Ausgabe 1 / 2001 Frauen in Bewegung von Marga Bührig

Marga Bührig

Ein Selbstporträt

Von Marga Bührig

Ich finde es schwierig, eine so kurze Autobiografie zu schreiben und ich suche Zuflucht bei Worten, die von mir selbst oder von anderen bereits geschrieben sind. Der oben stehende Titel stammt aus einem Interview, ich habe ihn selbst formuliert und Freundinnen von mir haben ihn als Thema eines Symposiums zur Feier meines 80. Geburtstags gewählt. Das war vor fünf Jahren. Die viel jüngere Kollegin, die ihn vermutlich ausgesucht hatte, schrieb über mich: „Eine Schwester – unterwegs wie wir“ – keine Übermutter oder Heldinnenfigur, manchmal einen Schritt voraus, dann wieder neben uns, immer jedoch eine Weggefährtin, die uns ermutigt … Kann ich heute, mit 85 Jahren, zu dem allem noch ja sagen, ohne rot zu werden?

Ich fange mit meiner Vergangenheit an. Seit 1934 bin ich Schweizer Bürgerin und lebe in der Schweiz. Ich habe hier das Gymnasium besucht, habe hier studiert und gearbeitet. Aber geboren bin ich in Berlin. Mein Vater war Deutscher (Balte), meine Mutter Polin, eine Mischung von polnischem Adel mit jüdischen Blut. Meine Eltern behielten ihre deutschen Pässe bis zum Tode, ich konnte glücklicherweise mit dem Geld meiner jüdischen Großmutter Schweizerin werden. Im Dritten Reich hätte ich als Viertelsjüdin keine Chancen gehabt. Ich bin gerne Schweizerin, aber Wörter wie „Heimat, Vater- oder Mutterland“ kann ich nicht brauchen. Wirklich verwurzelt war ich nie an einem bestimmten Wohnort, sondern immer in der Gemeinschaft mit anderen Menschen, vorab mit meinen Eltern.
Seit mehr als fünfzig Jahren lebe ich nicht mehr allein. Während meines Studiums habe ich eine Wohngemeinschaft für Studentinnen gegründet. Es ging mir um ein gemeinsames Leben „auf der Grundlage des Evangeliums“, wie ich damals sagte. Ich machte mich, Mitstudentinnen und eine Wohnung zu suchen. Ich fand beides: zuerst die Frauen und dann die Wohnung. Im Wintersemester 1945 starteten wir – ich war damals 30 Jahre alt, beruflich vertretungsweise Lehrerin, Journalistin und eben Studentin. Ein Ziel dieses recht gewagten Aufbruchs war die Verbindung von Alltag und Glauben, von wissenschaftlicher Arbeit und Gemeinschaft, einer Gemeinschaft von jungen Frauen, die unterwegs waren zur Selbständigkeit. Als Leiterin des ganzen Unternehmens versuchte ich, nicht autoritär zu regieren, sondern Leben zu teilen.
In den ersten Jahren des gemeinsamen Lebens befreundete ich mich mit einer deutschen Studienkollegin, Else Kähler. Sie wurde Mitarbeiterin im Studen-tinnenhaus und mit mir zusammen als Studienleiterin an die Evangelische Akademie Boldern im Kanton Zürich berufen. Durch eine umfassende Tagungs- und Vortragstätigkeit entstand ein weiter Kreis von Menschen, mehrheitlich Frauen, um uns herum. Es waren verschiedene Beziehungen ganz besonderer Art. Eine davon war von besonderer Tiefe, und unser Leben mitbestimmend. Elsi M. Arnold, eine Lehrerin und Psychologin, wurde die Dritte im Bunde, und seit bald 20 Jahren leben wir nicht mehr in Zürich, sondern in Binningen/Basel in einem eigenen Haus, das wir gemeinsam kaufen konnten.

Ich möchte gerne zeigen, was aus den sehr persönlichen Erfahrungen an grundsätzlichen Erkenntnissen gewachsen ist.
Vor allem im Rahmen der Frauenbewegung habe ich gelernt, dass das heute viel ge- und missbrauchte Wort Beziehungen für mich ein ganz wichtiger Grundwert ist. Das gilt sowohl im engsten Kreis als auch weit darüber hinaus, und es gilt trotz aller Spannungen und Konflikte. Nur so kann Leben erfüllt, reich und ganz sein. Dabei meine ich nicht primär und schon gar nicht ausschließlich Zweierbeziehungen. Ich glaube zum Beispiel nicht mehr, dass Ehe und Familie das Grundmuster aller menschlichen Beziehungen sind, wie ich es einst von meinen theologischen Lehrern gelernt habe.

Meine Beziehungen mit verschiedenen Menschen, Beziehungen von verschiedener Farbe und Tiefe, mit mehr oder weniger Erotik, mit gemeinsamem Denken und Handeln: Offen und doch verbindlich sollten sie sein, rein persönlich oder / und Ausdruck eines gemeinsamen Kampfes für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, um das Thema des mir sehr vertrauten konziliaren Prozesses aufzugreifen. Es geht grundsätzlich um eine Gemeinschaft von Frauen, Männern und Kindern, von Jungen und Alten, aber auch von Männern mit Männern und Frauen mit Frauen, ohne Diskriminierung, in voller Anerkennung verschiedener Lebensformen. Der alle Grenzen von Nationalität, Kultur und Rasse übergreifenden Gemeinschaft von Frauen kommt aber in unserer Zeit und in meinem Leben eine besondere Bedeutung zu. Wir brauchen einander sehr dringlich in einer immer noch patriarchalen Gesellschaft.

Eine mir sehr wichtige Erkenntnis gehört hier noch dazu: In der feministischen Theologie habe ich gelernt, nicht mehr zwischen einer überweltlichen Liebe Gottes oder zu Gott und einer innerweltlichen Liebe zwischen Menschen, zur Natur, zu Pflanzen, Bäumen und Tieren unterscheiden zu müssen. Schon als kleines Mädchen habe ich nicht begriffen, wie ich diesen unsichtbaren Gott lieben sollte. Die amerikanische Theologin Carter Heyward nennt Gott „Macht in Beziehung“. Ich habe begriffen, dass ich mich von der Vorstellung eines übermächtigen, allmächtigen Gottes lösen darf. Wie befreiend! Statt dessen erfahre ich ihn oder sie im Leben, das uns zueinander führt, in der Liebe zur Schöpfung, in der Liebe zum Leben. Natürlich bin ich mir bewusst, wie viel Missbrauch und Schuld es in unseren menschlichen Beziehungen gibt, Neid, Besitzgier, Eifersucht, Vergewaltigung, Hass. Trotzdem glaube ich, dass die Liebe stärker ist als der Tod.

Ein zweiter Gedankengang: Ich bin überzeugt, dass Herrschaft von Menschen über Menschen und die schrankenlose Beherrschung und Vergewaltigung der Natur ungerecht und lebensfeindlich ist. Auch hier meine ich nicht nur das Verhalten einzelner Menschen. Ich denke an die vielerlei Formen von Herrschaft: an die immer noch hierarchischen Strukturen in unseren Kirchen ebenso, wie an die direkte Ausübung von Gewalt an Kindern und Jugendlichen, an den rücksichtslosen Neokapitalismus, an die arrogante Verachtung von Schwächeren und Minderheiten, oder unseren Anspruch, die ganze Welt wirtschaftlich und kulturell zu beherrschen. Immer geht es um den Anspruch auf Macht. In diesem Zusammenhang möchte ich an eine gut bekannte biblische Geschichte erinnern (Markus 10, 42-45), an den Eifer zweier Jünger, unbedingt sehr nahe bei Jesus sitzen zu können. Jesus weist das von sich. Solche Streite um den besten Platz gebe es zwar unter den Großen in der Welt, aber nicht bei ihm. Die „Großen“ sollen sich für das Wohl aller einsetzen.

Noch ein dritter Gedankengang: Mein Herz hängt an biblischen Bildern vom Reich Gottes. Eines davon möchte ich herausgreifen, das Bild vom großen Gastmahl, wie es in Jesaja 25,6ff beschrieben wird: „Und rüsten wird Gott auf diesem Berg allen Völkern ein Mahl von fetten, markigen Speisen, von alten, geläuterten Weinen. Und vernichten wird er auf diesem Berge die Hülle, von der alle Nationen umhüllt sind, und die Decke, die über alle Völker gedeckt ist …“ Ein festliches Bankett: aber nicht nur für eine kleine Schar, die es sich leisten kann oder zu einer bestimmten Schicht gehört, sondern für alle Völker. Gott gönnt allen die guten Gaben der Schöpfung, nicht nur das Existenzminimum. Zu diesem Fest gehört etwas Besonderes: Gott wird die Hülle wegziehen, die den am Fest Teilnehmenden den Blick aufeinander verdeckt. Ist es eine dunkle Wolke von Leid und Sorgen? Oder könnte es auch eine Decke von Vorurteilen, Falschmeldungen, von Lügen sein? Was wissen wir wirklich von den Menschen der sogenannten Zweidrittelwelt oder über Angehörige anderer Kulturen und Religionen, die bei uns leben, oder über uns selbst und über die Vergangenheit unseres Volkes? Es liegen viele Decken über uns, auch Hüllen der Harmlosigkeit, der Gleichgültigkeit und der Bequemlichkeit. Jeder auch nur kleine Durchbruch zur Wahrheit kann helfen, und Gott zieht mit an der Decke.
Wann wird das sein? Wie wird das sein? Wird es überhaupt sein? Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass dieses Fest der Völker schon mancherorts gefeiert wird und dass diese Hülle immer wieder da und dort durchlöchert wird. Die biblischen Visionen helfen mir, weiterhin das Leben zu lieben und Gerechtigkeit zu suchen, soviel und so lange ich kann.


Dr. Marga Bührig, Binningen

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