Alle Ausgaben / 1998 Frauen in Bewegung von Waltraud Liekefett

Madeleine Barot

Schutzpatronin der Entrechteten

Von Waltraud Liekefett

„Ich gab mein Herz, meinen Geist und mein ganzes Leben der Kirche, aber die Kirche schickte mich zurück in das Zimmer meiner Großmutter, um zu stricken.“ Mit diesem Zitat von Florence Nightingale beginnt Madeleine Barot ihren Bericht vor der zweiten Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen in Evanston 1954.

Sie ist fünfundvierzig Jahre alt. Mit Selbstbewußtsein steht sie vor der Versammlung, in der in großer Überzahl Männer sitzen. Sie erklärt, „daß die Beteiligung der Frauen im ökumenischen , sozialen und politischen Leben sich in vergangenen Jahren bemerkenswert verändert hat… Die Kirche muß sich davon betreffen lassen in ihren Strukturen. Sie muß diese Veränderung spirituell begleiten…“ (Frauenkirchenkalender 1993). Die Frau, die so vor einem großen ökumenischen Forum sprach, hatte ein bewegtes Leben hinter sich.

Madeleine Barot entstammt einer angesehenen Hugonottenfamilie und wurde am 4. Juli 1909 in Frankreich geboren. Sie wächst in einem aufgeklärten, aber religiös nicht besonders interessierten Elternhaus auf. Die Eltern legen jedoch Wert darauf, ihr die eigene Entscheidung für Religion und Glauben zu überlassen. Schon während der Schulzeit wurde ihre soziale Verantwortung deutlich. Während des Studiums schließt sie sich dem christlichen Studentenbund an. „Diese Jahre haben mein Leben entscheidend beeinflußt“ sagt sie rückblickend. Nach Ende der Studienzeit wird sie für 4 Jahre an das französische archäologische Institut in Rom berufen. Neben dieser Tätigkeit bleibt ihr Zeit, Vorlesungen an der theologischen Fakultät zu hören, und sie ist Gasthörerin bei Jesuiten und Dominikanern. Italien tritt 1940 in den 2. Weltkrieg ein; um nicht interniert zu werden, muß Madeleine Barot nach Frankreich zurückkehren. Die Eltern hoffen nun auf eine glänzende akademische Laufbahn der Tochter.

Doch es kam anders. Durch den Präsidenten des Reformierten Bundes, Pastor Marc Boegner, erfuhr sie von einem Internierungslager am Fuße der Pyrenäen. Die junge Französin geht freiwillig mit anderen christlichen Studentinnen in das berühmt-berüchtigte Lager Gurs. Flüchtlinge aus Deutschland, überwiegend Juden, leben dort zusammengepfercht in Baracken. Madeleine teilt Hunger, Kälte, schlimme hygienische Verhältnisse und vor allem die Angst mit den Internierten. Gemeinsam organisieren die jungen Menschen, sie alle gehören zur Organisation CIMADE (Comité Inter-Mouvements aupres des Evacues), Vertretern aller Jugendverbände und Kirchen in Frankreich, Lebensmittel und Medikamente, aber auch Gottesdienste und Gesprächsrunden. Die Organisation CIMADE, zu deren Generalsekretärin Madeleine Barot gewählt wird, hilft Flüchtlingen ohne Ansehen von Person und Rasse und setzt sich für Freiheit und Menschenwürde ein.

Als im August 1942 der SS-Sturmbandführer Adolf Eichmann die Liquidation von 5000 jüdischen Kindern beschlossen hatte, hat Madeleine Barot mit Mitgliedern von CIMADE hunderten von Kindern zur Flucht verholfen. Madeleine brachte sich bei diesen Aktionen in große Gefahr für Leib und leben. Es war nicht Abenteuerlust, nicht Sensationshunger, die Madeleine beflügelten, es war die Verantwortung, die sie übernommen hatte, Nächste für Menschen in Not zu werden. Sie ist weit entfernt davon, sich als Heldin zu fühlen, dafür war kein Platz.

Die mit ihr leben und arbeiten und dabei wie sie ihr Leben auf's Spiel setzen, nennen sie voller Anerkennung und Respekt „Schutzpatronin“. Erst viel später wird sie öffentlich geehrt und ausgezeichnet, dreimal wird ihr die Ehrendoktorwürde verliehen.
Madeleine Barots Wirken bleibt aber nicht auf CIMADE beschränkt. Als die Jugendabteilung des 1947 gegründeten Ökumenischen Rates der Kirchen ins Leben gerufen und nach einer leitenden Persönlichkeit gesucht wurde, fiel die Wahl auf Madeleine Barot.
Anfang 1954 trat sie dem Mitarbeiterstab des ÖRK als Direktorin des Referates „Stellung und Dienst der Frau in der Kirche“ bei. Madeleine Barot versuchte mit großem Nachdruck während ihrer Amtszeit das Interesse der Kirchen zur Wiederentdeckung der vollen Zusammenarbeit beider Geschlechter in allen Lebensbereichen zu führen. Um diesem Ziel näher zu kommen, bewältigt sie ein unübersehbares Programm von Reisen und Konferenzen.
In allen Ländern, die sie bereiste, hat sie es verstanden, Frauen und Männern den Blick zu öffnen, für einen weiteren Horizont, in dem das Christsein gelebt werden will. Ihr allein ist es zu verdanken, daß die Französinnen ihre Ressentiments aufgaben und dem „ÖKUMENISCHEN FORUM CHRISTLICHER FRAUEN IN EUROPA“ beitraten und seitdem mitarbeiten.

In allen Kontinenten begegnete man Madeleine Barot mit großer Ehrfurcht und Respekt. Man wußte, wenn sie von der Wichtigkeit und Dringlichkeit einer Aufgabe überzeugt war, konnte sie niemand und nichts an der Durchführung hindern.
1968 wechselte Madeleine Barot innerhalb des Weltrates von der Frauenabteilung zur Abteilung für Entwicklungsfragen. Hier fand sie noch einmal ein Arbeitsfeld, in dem sie ihre weltweiten und praktischen Erfahrungen einbringen konnte. Hier arbeitete sie bis zu ihrer Pensionierung 1973. Seither lebte sie in Paris. Dort stellt sie sich in den Dienst einer christlichen Organisation, die weltweit gegen Folter engagiert ist. Hier sieht Madeleine eine geradlinige Fortführung ihrer Arbeit bei CIMADE, ein Engagement für die Opfer von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Im Frühjahr 1987 wird Madeleine Barot für ihr lebenslanges, unermüdliches und unerschrockenes Eintreten für bedrohte und geschundene Menschen mit dem Marc Boegner-Preis ausgezeichnet.

Madeleine Barot schließt einen persönlichen Rückblick auf das für sie selbst und für die ökumenische Bewegung so entscheidende Jahr 1946 mit Worten, die zugleich als ein Resümee ihrer eigenen ökumenischen Existenz gelten können: „Wir begannen jenes Jahr erschöpft, inmitten von Ruinen und materiellen Nöten. Wir beschlossen es aber in der Freude einer wiedergeborenen Hoffnung, mit neuer Kraft, erfüllt von der Vision des Auftrages der Kirchen in der Welt. Er galt ja auch uns in den verschiedenen Diensten, zu den wir berufen waren. Denn wir hatten den Hauch des Geistes gespürt“
(aus: Werner Simpfendörfer, Ökumenische Spurensuche, Stuttgart 1989).

Bis zu ihrem Tod 1996 blieb Madeleine Barot, was sie von Anfang an war: Anwältin der Entrechteten.

Waltraud Liekefett, Braunschweig

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