- und PolitikerInnen.

Annette Leyssner hat in Cambridge europäische Politik studiert, bevor sie das journalistische Handwerk an der Deutschen Journalistenhochschule München und an der Columbia University New York erlernte. Nach Aufenthalten in aller Welt ist sie arbeitet sie jetzt in Berlin im Journalistenbüro FREISTIL. – mehr unter www.leyssner.de

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang