Ausgabe 1 / 2017 Frauen in Bewegung von Andrea Blome

Man kann bei uns keine Mama bestellen

Christine Wichert, Gründerin des Vereins Wahlverwandtschaften e.V.

Von Andrea Blome

„Wenn jetzt etwas wäre, wer wäre im Notfall für mich da?“ Als Christine Wichert innerhalb weniger Jahre ihre Schwester, ihren Vater und auch ihre Mutter verlor, da war sie 32 Jahre alt. „Ohne eine Familie zu sein, das war für mich mit dem Gefühl verbunden: Jetzt ist niemand mehr bedingungslos für mich da.“

Das macht Familie schließlich aus: Für­einander da zu sein, immer wieder zueinander zurückzukehren, irgendwie in Kontakt zu bleiben. Nicht umsonst gibt es das Sprichwort „Blut ist dicker als Wasser“. Was aber bedeutet das für Menschen, die keine leiblichen Verwandten mehr haben? Müssen sie sich damit abfinden, dass es für sie keine Schwester oder Tochter, keine Mutter, keinen Bruder und keinen Vater gibt – mit aller Nähe und Verbindlichkeit, die dazugehören können?

„Freunde können keine Familie ersetzen“

Vier Jahre nach dem Tod ihrer Familie begegnete Christine Wichert 2001 auf einer China-Reise ganz zufällig zwei alten Damen, Ada und Ilse. Über Monate entwickelte sich zwischen ihnen eine immer innigere Beziehung. Die beiden Frauen hatten sich immer eine Tochter gewünscht – und Christine Wichert begann die beiden als ihre Mütter zu empfinden. „Ich war immer ein Mama-Kind gewesen“, erzählt sie über ihre Herkunftsfamilie. Als sie zwei Jahre alt war, hatten sich ihre Eltern getrennt, mit dem Vater hatte sie einen losen Kontakt. „Meine Schwester starb an Epilepsie. Der Tod meines Vaters war für mich ein Schock, da er bei einem Segelunfall ums Leben kam – ich bin Schwimmerin. Der Tod meiner Mutter war der allerschlimmste für mich. Sie starb an einer Krebserkrankung. Da hatte ich das Gefühl: Da ist jetzt niemand mehr.“ Christine Wichert erzählt von Freundschaften, die in dieser Zeit einen enormen Stellenwert hatten. „Eine Freundschaft kann verbindlich und verlässlich sein, von Liebe getragen, aber man hat dennoch die Sorge, den anderen zu sehr zu belasten. Je tiefer eine Freundschaft wird, umso weniger bröckelt sie. Aber Freunde können keine Familie ersetzen.“

Ada und Ilse konnten es. Und sie „adoptierten“ Christine Wichert „ganz unverhofft“. Die drei entwickelten miteinander eine Beziehung, die sich immer mehr wie Familie anfühlte. „Die Mütter haben mir gegeben, was ich vorher nicht kannte. Sie gaben mir Geborgenheit. Sie haben sich gesorgt, ohne zu erdrücken. Sie sind cool, frech, provokant, aber immer tolerant, verständnisvoll. Und: Sie waren zwei, das kannte ich aus meiner Familie nicht.“

Die beiden alten Frauen waren der Katalysator für den Verein Wahlverwandtschaften e.V. Seit 2002 trug Christine Wichert die Idee mit sich herum, gemeinsam mit Salima Douven entwickelte sie dann ab 2006 die Plattform, auf der sich Menschen begegnen können, die keine Familie mehr haben und sich Verwandte wünschen. 2009 wurde der Verein offiziell gegründet. „Das Thema war und ist tabuisiert“, sagt Christine Wichert. Mit den Wahlverwandtschaften will sie dieses Tabu lüften und ganz unmittelbar Menschen „das gleiche Glück ermöglichen, das ich erlebt habe“.

Keine Partnervermittlung oder Singlebörse

Als Unternehmerin ist Christine Wichert Inhaberin der Agentur Logibrand, einer Beratungsagentur für strategische Markenführung und Marketing. Auch die Wahlverwandtschaften hat sie ganz bewusst als Marke positioniert, den Markenkern beschreibt sie mit Geborgenheit und Lebensfreude. „Wir hatten eine klare Vorstellung, wen wir erreichen wollen“, sagt sie, „alle, denen eine familiäre Bindung fehlt.“ Und dafür kann es ganz unterschiedliche Gründe geben. Den Verlust der Familienangehörigen durch Tod, aber auch die bewusste Trennung von der Herkunftsfamilie.

Zunächst hatten die Gründerinnen vor allem generationenübergreifende Beziehungen im Sinn, als sie den Verein ins Leben riefen. Inzwischen stellen sie fest: Vor allem Frauen suchen eher Schwestern als Mütter oder Großmütter. Ob es vielleicht schwieriger ist, sich auf Ältere als Jüngere einzulassen, um etwas Fami­lienähnliches zu versuchen? „Mir persönlich erschien es nicht schwieriger“, sagt Christine Wichert. „Man muss allerdings schon Verständnis und Interesse für die Bedürfnisse und Nöte der anderen Generation haben und entsprechend Empathie mitbringen.“ Neben der Webplattform, auf der Menschen nach ganz bestimmten Kriterien suchen und einander finden können, gibt es inzwischen in acht deutschen Städten regionale Gruppen mit regelmäßigen Treffen. „Wir machen kein persönliches Matching und suchen auch nicht aktiv nach passenden Wahlverwandten. Man kann bei uns keine Mama bestellen und die kommt dann.“

Für alle, die über die Wahlverwandtschaften Kontakte finden wollen, gibt es klare Regeln: „Wir sind keine Partnervermittlung oder Singlebörse.“ Verbunden damit sind auf der Website Hinweise zur Erwartungshaltung, wie man einen Wahlverwandten findet … und wie nicht. Die Liste der Do's und Don'ts ist eindeutig. „Wer hier etwas will, sollte sich öffnen wollen“, sagt Christine Wichert. „Erfolgreiche Kontakte entstehen dort, wo Menschen bereit sind, von sich zu erzählen, auf andere zugehen, interessiert sind, geduldig sind und der Beziehung Zeit lassen.“ Schwierig werde es, wenn die Erwartungshaltung zu groß sei, es eine ganz klare Vorstellung vom „Objekt der Begierde“ gebe und man sich nach nur zwei Treffen vorstellt, eine neue Schwester gefunden zu haben. Auch der Hinweis, dass es keinesfalls darum gehen kann, jemanden fürs Versorgen oder Pflegen zu finden, steht auf der Don't Liste. „Es kann im Laufe der Zeit der Wunsch und die Bereitschaft entstehen, auch finanziell füreinander sorgen zu wollen. Das darf aber keinesfalls die Erwartung sein.“

Überhohe Erwartungen entstünden vor allem bei Menschen, die sehr einsam und bedürftig sind, so die Erfahrung von Christine Wichert. Dass sie mit ihrem Verein der zunehmenden Einsamkeit in unserer Gesellschaft etwas entgegensetzen kann, ist ihr bewusst und durchaus beabsichtigt. Allerdings sucht sie einen Weg, das Engagement des Vereins so zu kommunizieren, dass Menschen, die sich neue familienähn­liche Bindungen wünschen, nicht automatisch in der „Einsamkeitsecke“ stehen. Im vergangenen Jahr hat sie deshalb kaum noch Interviewanfragen angenommen. „Ich wollte nicht mehr so tränendrüsenmäßig dargestellt werden. Und auch unsere Teilnehmer und Mitglieder wollen nicht mit dem Einsamkeits-Label verbunden werden.“ Ohne Familie fehle vielen Menschen etwas. Das heiße aber nicht, dass sie automatisch einsam sind. „Ich war nicht einsam nach dem Tod meiner Familie. Ich habe ein Gefühl vermisst, das mir meine Familie gegeben hatte.“

Familie muss nicht exklusiv sein

Dabei war der thematische Bezug, der in den Medien entstand, kein Zufall. Gemeinsam mit dem Marktforschungsunternehmen Harris Interactive AG hatte Wahlverwandtschaften e.V. 2015 eine Studie zur Einsamkeit in Deutschland herausgegeben. Im Vergleich zu 1993, so ein Ergebnis, sind die Menschen einsamer geworden. Sagten 1993 noch 50 Prozent, dass sie sich überhaupt nicht einsam fühlten, so waren es mehr als 20 Jahre später nur noch 30 Prozent. Besonders einsam sind demnach vor allem die Workaholics, einsame Partner, ältere Menschen und verunsicherte Menschen. Interessant sind die Bewältigungsstrategien: Die meisten einsamen Menschen rea­gieren mit Fernsehkonsum, Lesen oder Musikhören. Erst danach folgen Kontakte zu Freunden oder Familie.

Wahlverwandtschaften versteht sich als eine Gegenbewegung zu der wachsenden Vereinsamung in unserer Gesellschaft, aber auch zu der zunehmenden Auflösung familiärer Bindungen. Christine Wichert geht es darum, der tradi­tionellen Familie ein Stück ihrer Exklu­sivität zu nehmen. „Familienbeziehungen sind nicht immer ideal“, sagt sie, „auch ich habe das ja erlebt. Aber es gibt die Sehnsucht danach.“ Bedingungslos füreinander da zu sein, eine Schwester zu haben, die bleibt … Das müsse nicht qua Geburt gegeben sein, das könne man auch ganz bewusst wählen. „Eine Wahlverwandtschaft kann im Extremfall sogar mehr Geborgenheit geben als eine echte Familie.“ Christine Wichert wagt sogar die These, dass es in einer frei gewählten Verwandtschaft weniger Eifersüchteleien gibt.
Letztlich sei der Gedanke ja nicht neu: „Die Ehe ist im Prinzip die Urform der Wahlverwandtschaft. Und dass soziale Elternschaft möglich und gut ist, das beweisen viele geglückte Adoptionen.“

Dieser Dynamik will sie mit ihrem Verein zu mehr Wirkung verhelfen. Sie ist davon überzeugt, dass es letztlich möglich sei, immer wieder neu Wahltöchter oder -patenkinder zu finden. „Da gibt es unendlich viel Liebe zu vergeben.“ Und das sei dann eine ganz besondere Form von Share Economy im familiären Kontext.

„Ich hinterlasse etwas …“

Mit dem ehrenamtlichen Engagement für den Verein hat sich Christine Wichert, die wie ihre Kollegin nicht in einem sozialen Beruf arbeitet, ein ganz neues Feld erschlossen. Beruflich arbeitete sie viele Jahre lang angestellt in großen Unternehmen, bevor sie sich 2005 selbstständig machte: Nach dem Berufs­start bei der Boston Consulting Group setzte die Betriebswirtin ihre Karriere bei BMW, Airbus und Hilti fort, „lauter große männerdominierte Marken“. Sie sagt zwar von sich, dass sie „von Anfang an frech und selbstbestimmt unterwegs“ war, aber dennoch lange nicht an eine Selbstständigkeit gedacht habe. „Ich hatte immer gute Ideen für andere, aber nicht für mich“, sagt sie im Rückblick. Als immer mehr Kunden fragten: „Kann man sie buchen?“, entschied sie sich mit knapp 40, ein eigenes Beratungsunternehmen zu gründen. „Das war genau der richtige Zeitpunkt“, sagt sie. „Ich bin ein Sicherheitstyp und dachte mir: Wenn es nicht klappt, dann kann ich in meinem Alter immer noch zurück.“

Als Beraterin ist sie Expertin für die Positionierung von Marken. Mit dem Verein Wahlverwandtschaften ist ihr das auch geglückt. Für sich persönlich hat sie noch viel mehr erreicht: „Ich habe die ehrenamtliche Arbeit gefunden, die zu mir passt, wo ich meine Erfahrungen einbringen kann. Ich hinterlasse etwas, auch wenn ich keine eigenen Kinder habe. Ich helfe, dass Menschen sie sich finden, dass sie fröhliche Stunden miteinander verbringen, einen schönen Urlaub zusammen erleben oder eine mehrjährige Geborgenheit. Es gibt mir ein gutes Gefühl, nicht nur Unternehmen zum Erfolg zu verhelfen, sondern Menschen glücklich zu machen.“

Andrea Blome ist Journalistin und Moderatorin in Münster und zurzeit vertretungsweise Redakteurin der ahzw.

Wahlverwandtschaften e.V. ist eine Plattform für Menschen, die familienähnliche verbindliche Beziehungen aufbauen wollen. Der Verein organisiert seit 2007 regelmäßig Begegnungsveranstaltungen in verschiedenen Städten und bietet auf seiner Website (www.wahlverwandtschaften.org) eine Vermittlungsplattform an.

Dr. Christine Wichert ist Vorstandsvorsitzende von Wahlverwandtschaften e.V. Sie wurde 2014 für ihre ehrenamtliche Arbeit mit dem ‚Goldenen Bild der Frau' ausgezeichnet. Der Preis wurde fünf engagierten Frauen verliehen, die Mut, Stärke und Nächstenliebe bewiesen haben. Seit dem Februar 2015 wird der Verein mit einer Schirmherrschaft durch das Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend unterstützt.

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