Alle Ausgaben / 2006 Andacht von Luzia Sutter Rehmann

Maria steht auf

Eine adventliche Andacht zu Lukas 1, 26-40

Von Luzia Sutter Rehmann


26Im sechsten Monat aber wurde der Engel Gabriel von Gott in einen Ort Galiläas gesandt, der Nazaret hieß, 27zu einer jungen Frau. Diese war verlobt mit einem Mann namens Josef, aus dem Hause Davids. Der Name der jungen Frau war Maria. 28Als er zu ihr hinein kam, sagte er: „Freue dich, du bist mit Gnade beschenkt, denn die Lebendige ist mit dir!“ (1)

Diese Geschichte kennen wir so gut! Fast mundet sie uns wie die Weih¬ nachts¬ plätzchen selbst. Wir erkennen sie an ihrem Geschmack, den sie auf unser Zunge hinterlässt: Weihnachten. Wir sehen Krippenspiele vor uns, erinnern uns an Inszenierungen, an denen wir selbst mitgespielt oder mitgearbeitet haben, an Flötenmusik und Kindergesichter. Ein solcher Text stellt ein Stück Heimat dar. Dazu gehört der Wiedererkennungseffekt, das Aufsteigen vertrauter Gefühle, aber auch kritischer Reaktionen wie: „Die Jungfrauengeburt lehne ich ab“, „Marias Unterwürfigkeit empfinde ich negativ“ oder „Frauen kommen ja nur vor als Gebärmütter von Söhnen.“

Verteilen von sehr gut bekanntem oder sogar etwas altem (?) Weihnachtsgebäck.

Mit dieser Geschichte wurden wir schon so oft gefüttert, dass es schwierig ist, sie so zu lesen, als ob wir sie zum ersten Mal hören würden! Es gibt viele solche Geschichten in unserem Leben, die nicht neu sind. Alte Geschichten, die wir mit uns herumtragen, die wir nicht loswerden. Zähe Geschichten, die immer wieder unsere Wahrnehmung und unser Verhalten beeinflussen, so dass wir die Gegenwart nicht so sehen können, wie sie eigentlich ist.

In der Bibel in gerechter Sprache sind diese Verse neu übersetzt. Der Vorteil einer neuen Übersetzung liegt darin, dass wir einen Text leicht verändert hören. Damit werden wir hellhöriger auf das, was da steht, und hören nicht nur die Klänge in uns aufsteigen, die wir schon kennen.

Verteilen von einer ungewohnten Sorte Plätzchen, vielleicht sogar salzigen?

„Übersetzen“ hat mit „hinüber setzen“ zu tun, wobei mir das Bild einer Furt in den Sinn kommt: Wie kommen wir vom alten griechischen Text zu einer uns verständlichen Sprache, von hier nach dort? Wir müssen genau schauen, wo die sicheren Steine sind, wo die glitschigen Stellen, und vielleicht kann es nicht trockenen Fußes geschehen, aber hoffentlich, ohne dass etwas in die Brüche oder verloren geht! Den alten Text aus dem ersten Jahrhundert in unsere Zeit zu übersetzen, ist zudem schwierig, weil wir so viele Geschichten mit diesem Text haben. Er wurde uns vor die Nase gehalten – als Bild von Künstlern, als Glaubensstück unserer Religion, auch als vorbildliches weibliches Verhalten. Sehen wir überhaupt noch, was sich da abspielt?

Lied: Mache dich auf und werde Licht (Kanon)

Beginnen wir von vorne und gehen Stück für Stück auf die Reise, über die Furt. Lesen wir den Text so, dass wir aufmerksam sind für die Momente der Verwandlung, die Maria erlebt:

26Im sechsten Monat aber wurde der Engel Gabriel von Gott in einen Ort Galiläas gesandt, der Nazaret hieß, 27zu einer jungen Frau. Diese war verlobt mit einem Mann namens Josef, aus dem Hause Davids. Der Name der jungen Frau war Maria.

Ein Örtchen in der nördlichen Provinz des römisch besetzten Palästina ist der Schauplatz der Handlung. Nazaret ist in unseren Ohren für immer mit Jesus verbunden und hat daher einen fast heiligen Klang. Doch damals, als die Maria dort lebte, war Nazaret ein völlig unbedeutender Ort, wo sich „Fuchs und Hase gute Nacht sagen“. Es gibt keine Verheißungen für Nazaret, keine Prophetensprüche oder gewichtigen Erinnerungen. Nazaret könnte überall sein, wo es den Menschen nicht besonders gut geht, also auch bei uns.

Die Teilnehmerinnen können ihre Orte nennen, wo sie wohnen, arbeiten oder die Orte, mit denen sie etwas Wichtiges verbinden, die aber nicht berühmt sind.

Maria hieß eigentlich Mirjam. So hießen bei uns lange Zeit unzählige Mädchen. Auch im Neuen Testament wimmelt es von Marien – Maria Magdalena, Maria des Jakobus, Maria von Bethanien, oder wie es Paulus schreibt: „Grüßet Maria, die viel gearbeitet hat für den Herrn“ (Röm 16,6) – irgendeine Maria eben. Die Namen der jungen Mädchen heute klingen ganz anders. Viele Länder mischen sich darin, verschiedene Religionen begegnen sich in Vornamen.

Die Teilnehmerinnen können ihren Vornamen nennen oder denjenigen ihrer Töchter. Was denken sie, dass die Namen bedeuten?

Mirjam hieß die größte Prophetin des jüdischen Volkes, die Schwester von Mose und Aaron, die das Volk beim Auszug aus Ägypten durch das Schilfmeer geführt hat (Ex 15,21). Wer damals ein Mädchen so nannte, knüpfte an diese Geschichte an und damit an die prophetische Führerin, die voranschritt ins neue Land, die den Weg durch unwegsames Gebiet gewiesen hatte! Also längst vor der Sache mit dem Engel war Maria eines jener Mädchen, die dem Volk den Weg weisen sollten in eine andere Zukunft, ohne Sklavenarbeit und Fremdarbeiterstatus. Maria war ein Name mit Gewicht, mit Auftrag und Hoffnung.

Kennen Sie noch junge Josefs? Josef hatte bei uns eine etwas tragische Rolle. Man dachte sich: Dass er die Frau heiratet, die von einem anderen schwanger ist, zeichnet ihn als sexuell müde aus. Er wollte gar nicht mehr so viel von seiner Frau, darum berührte er sie nicht (Mt 1,25). Also dachte man, er müsse alt gewesen sein.
Doch sein Name knüpft an den berühmtesten Sohn Jakobs an. Dieser galt ja als sehr schön und verträumt. Seine Fähigkeit zu träumen rettete ihm schließlich das Leben. Der Jakobssohn spielte in einer Hungerkatastrophe eine wichtige Rolle, verteilte die Lebensmittel geschickt. Jakob und seine Söhne kamen deswegen nach Ägypten, um Korn zu kaufen, und Josef gab ihnen, was sie brauchten.
Auch bei Matthäus träumt Josef ausgiebig und flieht nach Ägypten. In Josef steckt viel mehr, als wir meinen! „Josef“ heißt: Mach weiter! Lass dich nicht unterkriegen! So gesehen, passen Josef und Maria ausgezeichnet zusammen: zwei Namen, die mit Hunger und Sklavenarbeit, mit Emigration und Ägypten, mit Rettung und Befreiung verbunden sind. Josef, der lebensrettend träumt und sich nicht unterkriegen lässt, und Maria, die ihr Volk durch unwegsames Land führt – was für Eltern!

Die Teilnehmerinnen können sagen, wie sie sich Mirjam und Josef vorstellen.

Die ganze sexuelle Geschichte, von wegen Jungfräulichkeit und altem müden Mann, können wir in Lk 1, 26f nicht finden. Das ist ein Produkt späterer Zeit. Maria war parthenos, d.h. ein mindestens zwölfeinhalb Jahre altes Mädchen. Maria wird zu Beginn über ihren Wohnort definiert, über ihren Zivilstand und ihr Alter. Das Bedeutendste an ihr war ihr Name, der die Hoffnungen erahnen lässt, die in der Bevölkerung schwelten.

28Als er zu ihr hinein kam, sagte er: „Freue dich, du bist mit Gnade beschenkt, denn die Lebendige ist mit dir!“ 29Sie aber erschrak bei diesem Wort, und sie fragte sich, was es mit diesem Gruß auf sich habe.

Da kommt plötzlich ein forscher Mann – mit Flügeln oder ohne – und erschreckt das Mädchen, und am Ende ist sie schwanger. So war und ist es oft im Leben von Frauen. Wir sind es gewohnt, junge Mädchen als sexuelle Objekte zu sehen. Die Blicke auf die Mädels, ihre Kleidung, ihre Körper, wie sie sich geben – diese Blicke sind gnadenlos. Davon ist im Text nichts zu spüren. Da kommt eine Botschaft zu Maria, eine Energiewelle erreicht sie, ein Licht geht ihr auf, sie spürt die Nähe der Lebendigen. Mirjam erlebt Gott hautnah. Sie wird hier nicht nur angesprochen, sondern berufen, beauftragt. Diese Szene ist mit einer Prophetenberufung zu vergleichen.

Es ist wichtig, hier den Gottesnamen nicht mit „Herrn“ wiederzugeben, weil damit die sexualisierte Note der Begegnung verstärkt würde, ebenso das Machtgefälle zwischen dem Herrn und dem jungen, dummen Mädchen. Viele Herren haben dieses Machtgefälle ausgenutzt und alles getan, um es aufrecht zu erhalten. Im Text aber ist davon keine Rede. Das Erschrecken Marias ist dasselbe wie das der Hirten auf dem Feld oder des Zacharias im Tempel. Es gehört zu Gotteserfahrungen, zu Erfahrungen von existenzieller Tiefe.

Maria denkt, sie überlegt, was diese Beauftragung für sie heißt. Sie fragt sich, was sich nun in ihrem Leben verändern muss, wenn sie die Nähe Gottes auf sich, in sich, um sich spürt. Dieses Nachdenken zeigt, dass sie bereit ist, Neues zuzulassen, aufzunehmen.

34Maria aber sagte zum Engel: „Wie soll dies geschehen, da ich von keinem Mann weiß?“ 35Der Engel antwortete ihr: „Die heilige Geistkraft wird auf dich herabkommen und die Kraft des Höchsten wird dich in ihren Schatten hüllen. Deswegen wird das Heilige, das geboren wird, Kind Gottes genannt werden. 36Siehe, Elisabet ist mit dir verwandt: Sie hat in ihrem Alter ein Kind empfangen und dieser Monat ist der sechste für die, die unfruchtbar genannt wurde. 37Denn alle Dinge sind möglich bei Gott.“

Maria wird bei uns oft verniedlicht. Ein junges Mädchen, manchmal sogar blond dargestellt und wie „eine Blondine“ unbedarft, naiv. Hier haben wir aber einen Dialog, wie er nur sehr selten anzutreffen ist: ein Gespräch zwischen einem göttlichen Boten und einem Menschen. Marias Frage ist diejenige, die wir alle haben: Wie kommt die Jungfrau zum Kind? Sie will wissen, wie Beauftragung und Biologie zusammengehen. Oder sollen wir umgekehrt fragen: Kann ich als Mädchen, als Frau denn…? Wie kann ich Mutterschaft und Prophetie, Kinder und Beruf(ung) verbinden?
Die Antwort ist wunderbar: Du wirst Kraft spüren. Mit dieser Kraft wirst Du Prophetin – voller Leben, voller göttlicher Energie, voller Verwandlungskraft. Diese Kraft wird in dir wohnen wie ein Kind im Uterus. Was daraus erwächst – ein Kind, neue Freundschaften, eine Be¬ freiungsbewegung – kommt aus dieser Nähe zwischen dir und der Lebendigen.

Gebet

Welche Kraft hat das junge Mädchen durchströmt?
Die Kraft der Lebendigen, die beflügelt und belebt.

Haben wir auch schon diese Kraft erfahren?
Auch wir haben schon neues Leben aufkeimen spüren,
in unserem Körper, in unserem Herzen, in unserer Seele.

Gottes Kraft ist es, die uns schiebt und stößt,
damit unsere Haut sich dehnt und wächst,
damit wir zu enge Schuhe abstreifen,
damit wir trübe Brillen putzen,
damit wir es wagen, genau hinzusehen.

Mirjam verkörpert Gottes Kraft,
indem sie ihren Auftrag annimmt und
sich aufmacht, bereit das Neue zu leben.

Gottes Kraft verändert unentwegt,
fließt über uns, in uns,
strömt durch uns
mit lebendigem Atem, pulsierender Freude,
Halleluja amen.

Gemeinsames Singen des Alleluja (Kanon: nach einem Motiv aus „Exsultate, jubilate“ von Mozart)

Nun hat Maria verstanden. Jetzt sagt sie von sich, dass sie Gottes Sklavin ist. Sie fasst ihre Beauftragung in diese Worte. Nun ist sie nicht mehr die kleine Verlobte aus Nazaret, jetzt kommt sie der Hoffnung, die in ihrem Namen schlummert, bedeutend näher! Sie gehört Gott, der Lebendigen, mit Haut und Haar, mit Herz und Verstand:

38Maria sagte: „Siehe, ich bin die Sklavin Gottes. Es soll geschehen, wie du mir gesagt hast.“ Der Engel aber ging fort. 39In diesen Tagen stand Maria auf. Sie wanderte eilig durch das Gebirge in eine Stadt Judäas. 40Sie ging in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabet.

Maria steht auf. Dieses „Aufstehen“ ist dasselbe griechische Verb, das im Lk gebraucht wird, wo Jesus auferstanden ist (Lk 24,46). Maria hat eine Engelsbegegnung, erlebt Gottesnähe, und als Antwort darauf bezeichnet sie sich als Gottes Sklavin und steht auf. Die Nähe der Lebendigen hat Maria „aufgestellt“, inspiriert, verwandelt.
So eilt Maria über das Gebirge nach Judäa. Sie verlässt ihren Ort, sie lässt ihre Kindheit hinter sich, ihr früheres Leben. Sie überwindet Hindernisse, denn sie ist ergriffen von der Wandlungskraft Gottes, für die nichts unmöglich ist.
Sie geht in das Haus des Zacharias – und begrüßt Elisabet: „Freue dich, Elisabet, Gottes Kraft ist mit Dir!“ Somit gibt sie den erfahrenen Gruß weiter. Sie setzt fort, was der Engel bei ihr angefangen hat.

So gesehen, ist diese Geschichte eine Übergangsgeschichte. Maria erlebt die Nähe der Lebendigen, in sich und um sich – das ist nicht nur die Geschichte einer wunderbaren Schwangerschaft, sondern eine Berufung einer Prophetin und eine Auferstehungsgeschichte. Maria aber steht auf – gegen die Lethargie in ihrem Dorf, gegen die tägliche Gewalt, sie steht auf voller Schwung und Kraft, erfüllt mit einem Ziel und einem Auftrag. Und als allererstes gibt sie den Gruß weiter, den Segen, den sie selbst erfahren hat.

Lied: Gottes Macht erhalte dich. Reisesegen, von Eugen Eckert (s.S. 49).

Anschließendes Gespräch über die Auf¬ brüche der anwesenden Frauen, oder über die Aufbrüche der Frauen im Sinne der Befreiungsbewegungen des letzten Jahrhunderts, über die Aufbrüche, die geschehen sind (Anknüpfung an die Kämpfe der Frauen) und die noch ausstehen (Ausblick auf notwendige Kämpfe, die noch geführt werden/ werden müssen).

Dr. phil. Luzia Sutter Rehmann wurde nach Theologiestudium und Vikariat in Basel zur Pfarrerin ordiniert und arbeitete mehrere Jahre als Leiterin der Projektstelle für Frauen der Ev.-reform. Kirche Basel-Stadt. 1994 promovierte sie im Fach Neues Testament und verfasste anschließend ihre Habilitationsschrift. Als Übersetzerin des Lukas-Evangeliums hat sie im Projekt „Bibel in gerechter Sprache“ mitgearbeitet. Sie lehrt Neues Testament an der theologischen Fakultät der Universität Basel und lebt mit ihrer Familie in Binningen.

Anmerkungen:
(1)
Die Andacht verwendet durchgängig die Übersetzung der Autorin für die Bibel in gerechter Sprache. In dieser Bibelübersetzung wird der Name Gottes auf verschiedene Weise wiedergegeben, z. B. als „der Ewige“, „die Lebendige“, „GOTT“, und jeweils grau unterlegt (hier: fett kursiv).

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