Ausgabe 1 / 2020 Frauen in Bewegung von Anne Borucki-Voß

Maria 2.0

Aufstand der Katholikinnen

Von Anne Borucki-Voß

Irgendwann Anfang 2019 habe ich im Internet zum ersten Mal etwas über Maria 2.0 gelesen. In Münster hatten sich Frauen, die sich regelmäßig trafen, um die Papstenzyklika Evangelii gaudium zu lesen, zu dieser Initiative zusammengefunden.

Im Herbst 2018 war die sogenannte MHG-Studie1zum sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in der katholischen Kirche veröffentlicht worden. Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs entsetzte die Frauen ebenso wie die zögerlichen Reaktionen der deutschen Bischöfe darauf. Sie wollten nicht einfach nach einer Schrecksekunde zur Tagesordnung übergehen. Sie starteten eine Online-Petition, einen offenen Brief an Papst Franziskus, in dem sie die Überstellung der Täter an weltliche Gerichte forderten – aber auch die Aufhebung des Pflichtzölibats und den Zugang von Frauen zu allen Ämtern der Kirche. Und sie riefen zu einer Woche Kirchenstreik auf. Vom 11. bis zum 18. Mai sollten Frauen keine Kirche betreten, ihre ehrenamtlichen Dienste ruhen lassen und stattdessen Gottesdienste vor den Kirchentüren feiern. Eine der Initiatorinnen, die Künstlerin Lisa Kötter, malte ein Bild einer Marienikone mit einem Pflaster über dem Mund. Es ist zum Erkennungszeichen von Maria 2.0 geworden. Bis zum Beginn der Aktionswoche fertigte sie jeden Tag das Bild einer Frau mit einem Pflaster über dem Mund an.2

Der Name Maria 2.0 knüpft daran an, dass die Gottesmutter Maria in der katholischen Kirche gerne Frauen als Vorbild hingestellt wird. Demütig und keusch wie Maria sollten Frauen sein und vor allem im Mutter-Sein aufgehen. Doch der Blick in die Bibel offenbart eine andere Maria, eine, die im Magnifikat (Lk 2,46-55) die Kraft Gottes besingt, die die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht. Das gängige Marien- und Frauenbild sollte ein Update erfahren im Rückgriff auf die biblische Maria. Maria 2.0 eben.

Die Petition war am PC schnell unterzeichnet – doch wie konnte eine, wie konnte meine Beteiligung an der Aktionswoche in Berlin aussehen? Es gab erste Gespräche mit Frauen, die sich mit mir schon seit Jahren für Frauen engagieren, unter anderem in der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd). Schnell stand fest: Wir müssen auch in Berlin etwas machen. Die Szene frauenbewegter katholischer Frauen in Berlin ist überschaubar. Irgendeine musste die Initiative ergreifen. Also habe ich einfach mein Netzwerk genutzt und interessierte Frauen per E-Mail zu einem ersten Treffen in das Ökumenische Frauenzentrum Evas Arche eingeladen, an einen „neutralen“, keinen katholischen Ort.

Von den Initiatorinnen aus Münster gab es nicht viele Vorgaben. Um auf die Anliegen der Petition aufmerksam zu machen, sollte und konnte jede Gruppe vor Ort die passende Aktionsform suchen. Unser erster Gottesdienst in Berlin fand zum Beispiel an einem Wochentag gegen Abend statt, nicht wie andernorts oft am Sonntag. Ein Jahr später können wir in Berlin auf zwei zentrale Gottesdienste im Mai und im November auf dem Bebelplatz vor der Hedwigskathedrale zurückschauen. Trotz ?des Regenwetters an beiden Terminen fanden sich 200 beziehungsweise 150 Menschen ein;  angesichts der Minderheitssituation der katholischen Kirche in Berlin eine durchaus beachtliche Zahl.

Die Teilnehmer*innen der Gottesdienste waren sehr unterschiedlich: Frauen, die sich schon seit Jahrzehnten mit dem „Frauenthema“ befassen, junge Frauen, Männer, Ordensfrauen, evangelische Frauen, die ihre Solidarität mit den Anliegen der katholischen Schwestern zeigen wollten, Frauen, die ich aus anderen Zusammenhängen kenne und mit denen ich bei dieser Veranstaltung nicht gerechnet hätte. Das zeigt: Die Anliegen von Maria 2.0 stoßen auf breite Resonanz. Entsprechend groß war auch das Medieninteresse. Das ist bei kirchlichen Themen in Berlin sonst nicht der Fall und hängt sicher damit zusammen, dass Maria 2.0 bundesweit so viel Aufmerksamkeit bekommen hat.

Beflügelt hat mich und uns, Teil einer größeren Bewegung zu sein. Es hat uns gut getan, während der Aktionswoche im Mai an jedem Tag von neuen Aktionen an anderen Orten zu lesen – vom Flashmob vor dem Ulmer Münster über die Mahnwache zur Priesterweihe im Freiburger Münster bis zu den vielen Gottesdiensten, die landauf, landab vor den Kirchentüren stattfanden. Die eigene kleine Aktion trat ein Stück in den Hintergrund, die verschiedenen Aktionen waren eingewoben in ein großes Netz.

So unterschiedlich wie die Teilnehmer*innen der beiden Gottesdienste sind auch die Frauen, die inzwischen in der Berliner Orga-Gruppe mitarbeiten. Frauen aus dem größten Frauenverband, der kfd, waren von Anfang an vertreten, nach dem Event im Mai kam auch der Katholische Deutsche Frauenbund KDFB dazu. „Normale“ Gemeindemitglieder sind vertreten und junge Frauen. Eine kleine Gruppe sind wir immer noch. Es bleibt eine Herausforderung, Aufsehen erregende Aktionsformen zu entwickeln und sich dabei nicht zu überfordern.

Die inhaltlichen Anliegen von Maria 2.0 sind nicht neu. Die katholischen Frauenverbände setzen sich schon lange für mehr Geschlechtergerechtigkeit in ihrer Kirche ein, mussten jedoch vorsichtig agieren, um ihren Platz in der katholischen Kirche nicht zu verlieren.3 Mit ihrer Hartnäckigkeit haben sie den Boden für Maria 2.0 bereitet. Umgekehrt hat Maria 2.0 auch dazu geführt, dass in den Verbänden die Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit in der Kirche jetzt wieder offensiver angemahnt wird.4 Die katholischen Bischöfe verhalten sich höchst unterschiedlich. Es gibt Hardliner, die den Frauen die ernste Sorge um die Kirche absprechen. Andere würden gerne dazu beitragen, dass die Anliegen von Maria 2.0 Wirklichkeit werden. Eine große Gruppe signalisiert Gesprächsbereitschaft, hält aber wirkliche Veränderungen für unmöglich oder unangemessen.

Die Bewegung Maria 2.0 hat sicher auch einiges dazu beigetragen, dass der Synodale Weg von der Deutschen Bischofskonferenz5 und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken begonnen wurde. In vier thematischen Foren werden wichtige Felder diskutiert, in denen Veränderungen gefordert werden. Auch hier drohte das Frauenthema anfangs „hinten runterzufallen“, doch schnell war klar, dass es ohne nicht geht; das entsprechende Forum heißt „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“. Die Initiative Maria 2.0 beteiligt sich nicht mit offiziellen Delegierten am Synodalen Weg. Die Münsteraner Initiatorinnen sehen ihre Aufgabe eher in der kritischen Begleitung, bei der sie sich nicht in feste Strukturen einbinden lassen wollen.

Ein wichtiger Baustein beim „Weiberaufstand“6 in der katholischen Kirche ist das Engagement der Ordensfrauen. Im Kloster Fahr in der Schweiz haben Benediktinerinnen um Priorin Irene Gassmann das „Gebet am Donnerstag“ ins Leben gerufen. Jeden Donnerstag beten sie im Rahmen des klösterlichen Nachtgebets um Erneuerung in der Kirche.7 Schnell hat das Gebet Kreise gezogen. In verschiedenen Klöstern in Deutschland und der Schweiz wird es wöchentlich gebetet, an anderen Orten monatlich. Ordensfrauen machen mit eigenen Aktionen deutlich, dass sie eine Veränderung der Rolle von Frauen in der katholischen Kirche herbeisehnen, und sie beteiligen sich an Netzwerken von Frauen wie Voices of Faith8 oder bei Catholic Women’s Council, der Vernetzung von Frauenverbänden und -initiativen aus Deutschland, der Schweiz, Liechtenstein, Südtirol und Österreich.9


Papst Johannes Paul II. wollte vor 20 Jahren mit dem Schreiben Ordinatio sacerdotalis10 die Diskussion um Weiheämter für Frauen ein für alle Mal beenden. Tatsächlich verebbte daraufhin die öffentliche Diskussion und wurde nur im kleinen Kreis weitergeführt. Doch jetzt ist sie wieder da – mit einer Vehemenz, die ich kaum für möglich gehalten hätte.

Viele Hoffnungen waren auf „Querida Amazonia“ gerichtet – das Schreiben, das Papst Franziskus nach der Amazonas-Synode im Februar 2020 veröffentlicht hat.11 So engagiert der Papst hier für die Menschenwürde der indigenen Bevölkerung und Umweltschutz eintritt, so unkonkret bleibt er bei der Frauenfrage und ergeht sich stattdessen in bilderreicher Sprache über die Rolle „der“ Frau. Viele Frauen und Frauenverbände, die konkrete Schritte hin zu einer Öffnung der Weiheämter für Frauen erwartet hatten, waren und sind enttäuscht. Zugleich wird allerdings zunehmend unüberhörbar, dass Frauen sich nicht mehr den Mund verbieten lassen. Ohne um Erlaubnis für ihr Engagement in der Kirche zu fragen, füllen sie mit großem Selbstbewusstsein die Freiräume, die sie bereits haben, und suchen neue.

Einigermaßen erstaunt stelle ich fest: Ich habe im letzten Jahr in unterschiedlichen Kontexten so viele gute, interessante, engagierte Gespräche und Diskussionen zum Thema „Frauen in der katholischen Kirche“ geführt wie in den letzten 20 Jahren zusammen nicht. Das Frauenthema steht auf der Agenda, auf keiner Ebene kommt man darum herum. Bei den katholischen Frauen nehme ich eine große Kraft wahr und zugleich auch viel Fantasie und Fröhlichkeit bei den unterschiedlichsten Aktionen. Ihre Verbundenheit untereinander spielt für viele Frauen zunehmend eine größere Rolle als bischöfliche oder päpstliche Verlautbarungen. Die Bewegung Maria 2.0 steckt an und zieht Kreise. Auch bei mir hat sie dem Engagement für Geschlechtergerechtigkeit neuen Schwung gegeben.
Anmerkungen
1)  Die vom Verband der Diözesen Deutschlands in Auftrag gegebene Studie entstand als interdisziplinäres Forschungsverbundprojekt zur Thematik „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“. Aufgrund der Kürzel der Institutsstandorte der Konsortiumsmitglieder (Mannheim, Heidelberg, Gießen) wurde dem Forschungsprojekt das Akronym „MHG-Studie“ verliehen. – Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/MHG-Studie
2)  www.mariazweipunktnull.de/frauenbilder/
3) Die kfd hat 1999 Leitlinien verabschiedet, die unter anderem Forderungen zu den Themen „Frauenleben sind vielfältig“ und „Frauen und die Dienste und Ämter in der Kirche“ enthielten. Diese Forderungen wurden auf bischöflichen Druck in einer außerordentlichen Delegiertenversammlung im Jahr 2000 aus den Leitlinien herausgenommen.
4) Am 21. Juni 2019 verabschiedete die kfd-Bundesversammlung das Positionspapier „gleich und berechtigt“, in dem alle Dienste und Ämter für Frauen in der Kirche gefordert werden.
5) www.synodalerweg.de
6) Vgl. Christiane Florin: Der Weiberaufstand. Warum Frauen in der katholischen Kirche mehr Macht brauchen, Kösel 2017 – mehr unter www.weiberaufstand.com
7) www.gebet-am-donnerstag.ch
8)  https://voicesoffaith.org
9) www.kfd-bundesverband.de/aktuelles/artikel/gruendung-frauennetzwerk
10) Apostolisches Schreiben von Papst Johannes Paul II., veröffentlicht am 22. Mai 1994, in dem er die Lehre über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe ausführt.
11)  Im Wortlaut zu finden unter: ?www.vaticannews.va/de/papst/news/2020- 02/exhortation-querida-amazonia-papst- franziskus-synode-wortlaut.html

Anne Borucki-Voß hat katholische Theologie und Germanistik studiert. Nach beruflichen Stationen beim BDKJ (Bund der Deutschen Katholischen Jugend) und als Religionslehrerin arbeitet sie seit 2010 als Theologische Referentin im Ökume- nischen Frauenzentrum Evas Arche in Berlin. Ehrenamtlich engagiert sie sich beim Weltgebetstag, bei Maria 2.0 und in ihrer Kirchengemeinde. – www.evas-arche.de

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