Alle Ausgaben / 2008 Frauen in Bewegung von Anja Jungchen

Marion Döbert

Ihr Kreuz ist die Schrift

Von Anja Jungchen


Vor 28 Jahren verdiente sie sich nebenbei mit Volkshochschul-Kursen ein wenig Geld damit, die Lese- und Schreibkompetenzen von Müttern zu verbessern. Und war schockiert, als sie feststellte, dass es so gut wie keine Hilfsangebote für Menschen gab, die nicht oder nur teilweise lesen und schreiben können. Heute ist Marion Döbert Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Alphabetisierung e.V. und Fachbereichsleiterin an der VHS Bielefeld. Sie ist maßgeblich daran beteiligt, dass das Thema „funktionaler Analphabetismus“ in Deutschland zur Sprache kommt. 2003 erhält sie für ihre Arbeit das Bundesverdienstkreuz.


Für das Interview mit Marion Döbert ist nur eine halbe Stunde Zeit. Eine halbe Stunde für viele Fragen. Lesen und schreiben können, ist das nicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit? Oder sollte es zumindest sein? In Deutschland gibt es schließlich eine Schulpflicht, und dass eine Frau nicht lesen und schreiben kann, mag in der Dritten Welt, aber doch nicht in Deutschland vorkommen? Weit gefehlt, erfahre ich von Marion Döbert. 1978 sind erste Alphabetisierungskurse eingeführt worden, und auch im Jahr 2008 nehmen rund 20.000 Erwachsene an den VHS-Kursen teil. Die Statistik geht von 4 Millionen Erwachsenen in Deutschland aus,
die nicht oder nur teilweise lesen und schreiben können. „Funktionaler  Analphabetismus“ heißt das dann.

„Und was bedeutet das genau?“ frage ich Marion Döbert und erfahre, dass betroffene Frauen zwar ihren Namen schreiben und einige wenige Einzelwörter lesen können, zusammenhängende Texte jedoch nicht. Den Elternbrief aus der Schule zum Beispiel oder die Warnhinweise auf den Reinigungsflaschen können sie nicht lesen. Geschweige denn Briefe oder die Tageszeitung. All das, was den meisten von uns heute selbstverständlich zu sein scheint, ist für diese Frauen eine unüberwindliche Hürde. Und dann sind da auch noch diejenigen, die zwar lesen und schreiben können, jedoch den Anforderungen des Arbeitslebens nicht genügen, weil sie dabei zu viele Fehler machen. Diese Menschen gehören zur Gruppe der so genannten „Schreibanalphabeten“. Ein hartes Wort.


Ihre Scham mitfühlen

Auf der Suche nach einem Job ohne Schrift bleibt vielen dieser Frauen nur eine Möglichkeit: schwer arbeiten. Und schwer arbeiten, das heißt: putzen gehen – nicht die eigenen Potentiale und Träume leben können. Weit unter dem eigenen Niveau arbeiten und leben. In den „Frauenraum Küche“(1) zurückgedrängt werden. Die Angst vor Hohn und Spott als ständige Begleiterin ertragen, falls die Sache mit dem „nicht lesen und schreiben können“ auffliegt. Sich immerzu schämen und im Restaurant nicht frei wählen können, sondern dasselbe nehmen, wie der Tischnachbar. Das sind Lebensumstände, die unsere, der Lese- und Schreibkundigen Vorstellungskraft bei weitem übersteigen.

Ich frage Marion Döbert, wie es dazu kommen kann, dass Frauen in Deutschland nicht lesen und schreiben können. Sie erklärt mir, dass es viele Ursachen dafür gibt. Wenn ein Mädchen in einem schriftfernen Elternhaus groß wird, in dem es keine Bücher und Zeitungen gibt, wenn es in diesem Elternhaus zudem noch Armut an Zuwendung erfährt, wenn das Lernen nicht gefördert, sondern durch Kleinmachen und Strafen kleinste Erfolge zunichte gemacht werden, dann kann es schon passieren, dass frau nicht lesen und schreiben lernt.

In den Schulen wird in der ersten und zweiten Klasse Lesen und Schreiben gelernt. Wer es bis dahin nicht verstanden hat, bleibt unweigerlich zurück. Zu dieser erschreckenden Tatsache trägt auch die mangelnde Vorbereitung in einigen Kindergärten und Vorschulen bei. Reime und Lieder, Abzählverse und individuelle Förderung sind die Aspekte beim Erlernen der Schriftsprache. Sie bringen die Freude, den Spaß, vielleicht auch die Leidenschaft mit sich, die nötig sind, um schlussendlich lesen und schreiben zu lernen. Lernen im Gleichschritt, wie es im deutschen Bildungssystem gefordert und praktiziert wird, ist dem Lernen jedoch nicht gerade förderlich. Deshalb ist es Marion Döbert wichtig, die Frauen da abzuholen, wo sie stehen.


Keine fallen lassen

„Das heißt im Klartext?“, frage ich sie. „Nun, jede Frau hat ihre eigene Motivation, nun doch noch einmal das Lesen- und Schreibenlernen zu versuchen. Für die eine ist es der Ansporn, ihrem Kind in der Schule zu helfen, für die andere, ihrem Freund einen Liebesbrief zu schreiben.“ Gründe gibt es viele. Marion Döberts Wunsch ist es, dass alle Frauen frei leben und an gesellschaftlichen Vorgängen teilhaben und teilnehmen können. Keine soll fallen  gelassen werden, ob sie nun lesen und schreiben kann, oder eben nicht. „Eben deshalb“, sagt sie, „ist es wichtig, jede Frau dort abzuholen, wo sie gerade steht.“

Und wie genau sieht das „Abholen“ aus? Zu Beginn des Kurses schreibt Marion Döbert die Motivationen der Frauen auf. Und im weiteren Verlauf des Lernprozesses lesen die Frauen dann ihre eigenen Wünsche vor. Es ist, weiß Marion Döbert, für viele ein Erfolgserlebnis, dass sie das, was sie wollen, lesen können. Dass sie aufschreiben können, wie es ihnen geht, und schriftlich ausdrücken, was sie wollen.

„Und dann?“, frage ich weiter. „Nach 30 Unterrichtsstunden können die Frauen dann lesen und gehen ihrer Wege?“ Keineswegs. Für viele ist der Kontakt zu anderen Betroffenen wichtig geworden. Es gibt kein festes Lernziel, sondern jede Frau hat ihre eigene  Motivation und ihr eigenes Ziel und somit ihr eigenes Tempo. Da entstehen dann neue Freundschaften, und oft bleiben die Frauen länger in den Kursen. Mit ihrer Problematik angenommen zu werden ist für viele Betroffene ein Grund, die VHS-Kurse als dauerhafte Einrichtung zu sehen und zu nutzen. Außerdem macht das Lernen den Frauen mehr und mehr Spaß. Es gibt viel auditive Unterstützung, und durch die Möglichkeiten, am Computer schreiben zu lernen, wird der Prozess des Lernens erleichtert.

Und wie nehmen die Frauen Kontakt zu Marion Döbert auf? Zum Beispiel durch das ALFA Telefon. Das ist ein Beratungsservice, der durch das Fernsehen publik gemacht wird. Oder sie haben den Hinweis von Freunden bekommen, denen sie sich anvertraut haben. Die meisten der Frauen sind Mitte 30 – und oft stehen sie an einem Wendepunkt in ihrem Leben. Vielleicht ist der Partner und damit die Hilfskraft beim Lesen weggegangen, oder der Leidensdruck ist so hoch, dass die Frau für sich beschließt, es noch einmal zu wagen.


Ihren Bedürfnissen gerecht werden

Als Marion Döbert 2003 für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen wird, ist sie voller Zweifel. „Ich dachte, das kriegen nur alte Männer“, sagt sie und ist „perplex, geradezu sprach-los“. „Darf ich das annehmen? Habe ich das verdient?“, fragt sie sich. Und entscheidet dann, dass „es“ für die Sache okay ist. „Die Sache“, das ist, Erwachsenen das Lesen und Schreiben beizubringen. Nicht lehrhaft, wie in der Schule, sondern mit einem individuellen Konzept. Einem Konzept für jede einzelne Frau, das ihren Bedürfnissen so weit es geht gerecht wird.

Und was bleibt in Zukunft noch zu tun? Marion Döbert muss nicht lange über die Antwort nachdenken. Gezielte  Schulungen für LehrerInnen anbieten. Sensibilisierungsarbeit leisten, damit betroffene SchülerInnen leichter und vor allem schneller identifiziert werden. Die Öffentlichkeit noch mehr auf dieses Thema aufmerksam machen, damit den Betroffenen schneller Hilfe angeboten werden kann. Einen weiteren Erfolg kann Marion Döbert schon jetzt vermelden: Vor kurzem hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung ein Modellprojekt bewilligt – und so konnte ein Studiengang eröffnet werden, der sich diesem Thema widmet.


Anja Jungchen, 33 Jahre, ist Mutter zweier Kinder, arbeitet als Psychologische Beraterin in der  Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt Stralsund und studiert u.a. evangelische Theologie in Greifswald.


Anmerkungen

1 Vgl.. ahzw 1-2008 „Frauenraum Küche“


Weitere Informationen

Marion Döbert, Peter Hubertus: Ihr Kreuz ist die Schrift. Analphabetismus und Alphabetisierung in Deutschland, Bundesverband Alphabetisierung e.V. und Klett, Münster und Stuttgart 2000
Internet: www.alphabetisierung.de
ALFA Telefon: 0251 – 533 344

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