Mein Schwiegervater hat eine typische Eigenschaft der Entwurzelten, also derer, die nicht wirklich dort zu Hause sind, wo sie wohnen, und auch nicht richtig da hingehören, wo sie herkommen. Wenn er in Deutschland ist, gibt es für ihn nichts Schöneres als Italien, das Land seiner Vorfahren und des Weins und so weiter. Alles ist dann in Italien besser. Das Wetter sowieso, aber auch die Menschen, die dort so fröhlich und gastfreundlich sind und immer einen Scherz auf den Lippen haben und überhaupt so kinderlieb und noch dazu ausgezeichnete Köche sind. Dazu die Landschaft und der Duft und die schönen Frauen allüberall und eben das diamantene Meer. Diese folkloristischen Hymnen gipfeln jedes Mal im Absingen neapolitanischer Volksweisen. Fast hat man aus seinen Schilderungen den Eindruck, als sei Italien eine Art riesiges Schlumpfhausen.
Deutschland dagegen ist natürlich mies, kalt und grau. Die Menschen sind nur an Geld interessierte Vorteilsnehmer, die niemandem etwas gönnen, Kinder am liebsten immer einsperren und nie, nie lachen. Und dann das Essen, immer diese Knödel und Kartoffeln, dieser Schweinefraß. Oh, und wenn er nur könnte und nicht diesen riesigen Druck von wegen Karriere und so hätte, dann würde er zurückkehren in das Land von Dante und Machiavelli. Er würde über Weinberge schauen, dichten und immerzu polenta essen.
„Dann kehr doch zurück“, knurre ich immer in Gedanken. Zwar bin ich wirklich kein Patriot, und es gibt ganz bestimmt schönere Länder als das, aus dem ich komme. Aber dieses Gemecker kann einem schon ganz schön auf den biscotto gehen. Erfreulicherweise wendet sich das Bild just in der Sekunde, in der Antonio italienischen Boden betritt. Gegenüber Cousins und Cousinen tritt er stets als Botschafter der deutschen Kultur im Allgemeinen und des deutschen Sports, der deutschen Politik, des deutschen Sozialwesens, der deutschen Automobilindustrie und der deutschen Küche im Besonderen auf. Letztere hat nämlich einiges mehr zu bieten als immer nur gegrilltes Fleisch, Tomaten und Nudeln. Was man beispielsweise aus Kartoffeln machen könne, sei schier unglaublich …
Jan Weiler
aus:
Maria, ihm schmeckt's nicht
© 2004
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Berlin
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