Ausgabe 1 / 2012 Frauen in Bewegung von Frauke Josuweit

Marion Gräfin Dönhoff

Dankbar, dass dies meine Heimat ist

Von Frauke Josuweit

Kurz, knapp, schnörkellos war der Schreibstil der bedeutendsten deutschen Journalistin des 20. Jahrhunderts. Kurz, knapp und schnörkellos resümiert Marion Gräfin Dönhoff auch den Verlust ihrer Heimat Ostpreußen: „Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Verlust überleben werde.“

Als diszipliniert, sachlich und letztlich unnahbar, immer die Distanz wahrend wird die ZEIT-Journalistin der ersten Stunde später oft beschrieben werden. Immer wieder jedoch schimmern in den Erinnerungen von Familie, FreundInnen und KollegInnen auch andere Seiten der Gräfin durch, die ihre Kindheit und Jugend ausgemacht haben. Wild, übermütig und abenteuerlustig war sie, eigenwillig und immer schon durchsetzungsfähig. Dass die am 2. Dezember 1909 in einem feudalistischen Gesellschaftssystem als Tochter eines adligen ostpreußischen Großgrundbesitzers und einer Hofdame der letzten deutschen Kaiserin Geborene ein halbes Jahrhundert später zu den wichtigsten BefürworterInnen der Ostversöhnung werden sollte, ahnte damals niemand.

Marion ist die Jüngste von insgesamt sieben Geschwistern. Die Mutter ist bei ihrer Geburt fast 40 Jahre alt und, so schreibt Alice Schwarzer 1996, auf dieses siebte Kind eigentlich nicht mehr gefasst. Das vierte Dönhoff-Mädchen ist eine Nachzüglerin, nicht mehr eingeplant und weitgehend auf sich selbst gestellt. Gemeinsam mit ihrer Schwester Maria, die mit einem Down-Syndrom geboren ist, wird sie von einer Kinderfrau, der geliebten Aleh, großgezogen. Bis zum elften Lebensjahr der Komtess bewohnen sie dasselbe Zimmer. Das Mädchen Marion treibt sich meist in den Pferdeställen, im Wald oder am See herum.

Eher beiläufig lernt sie lesen, schreiben und rechnen, angeleitet von der Mutter, den älteren Schwestern oder gelegentlichen Hauslehrerinnen. Für ihre unorthodoxe Interpunktion wird die Gräfin bis an ihr Lebensende bekannt bleiben. Die Einsamkeit der frühen Jahre ist vorbei, als Heinrich und Sissi von Lehndorff in ihr Leben treten. Die Kinder werden gemeinsam unterrichtet, im Winter im Dönhoff'schen Friedrichstein, 20 Kilometer östlich von Königsberg gelegen, im Sommer auf dem Familiensitz der Lehndorffs. Glückliche Jahre sind es, Marion blüht auf, gewinnt Selbstbewusstsein und auch die Zuneigung der älteren Geschwister. Sie wird das wilde Comtesschen, das den Brüdern an Mut niemals nachstehen will. Das Außenseiterdasein der ersten Lebensjahre wird sie allerdings zeitlebens nicht vergessen und später immer offen sein für diejenigen, die am Rande stehen.

Nationalsozialismus

Als 1933 Hitler die Macht ergreift, studiert sie in Frankfurt Volkswirtschaft. Arbeitslosigkeit und Inflation sind eskaliert und die Großgrundbesitzer im Osten hoch verschuldet. Bei den letzten freien Wahlen 1932 hat die NDSAP in Ostpreußen bis zu zehn Prozent mehr Stimmen als im Reichsdurchschnitt erlangt. Auch die Dönhoff-Brüder Christoph und Dietrich treten der Partei bei, der eine schon 1933, der andere zwei Jahre später. Marion Dönhoff selbst verschweigt dies, wie mit ihr unzählige deutsche Familien, bis an ihr Lebensende. Der Zusammenhalt der engeren Familie wird von ihr niemals in Frage gestellt. „Das ist umso erstaunlicher“, schreibt ihr Biograph Klaus Harpprecht 2008, „da sie die Welt der Nazis von der ersten Konfrontation an als eine böse und gefährliche Gegenwelt gehasst, ja verachtet hat.“ Viele der engsten Dönhoff-Freunde sind in das Hitler-Attentat am 20. Juli 1944 involviert, auch Jugendfreund Heinrich von Lehndorff, den sie in diesem Widerstand bestärkt hat.

Im September 1944 werden sie alle von den Nazis ermordet, Marion Dönhoff selbst entgeht der Verhaftung nur mit einer Lüge und aufgrund der Tatsache, dass ihr Name auf keiner Liste auftaucht. Ihr Lieblingsbruder Heinrich kommt zur gleichen Zeit auf dem Weg zur Taufe seiner jüngsten Tochter bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Neffen und die Söhne der Gutsangestellten und Dorfbewohner sterben in Russland. „Nichts konnte schlimmer sein, als alle Freunde zu verlieren und allein übrigzubleiben.“ Man fragt sich, wie die junge Frau dies alles verkraftet hat. Auch fragt sich, was schlimmer war, der Verlust der Freunde oder der nachfolgende und sich schon lange Jahre ankündigende Verlust der über alles geliebten Heimat.

Abschiede

Genau drei Jahre, bevor sie ihre Freunde verliert, nimmt sie, wissend das Ostpreußen verloren gehen wird, Abschied von der Landschaft, die ihr neben der Freiheit zu Pferde Heimat schlechthin bedeutet. Mit ihrer Cousine Sissi reitet Marion in fünf Tagen 200 Kilometer durch ihr geliebtes Land. „Erst wenn es Stoppelfelder gibt, Kilometer von Stoppelfeldern, über die man galoppieren kann, dann beginnt die große Zeit des Jahres. Dann muss man einen Trakehner haben und im Herbst muss es ein Schwarzbrauner sein. Niemand hat die wirklichen Höhepunkte des Lebens je erlebt, der das nicht kennt. Dieses Hochgefühl vollkommener Freiheit und Schwerelosigkeit im Sattel.“

Kein Autor, auch kein Lyriker, so schreibt sie ihrem Bruder Dietrich, könne poetischer sein als ein herbstlicher Morgen, „wenn die Sonne aufgeht und in ihren ersten Strahlen der Tau auf den Wiesen wie Diamanten funkelt, wenn der ferne See durch die Bäume schimmert, dann fühlt man sich dem Wesentlichen zum Greifen nahe.“ In solchen Momenten sei der ganze Mensch durchlässig für das Wunder der Schöpfung. „Plötzlich versteht man alles, das Leben, das Sein, die Welt. Und es gibt nur ein Gefühl: tiefe Dankbarkeit dafür, dass dies meine Heimat ist.“

Sissi von Lehndorff, inzwischen als Frau von Dietrich Dönhoff Marions Schwägerin, erinnert, der Gräfin sei bei diesem Ritt nichts anzumerken gewesen. „Marion wirkte unverändert.“ Gräfin Dönhoff selbst erzählt: „Wir mussten ein Doppelleben führen, von Anfang an. Das mussten schon die Kinder. Auch meinen Leuten konnte ich nicht sagen, was ich wirklich dachte. Das hätte die furchtbar verletzt, sie hielten Hitler ja für die Rettung.“ Und das auch noch, als von 1941 an die jungen Männer des Dorfes ihren Marsch nach Russland antreten und nie wieder zurückkehren. „Seither nimmt man eigentlich immerfort Abschied, nicht nur von Menschen – von allem, was man liebt: den Wegen, die wir oft geritten sind, den Bäumen, unter denen wir als Kinder spielten, der Landschaft mit ihren Farben, Gerüchen, Erinnerungen.“

1935 hatte die junge Adlige ihre Promotion über die „Entstehung und Bewirtschaftung eines ostdeutschen Großbetriebes. Die Friedrichsteiner Güter von der Ordenszeit bis zur Bauernbefreiung“ bei Edgar Salin in der Schweiz geschrieben. Zu dessen 100. Geburtstag schreibt Marion Dönhoff, die ursprünglich über Karl Marx dissertieren wollte, sie sei dem Freund ewig dankbar, dass er sie nach 1933 gezwungen habe, mit ihrer Doktorarbeit intensiv in die Geschichte „meiner engsten Heimat einzudringen, so dass ich sie wenigsten geistig besaß, als sie physisch verloren ging“.

Flucht

Ihre Flucht plant sie frühzeitig. Doch noch ist sie, die eigentlich in die Wissenschaft gehen wollte, mit der Verwaltung der Dönhoff'schen Güter betraut. „Mir war ja klar, dass die Brüder gezwungen sein würden, in diesen sinnlosen Krieg zu ziehen.“ 1937 kommt sie nach einem ihrer Afrika-Aufenthalte nach Friedrichstein zurück, um sich dort einzuarbeiten und übernimmt 1938 die Verantwortung für Quittainen, Familien- und Armenstiftung der Dönhoffs. Vier der sieben dazu gehörenden Güter verwaltet sie bis zu ihrer Rückkehr nach Schloss Friedrichstein, dessen erste und letzte Herrin sie wird. Die letzten Kriegsmonate verbringt sie wieder in Quittainen. Hartmut von Hentig reitet ihr ihren Trakehner Fuchswallach Alarich, mit dem sie flüchten will, dorthin. „Das Schloss hat keine Seele mehr“, schreibt er ihr von Friedrichstein. „Die Menschen sind ohne Mitteilung, jeder in sich verschlossen, eingefroren. Man setzt sich zu Tisch, telefoniert, legt sich schlafen. Früh geht ein Mädchen durch die Räume, öffnet die Läden und zieht die weißen Gardinen zu. Abends wird wieder verdunkelt. Mehr geschieht eigentlich nicht.“

Alarich lässt sich nicht ohne Widerstand auf Hentig ein. Er protestiert. Er bockt. Er steigt. Der Trakehner will zurück. Hentig steigt ab, geht lange Stunden neben Alarich her und bringt so das Fluchtpferd im Sommer 1944 sicher zur Gräfin. Die ist nicht mehr das wilde Comtesschen. „Immer muss ich an Dich denken, Marion“, schreibt ihr Hentig. „Die Verluste, die Enttäuschungen, die Niederlagen machen dich hart.
Du verschließt dich. Von den Freunden erwartest Du vor allem eins: Disziplin. (…) Wo andere von ‚Deutschlands Tragik' reden, siehst du verdiente Strafe. Du trägst schwer an allem. Vor Dir schäme ich mich meiner Lebensfreude.“

Am 21. Januar 1945 verlässt sie bei Frost und Eis Quittainen, reiht sich ein in den Strom von fast zweieinhalb Millionen aus Ostpreußen und dem Memelland gen Westen Fliehenden. „Niemand spricht, man sieht keine Tränen und hört nur das Knarren der allmählich trocken werdenden Räder.“ Zwei Monate später, am 20. März, erreicht sie Schloss Vinsbek in Westfalen. „Die leidenschaftliche Reiterin setzte sich niemals mehr auf ein Pferd“, schreibt ihr Biograph Harpprecht. „Reiter wissen, dass es bei einem solchen Schritt mit innerer Beiläufigkeit nicht allzu weit her sein kann.“

Kalter Krieg

In der Nähe von Göttingen trifft sie ihre überlebenden Geschwister wieder und geht von dort nach Hamburg. Am 21. März 1946 erscheinen ihre ersten beiden mit „M.D.“ gezeichneten Artikel in der der fünften Ausgabe der ZEIT, 1952 wird sie Ressortleiterin der Politik, später Chefredakteurin und Herausgeberin der renommierten Wochenzeitung. Hinter Marion, so beschreibt nach ihrem Tod Friedrich Dönhoff das Redaktionsbüro seiner 60 Jahre älteren Großtante, stand neben vielen Büchern ein kleines Ölbild: Der Park von Friedrichstein. An den Schranktüren klebten Landschaftsfotos von Ostpreußen. Auch Jahrzehnte nach dem Verlust der Heimat lediglich mit Tesafilm befestigt.

Marion Gräfin Dönhoff belässt es nicht beim Schreiben, sondern sucht immer wieder Kontakte zu den Mächtigen. 1955 begleitet sie Konrad Adenauer auf seiner Moskaureise. Die Knechtschaft der 17 Millionen Ostdeutschen habe
er mit der Freiheit von zehntausend deutschen Kriegsgefangenen besiegelt, wirft sie ihm nach der Reise vor und ist der Meinung, dass jeder Ansatz zur Anerkennung der DDR verhindert werden müsse. Noch Ende der 1950er Jahre schrieb sie: „Niemand, der aus dem Osten kommt, wird auf Land verzichten.“ Man tue ihr wohl kein Unrecht, meint Theo Sommer, der 1972 ihr Nachfolger als ZEIT-Chefredakteur wurde, wenn man feststelle, sie sei bis in die späten 50er Jahre eine Kalte Kriegerin gewesen.

Versöhnung

Nach dem Bau der Berliner Mauer jedoch schlägt sie einen fundamental anderen Kurs ein und wird eine der entscheidenden Wegbereiterinnen der Ostversöhnung, die später auch die Entwicklungen in Polen in den 1980er Jahre intensiv publizistisch begleitet. „Niemand kann heute mehr hoffen, dass die verlorenen Gebiete je wieder deutsch werden. Wer anders denkt, müsste schon davon träumen, sie mit Gewalt zurückzuerobern“, notiert sie 1970 und unterstützt entschieden die Ostpolitik Willy Brandts. Der lädt die „rote Gräfin“ ein, ihn nach Warschau zur Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages über die Oder-Neiße-Grenze und damit den Verzicht auf die Ostgebiete zu begleiten. Sie sagt zu – und im letzten Moment wieder ab. „Ich hatte ja vertreten, dass wir keine Gebietsansprüche mehr haben. Ich fand das richtig – aber ich wollte nicht persönlich dabei sein, wenn auf den Verlust meiner Heimat mit Sekt angestoßen wird. Ich hatte das Gefühl: das halte ich nicht aus!“

Marion Dönhoffs lebenslanges Engagement für Versöhnung und Frieden wird anfangs von den östlichen Nachbarn höher geschätzt als im eigenen Land. Zahlreiche Auszeichnungen werden ihr zuteil, darunter die Ehrendoktorwürden an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Torún (Polen) und an der Universität Kaliningrad (Russland) und der Internationale Brückepreis der deutsch-polnischen Europastadt Görlitz/Zgorzelec, der Persönlichkeiten ehrt, die sich mit ihrem Lebenswerk Verdienste um die Völkerverständigung in Europa erworben haben.

1995 schließlich wird ein polnisches Gymnasium nach ihr benannt – Mikolaiki liegt knapp 100 km vom Geburtsort der Gräfin entfernt. 14 Jahre später, bei der Feier anlässlich des 100. Geburtstages der Namenspatronin, die sich auch immer wieder für die Finanzierung der privaten Schule eingesetzt hatte, singen die Schülerinnen und Schüler die Europahymne. Eine Hymne, für die es bis heute keinen offiziellen Text gibt, um keiner der europäischen Sprachen den Vorzug zu geben.
Den Verlust der Heimat wird sie bei allem Einsatz für Versöhnung nie ganz hinter sich lassen können. Michael Naumann, ehemaliger Kulturstaatsminister, erinnert an eine Reise mit der 70-Jährigen, „als Marion Dönhoff in der Abenddämmerung am Ufer eines baumgegrenzten Sees in der Nähe der Kleinstadt Concord im US-Staat Massachusetts stand. Da flog eine Schar wilder Gänse mit ihrem eigentümlichen Geschrei über den See und sie brach in Tränen aus. Die längst verlorene und aufgegebene ostpreußische Heimat, ihre weite Landschaft und ihre fast vergessenen Geräusche kehrten blitzartig in ihr Gedächtnis zurück – die stets beherrschte, nicht selten kühle Frau, die sich nie gehen ließ, war für einen kurzen, schmerzhaften Moment wieder zu Hause.“

Frauke Josuweit, Jahrgang 1966, ist bei EFiD zuständig für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Auch ihre familiären Wurzeln liegen in Ostpreußen – vielleicht eine Erklärung dafür, dass sie eine ebenso leidenschaftliche Pferdeliebhaberin ist wie die von ihr porträtierte Gräfin?

Verwendete Literatur
Marion Dönhoff: Namen, die keiner mehr nennt. Ostpreußen – Menschen und Geschichten. 1962
Marion Dönhoff: Kindheit in Ostpreußen, 1988
Marion Dönhoff: Um der Ehre willen. Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli 1994
Alice Schwarzer: Marion Dönhoff. Ein widerständiges Leben. 1996
Haug von Kuenheim: Marion Dönhoff. 1999
Friedrich Dönhoff: Die Welt ist so wie man sie sieht. Erinnerungen an Marion Dönhoff. 2002
Klaus Harpprecht: Die Gräfin. Marion Dönhoff. 2008

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