Ausgabe 1 / 2011 Frauen in Bewegung von Claudia v. Gélieu

Medizin und Geschlecht – 300 Jahre Charité-Frauengeschichte

Eine historische Spurensuche in der Berliner Charité

Von Claudia v. Gélieu


300 Jahre Charité – das Jubiläum 2010 war Anlass für eine Frauentour, die die Geschichte des berühmten Berliner Universitätsklinikums aus Frauenperspektive beleuchtet.

1710 wird vor den Toren Berlins ein Pesthaus errichtet. Als die Epidemie ausbleibt, wird das Gebäude als Spinnhaus genutzt, in dem vor allem „weibliches loses Gesindel“ Zwangsarbeit leisten muss. Dass daraus 1727 ein Hospital mit Namen Charité wird, ändert wenig an der Klientel. Nur wer sich Privatbehandlung und -pflege nicht leisten kann, begibt sich in ein öffentliches Krankenhaus. Die unentgeltliche Aufnahme geschieht keineswegs aus Nächstenliebe, wie es der Name suggeriert. Die Bedürftigen stellen die Versuchspersonen für Ausbildung und Forschung. Und ihren Aufenthalt müssen sie mit Pflege, Putzen, Waschen und Kochen abarbeiten.


Krankenpflege

Den ersten Versuch, die Krankenpflege der Charité durch Richtlinien zu professionalisieren, unternimmt Johann Dieffenbach 1832. Als die Klagen über die Mängel nicht abreißen, lässt Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1843 Diakonissen aus Kaiserswerth kommen. Die Charité-Ärzte, die keine „Gesundbeterei“ in ihrer wissenschaftlichen Anstalt dulden, wollen sie möglichst schnell wieder loswerden und schicken sie daher zu den geschlechtskranken „Huren“. Doch statt sich abschrecken zu lassen, machen die Diakonissen eine Vorzeigestation daraus. Weil sie sich, bestärkt durch ihr Mutterhaus, den Ärzten nicht unterordnen, bleiben sie diesen ein Dorn im Auge.

Nachdem der Bundesrat Regeln für eine staatliche Krankenpflege erlassen hat, wird 1907 eine eigene Charité-Schwesternschaft ins Leben gerufen. Gefordert von der Frauenbewegung und gegen Protest der männlichen Krankenwärter wird Krankenpflege als weibliches Tätigkeitsfeld festgeschrieben. Als schwesterlicher Liebesdienst entspricht sie dem herrschenden Frauenbild – und legitimiert eine geringe Bezahlung. An der Charité liegt nicht nur das Einstiegsgehalt einer Schwester mit monatlich 20 Mark weit unter dem Lohn einer Fabrikarbeiterin, selbst eine Oberschwester bleibt mit maximal 55 Mark darunter. Die einjährige Ausbildung muss bezahlt oder durch zwei Jahre unentgeltliche Arbeit abgegolten werden. Die Schwestern erhalten Verpflegung und Unterbringung im Krankenhaus, müssen dafür jedoch rund um die Uhr verfügbar sein. Wie Dienstmädchen unterstehen sie bis zur Revolution 1918 der Gesindeordnung, die sie völlig rechtlos gegenüber ihrem Dienstherrn macht. Das Zölibat wird auch für die weltlichen Schwestern aufrechterhalten; noch 1937 sind von 465 Charité-Schwestern nur 13 verheiratet.


Geburtshilfe

Von Beginn an ist die Charité für die Prüfung von Hebammen zuständig und gehört 1751 zu den ersten beiden staatlichen Ausbildungsstätten für Geburtshilfe in Deutschland. Wie viele seiner Arztkollegen macht Johann Eller, der erste medizinische Leiter der Charité, die „unverständigen Weisen-Mütter“ für die hohe Sterblichkeit von Neugeborenen und Gebärenden verantwortlich und fordert die Beschränkung der Hebammentätigkeit sowie deren Kontrolle durch Ärzte. Dem kommt 1725 die preußische Verordnung für Heilberufe nach. Danach müssen Hebammen für ihre Zulassung drei komplizierte Geburten unter ärztlicher Aufsicht absolvieren, der Einsatz von Instrumenten bei der Geburt ist fortan dem Arzt vorbehalten.

Viele niedergelassene Ärzte nutzen die Möglichkeit der Zusatzqualifikation als Geburtshelfer als weitere Einnahmequelle. Da die gebärenden Frauen an der traditionellen Hebamme festhalten, erklären Ärzte immer mehr Geburten zu Risikogeburten, die den Arzt und Instrumente erfordern. Zur praktischen Unterweisung der ärztlichen Geburtshelfer wird überproportional häufig von der Gebärzange Gebrauch gemacht.(1)
Ähnliches gilt für den Kaiserschnitt, der an der Charité 1769 erstmals von Johann Friedrich Henckel durchgeführt wird. Obwohl die Frau den Eingriff nicht überlebt hat, wird der Chirurg mit dem Titel „Professor für Geburtshilfe“ ausgezeichnet.

Die Sterblichkeitsrate ist zu der Zeit auf der Geburtsstation der Charité durch das Kindbettfieber generell sehr hoch, manchmal bis zu fast 50 Prozent. Infiziert werden die Gebärenden durch Ärzte und Studenten, die die Krankheitserreger aus anderen Abteilungen einschleppen. Dass mehrere Auszubildende eine Frau nach der anderen untersuchen, leistet der Verbreitung der Erreger enormen Vorschub.

Die in der Ausbildung üblichen Demonstrationsgeburten haben noch eine andere gravierende Folge. Weil sich der traditionelle Gebärstuhl als unpraktisch für Massenvorführungen erweist, wird die liegende Gebärhaltung eingeführt, die schließlich von Ärzten zur medizinisch besseren erklärt und allgemein üblich wird. Die Frauen, die zu solchen Demonstrationsgeburten herhalten müssen, haben keine Alternative. Es sind ledige Schwangere, die, von ihren Herrschaften entlassen und ihren Familien verstoßen, arbeits- und obdachlos sind. Auf deren Schamgefühl muss keine Rücksicht genommen werden, auch ihr Leben gilt wenig.


Gynäkologie

Mit der Vorherrschaft der männlichen Medizin in der Geburtshilfe beginnt auch die Erforschung aller mit der weiblichen Fruchtbarkeit in Zusammenhang gebrachten Organe und Funktionen. Indem die Medizin diese als das weibliche Wesen und Verhalten bestimmend definiert, trägt sie maßgeblich zur Untermauerung des bürgerlichen Frauenbildes bei, das, aus der Mutterschaft abgeleitet, Frauen die Aufgaben in Familie und Haushalt zuweist. „Das Weib ist … Weib nur durch seine Generationsdrüse“, erklärt Rudolf Virchow, der bis heute als einer der berühmtesten Ärzte und Wissenschaftler der Charité gilt, 1848 in einem Vortrag vor der Gesellschaft für Geburtshülfe. „Alle Eigentümlichkeiten seines Körpers und Geistes …, alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern, ist nur eine Dependenz des Eierstockes.“

Auch Menstruation, Schwangerschaft und Wechseljahre werden nun nicht mehr als natürliche Vorgänge, sondern als „Frauenleiden“ eingestuft, und die Gynäkologie konstituiert sich als spezielle Frauenheilkunde. 1854 wird auch an der Charité eine gynäkologische Abteilung eingerichtet. Ihr Wirken ist bis heute wenig erforscht. Bekannt ist, dass 1928 Selmar Aschheim und Bernhard Zondek hier im Labor den ersten erfolgreichen Schwangerschaftstest durchführen, indem sie Schwangerschaftshormone im Urin einer Kröte nachweisen.

Ab 1935 leitet Hermann Stieve die Anatomie der Charité. Um die „Wirkung von Gefangenschaft und Angst auf den Bau und die Funktion der weiblichen Geschlechtsorgane“ zu untersuchen, seziert Stieve die Leichen von Frauen aus NS-Hinrichtungsstätten, Gefängnissen und Konzentrationslagern und beobachtet die weibliche Menstruation unter Haftbedingungen. „Zum Wohle der Menschheit“ – er will die Berechenbarkeit der empfängnisfreien Tage nach Knaus-Ogino widerlegen – veröffentlicht er auch nach 1945 noch Berichte wie folgenden: „Nachdem die Menstruation 11 Monate ausgeblieben war, trat plötzlich im Anschluss an eine Nachricht, die die Frau sehr stark erregte (Todesurteil), eine Schreckblutung ein. Am folgenden Tag starb die Frau plötzlich durch äußere Gewalteinwirkung.“


Medizinische Pionierinnen

1903 werden als erste Ärztinnen Helenefriederike Stelzner und Rahel Hirsch sowie Lydia Rabinowitsch-Kempner als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Pathologischen Instituts der Charité eingestellt. 1899 waren Frauen in Deutschland zum medizinischen Staatsexamen und damit zur Approbation zugelassen worden. Studieren ohne Sondergenehmigung dürfen sie in Preußen erst ab 1908.

Wegen der „Aussichtslosigkeit in dominierende Stellen zu gelangen“ wechselt Stelzner nach zwei Jahren als Schulärztin nach Charlottenburg. Für ihre Verdienste in der Tuberkuloseforschung erhält Rabinowitsch-Kempner 1912 einen Professorentitel, 1913 Hirsch für ihren Nachweis, dass Stärkekörner vom Körper nicht vollständig abgebaut und im Urin ausgeschieden werden. Ein Lehrstuhl und das entsprechende Gehalt sind damit bei beiden nicht verbunden.

Obwohl ihre Arbeit die Forschung revolutioniert hat, muss Rhoda Erdmann lange kämpfen, bis sie als erste Frau ein eigenes Institut an der Charité bekommt. Ihre Gewebezüchtungen ermöglichen die Forschung an lebenden Zellen. Aus ganz Europa reisen Forscher an, um von ihr zu lernen. Offenbar aus Neid wird Erdmann 1933 von Kollegen als NS-Gegnerin denunziert und verhaftet. Sie kommt zwar bald wieder frei, stirbt aber 1934. Ihr Institut wird der Pathologie als Abteilung unterstellt, die Leitung Erdmanns Schülerin Else Knake übertragen.

Viele Wissenschaftlerinnen der ersten Generation unterstützen mit ihrem Fachwissen, ihrer Erfahrung und nicht zuletzt Geld ihre Geschlechtsgenossinnen. Hirsch veröffentlich 1913 ein Buch über „Die Körperkultur der Frau“, in dem sie sich kritisch mit Korsett und der einseitigen Belastung durch Hausarbeit auseinandersetzt und den Frauen empfiehlt Sport zu treiben. Rabinowitsch-Kempner leitet Jahrzehnte den mit dem Erbe der Physikerin Else Neumann aufgebauten „Verein zur Gewährung zinsfreier Darlehen an studierende Frauen“. Rhoda Erdmann initiiert den „Verband deutscher Hochschuldozentinnen“ und gibt in „Führende Frauen Europas“ 1928 Kolleginnen den Tipp: „Man muss, sowie ich, eine ganz neue Disziplin einführen, um eine Daseinsberechtigung zu zeigen.“

Bei der Wiedereröffnung der Berliner Universität 1946 liegt der Anteil der Studentinnen nachkriegsbedingt bei 40 Prozent, im Medizinstudium bei 51,3 Prozent. Weil die medizinische Fakultät dieses Geschlechterverhältnis als „ungesund“ betrachtet, versucht sie eine 2:1-Quote zugunsten von Männern durchzusetzen. Heute stellen Frauen zwei Drittel der Medizinstudierenden und 70 Prozent der gesamten Belegschaft der Charité. Bei den Professuren sind sie mit 17,4 Prozent allerdings weiter unterrepräsentiert. Immerhin gibt es mit Annette Grüters-Kieslich seit 2008 eine Medizin-Dekanin. Sie ist nicht die erste in dieser Funktion: 1946 hatte Else Knake sie für wenige Monate inne. In der für das ehemalige DDR-Klinikum schwierigen Nachwendezeit übernimmt Ingrid Reisinger 1991 das Amt der ärztlichen Direktorin der Charité.

Bislang einzigartig in Deutschland ist das kurz vor dem Jubiläum an der Charité gegründete Institut für Geschlechterforschung in der Medizin. Bald soll es Gender-Medizin auch als Studienfach geben. Die auch in der Medizin gültige männliche Norm wird damit ebenso infrage gestellt wie eine jahrhundertelang an patriarchalen Vorstellungen und Interessen ausgerichtete Medizin.


Claudia v. Gélieu ist Politikwissenschaftlerin. Sie forscht zur Frauengeschichte und vermittelt die Ergebnisse bei Führungen.
Mehr unter: www.frauentouren.de


Anmerkungen
1 Unzählige Gebärzangen aus dem Fundus der Charité werden in dem 2010 erschienen Buch „Die Geschichte der Berliner Universitäts-Frauenkliniken“ stolz dokumentiert. Nur ein Nebensatz am Schluss vermerkt, dass durch deren Einsatz vielen Frauen Schaden zugefügt worden sei.

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