Ausgabe 2 / 2012 Artikel von Kerstin Remane

Meine, deine, unsere Kinder

Das Modell Patchwork-Familie

Von Kerstin Remane


Erinnern Sie sich an Luise und Lotte? Sie sind die Hauptfiguren in Erich Kästners Roman „Das doppelte Lottchen“, der im Jahr 1949 erschienen ist.

In den Ferien lernen sich die Mädchen kennen. Sie erfahren, dass sie Zwillings-schwestern sind, die nach der Scheidung ihrer Eltern getrennt aufwuchsen. Nach den Ferien tauschen die beiden die Rollen und bringen die Eltern schließlich wieder zusammen. Eine anrührende Geschichte, die auch als Film zum Publikumserfolg wurde.

Kästner greift hier Themen wie Scheidung und neue Partnerschaften auf,
die im Nachkriegsdeutschland nicht so offen benannt wurden. Entsprechend kontrovers wurde das Kinderbuch diskutiert. Heute hat sich die gesellschaftliche Situation radikal verändert. Trennungen, Scheidungen und neue Familienkonstellationen gehören zum Alltag. Die Themen werden in Kinderbüchern, Fachzeitschriften, Fernsehen und im Internet aufgegriffen. Das renommierte Deutsche Jugendinstitut aus München überschreibt sein DJI Online Thema 2011/12: „Wenn Eltern sich trennen: Familien-leben an mehreren Orten“.

Auch wenn das Thema medial sehr präsent ist, sind verlässliche Daten über Patchwork-Familien in Deutschland kaum zu finden. Eine Ursache dafür ist, dass in aller Regel der Familienstand der Eltern erfragt, aber nicht geklärt wird, mit welchen Kindern die Eltern zusammen leben. Zudem wird in neuen, zweiten oder dritten Beziehungen häufig nicht geheiratet. Patchwork-Familien können Beziehungen mit oder ohne Trauschein sein. In aller Regel leben zwei Erwachsene mit Kindern zusammen. Bei den Kindern kann es sich um Kinder handeln, die ein Erwachsener mit in die Partnerschaft gebracht hat. Möglich ist auch, dass beide Erwachsene Kinder mit in die Partnerschaft gebracht haben und ein gemeinsames Kind oder mehrere gemeinsame Kinder in der Familie leben. Auch leibliche Kinder, die außerhalb der Familie leben, haben regelmäßig Kontakt zu den Familienmitgliedern.

Komplexe Stieffamilien

Umgangssprachlich heißt es dann häufig „meine Kinder, deine Kinder, unsere Kinder“. Die Fachwelt ist sich einig, dass es sich bei Patchwork-Familien um komplexe Stieffamilien in verschiedenen Konstellationen handelt. Diese Vielfalt ist statistisch und wissenschaftlich kaum zu erfassen und abzubilden. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat im Familienreport 2011 die folgenden Zahlen veröffentlicht, die sich auf Ergebnisse des Jahres 2010 beziehen.(1)

– 2010 gibt es insgesamt 8,1 Millionen Familien mit minderjährigen Kindern. (…) Die Ehe ist mit einem Anteil von 72 Prozent an allen Familienformen die meistgelebte Form in Deutschland. (Seite 22)

– Die Mehrheit der Kinder in Deutschland lebt mit zwei Elternteilen zusammen – mit oder ohne Trauschein. In Westdeutschland sind es 85 Prozent der minderjährigen Kinder, in Ostdeutschland 76 Prozent (Seite 23). Je mehr Kinder in einer Familie vorhanden, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Eltern miteinander verheiratet sind. (Seite 26)

– Im Jahr 2010 haben sich 382.000 Paare trauen lassen, das ist ein leichter Anstieg im Vergleich zum Vorjahr (…) 2010 war es dabei für fast zwei Drittel der Trauenden die erste Ehe, für 16 Prozent war es die Zweit- oder Folgeehe. (Seite 29)

Diese Zahlen informieren darüber, dass die meisten minderjährigen Kinder in Deutschland mit verheirateten Eltern aufwachsen, sagen aber wenig über die Zusammensetzung der Familie aus. Bei allen Lebensformen lässt sich erst auf den zweiten Blick erfassen, ob es sich um Patchwork-Familien handelt: wenn geklärt wird, welche Kinder mit den Eltern zusammen leben. Nach Angaben des Ministeriums lebten 1999 ca. sechs Prozent der minderjährigen Kinder in Stieffamilien. Die Zahl könnte sich in den vergangenen Jahren durchaus nach oben entwickelt haben.

Familie Schneider-Schmidt

Was Patchwork-Familien auszeichnet, wird an einem einfachen Beispiel deutlich.

Die geschiedene Frau Schneider aus Frankfurt am Main lernt den getrennt lebenden Herrn Schmidt kennen. Frau Schneider hat einen nichtehelichen Sohn, der Kontakt zu seinem leiblichen Vater hat, der inzwischen in Hamburg lebt. Außerdem hat Frau Schneider aus ihrer Ehe eine Tochter, die gerne ihre Patentante in Berlin besucht. Auch Herr Schmidt hat zwei Kinder, die beide studieren und in Basel und Darmstadt leben. Frau Schneider und Herr Schmidt heiraten, nachdem Herr Schmidt geschieden ist, und werden Eltern von Zwillingen. Beide Partner haben jetzt vier leibliche und zwei Stiefkinder. Im Haushalt leben vier Kinder. Die Zwillinge haben andere Großeltern als die anderen Kinder des Ehepaares. Diese Großeltern lernen bei ihren Besuchen nach und nach alle Kinder kennen. Herr Schmidt hat zu seiner geschiedenen Frau Kontakte, um mit ihr über die Studienangelegenheiten der gemeinsamen Söhne zu sprechen. Außerdem müssen sie klären, ob sie das gemeinsame Haus verkaufen …

Die Familie Schneider-Schmidt ist gegenüber anderen Systemen also nicht klar abgegrenzt. Es ist kaum möglich, die Kernfamilie auszumachen. Das heißt: Die Patchwork-Familie zeichnet sich durch ein komplexes familiäres Beziehungsnetz aus, das sich häufig über ganz Deutschland – und in Zeiten globaler Mobilität oft auch weit darüber hinaus – erstreckt.

Kinder und Eltern in Patchwork-Familien haben meist unterschiedliche Auffassungen davon, wer zur Familie gehört und wer nicht. Für die Kinder gehören zum Beispiel der getrennt lebende Elternteil und die dazugehörenden Großeltern zur Familie. Für den neuen Partner oder die neue Partnerin gehören diese Personen gerade nicht zur Familie. Auf Seiten der Kinder können Loyalitätskonflikte und auf Seiten der Eltern Unsicherheiten entstehen, die die Beziehungen beeinträchtigen.
In aller Regel ist es für die Kinder schwieriger, ihre Loyalitätskonflikte zu lösen, als für die Eltern, mit ihren Unsicherheiten umzugehen.

Fragen der Erziehung sind zwischen den neuen Partnern abzustimmen. Welche Regeln gelten für die Kinder? Wer nimmt Einfluss auf welche Kinder? Feiertage oder die Geburtstage der Kinder können als Belastung erlebt werden, weil von außen viele Ansprüche an die Patchwork-Familie herangetragen werden. Welche Familienmitglieder werden zu den Feiern eingeladen? Wer beschenkt ein Kind? Wo verbringen die Kinder den ersten oder zweiten Weihnachtsfeiertag? Für solche Fragen müssen Lösungen gefunden werden, die für die Kinder die besten sind und sie nicht in einen Loyalitätskonflikt bringen.

Auch für Großeltern kann eine Patchwork-Familie zur Herausforderung werden. Sie müssen die neue Partnerin oder den neuen Partner ihres Kindes kennen lernen, obwohl sie eventuell noch Kontakte zur bisherigen Partnerin oder zum bisherigen Partner haben. Bringt die neue Partnerin oder der neue Partner Kinder mit in die Familie, sind diese zu integrieren. Die neuen Kinder kennen andere Familientraditionen und stehen vor der Aufgabe, neue Menschen mit ihren Traditionen kennenzulernen. Manchmal verlieren die Großeltern durch die Trennung ihres Kindes den Kontakt zu einem Enkelkind, das sie bisher regelmäßig gesehen haben. Hier sind neue Kontakte zu klären und zu realisieren. Auch aus Sicht der Großeltern sind die Beziehungen zur Patchwork-Familie neu zu gestalten.

Vielfalt als Potenzial

Patchwork-Familien sind nicht besser oder schlechter als andere Familien. Sie sind anders. Ihre Beziehungen sind vielfältiger. Die Antworten, die die einzelnen Familienmitglieder auf Fragen haben, können sehr unterschiedlich sein und zu Konflikten führen. Die Vielfalt kann jedoch auch als Potential verstanden werden, das neue Wege und ungewöhnliche Lösungen möglich macht. Eine Patchwork-Familie kann den Belastungen des Alltags standhalten, wenn den Menschen mit ihrer Geschichte und ihrer Sicht der Dinge mit Respekt und Toleranz begegnet wird. Es kommt nicht auf die Form der Beziehungen, sondern auf ihre Lebendigkeit an.

Für die Arbeit in der Gruppe


Einführung
Die Leiterin fragt die Anwesenden in einem „Blitzlicht“ nach ihren Erinnerungen zum Kinderbuch „Das doppelte Lottchen“. Die Geschichte wird gemeinsam rekonstruiert und das Verhalten der Mädchen und ihre Beweggründe herausgearbeitet.

Impuls: Welche Erfahrungen haben Sie selbst mit Familien, die getrennt leben, gemacht? Wie gehen Kinder mit der Situation um?

Erarbeitung
Seit dem Buch von Erich Kästner hat sich in Deutschland viel verändert – überall gehören so genannte Patchwork-Familien zum Alltag. Doch was ist eine Patchwork-Familie?

Die Leiterin stellt die Familie Schneider-Schmidt (siehe S. 74/75) vor.

Impuls: Wie wirkt diese Familie auf Sie? Was zeichnet sie aus?

Nachdem erste Eindrücke zusammengetragen wurden, stellen die Teilnehmerinnen gemeinsam das System der Familie Schneider-Schmidt mit Stühlen im Raum auf oder zeichnen es auf einen großen Papierbogen. Anschließend können die Frauen Platz nehmen und sich aus einer der Rollen heraus äußern.

Vertiefung des Themas
Die Leiterin ergänzt Informationen zu Patchwork-Familien aus dem Beitrag oben. Anschließend tauschen die Teilnehmerinnen sich in Kleingruppen aus: Kennen Sie Patchwork-Familien? Wie erleben Sie das Miteinander? Welche Chancen und Risiken sehen Sie? Worin besteht die Herausforderung für Sie – als Mitglied einer Patchwork-Familie oder als Außenstehende?

Abschluss
Die Autorin Kerstin Remane meint:
„Es kommt nicht auf die Form der Beziehung, sondern auf ihre Lebendigkeit an.“ Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, über diesen Satz nachzudenken, und formulieren Sie Ihr eigenes Schlussplädoyer in einem Satz.

Kerstin Remane, 46 Jahre, ist Diplom-Pädagogin und Leiterin der Evangelischen Familien-Bildungsstätte Wetterau in Trägerschaft der Ev. Frauen in Hessen und Nassau e.V.

Anmerkungen:
1 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Familienreport 2011, Leistungen, Wirkungen, Trends, Berlin 2012 – als Broschüre zu bestellen oder zum Herunterladen unter: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/Publikationen/publikationen,did=176198.html / Zahlen auch beim Statistischen Bundesamt unter www.destatis.de / Bevölkerung

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang