Ausgabe 2 / 2009 Andacht von Angelika Weigt-Blätgen

Meine Seele, vergiss nicht

Meditation zu Psalm 103

Von Angelika Weigt-Blätgen


Hinweis für die Leiterin: Der folgende Text ist die gekürzte Fassung einer Predigt anlässlich eines Frauenhilfe-Jubiläums in einer westfälischen Gemeinde. Sie können ihn als Andachtstext zu Beginn eines Treffens verwenden; besonders eignet er sich als geistlicher Einstieg oder Ausklang einer Runde zum Thema „Alter“ oder zur Auseinandersetzung mit dem Thema „Demenz“.

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. (Psalm 103)

Wer kennt sie nicht, die Last mit dem Gedächtnis? In welchem Jahr war das, als wir flüchteten? Wann sind wir damals umgezogen in das neue eigene Haus? Wie heißt sie noch gleich, die nette Dame vom Besuchsdienst? Und manchmal ist es zum Verzweifeln: Wo habe ich die Brille hingelegt? Ist der Schlüssel in dieser oder jener Tasche? Habe ich die Tabletten schon genommen?

Wir versuchen unser Gedächtnis mit „Eselsbrücken“ zu stützen. Wir machen Gedächtnistraining, üben uns im Kreuzworträtsel, sagen uns Auswendiggelerntes auf. Gott sei Dank: Der 23. Psalm ist ganz in unserem Gedächtnis verwahrt. Und mit dem Psalm bewegen wir uns vielleicht schon auf der Grenze – auf der Grenze zwischen unserem Gedächtnis, das seinen Ort in Kopf und Gehirn hat, und unseren Erinnerungen, die in unserer Seele aufgehoben sind.

Meine Seele, vergiss nicht… – Sie weiß nicht mehr, in welchem Jahr jene alte Tante starb, die sie in den letzten Monaten ihres Lebens begleiteten. Aber den Geruch der Seife, mit der ihre Mutter sie wusch und wobei sie ein wenig half, hat sie in ihrer Nase, ihrer Seele.

Meine Seele, vergiss nicht… – Er weiß nicht mehr, wann Großvater schwer erkrankte und alle Angehörigen sich vor seinem Krankenzimmer versammelten. Aber die Stimmungen und Schwingungen, die in der Luft lagen, eine Mischung aus Trost und gegenseitigen Vorwürfen, wird er niemals vergessen.

Und so setzen sich die Erinnerungen der Seele aus Bildern und Gerüchen, Stimmungen und Gesten, Geräuschen und Empfindungen zusammen, die unser Leben, unsere Entwicklung, unsere Persönlichkeit abbilden, sie ausmachen.

Meine Seele, vergiss nicht… – Die Seele vergisst nicht, vergisst nicht die Verletzungen und Traurigkeiten, die Momente des Glücks und der liebevollen Geborgenheit. Die Frage ist, was „obenauf liegt“, was von unserer Erinnerung in unser Gedächtnis gelangt, was unser Lebensgefühl und was unsere Gottesbeziehung bestimmt.

Zum Teil hängt das von unserem Naturell ab: Sind wir eher optimistisch oder eher pessimistisch? Diese Lebenseinstellung hat sich entwickelt in Erfahrungen und Begegnungen, zum großen Teil in unserer frühen Kindheit. Zum Teil hängt es von unserer Weltsicht und unserem Menschenbild ab: Sehen wir in jedem Menschen ein uns von Gott geschenktes Gegenüber, den Mitmenschen, das Mitgeschöpf? Oder sehen wir in jedem Menschen eher das Fremde, Abzulehnende, vor dem wir uns hüten und dem wir mit Vorsicht oder gar mit Misstrauen zu begegnen haben?

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht… – Ob unsere Seele in der Lage ist, Gott zu loben, hängt auch davon ab, ob uns Gott in unserem Leben begegnet, ob unsere Seele offen ist für Gott.

Der 103. Psalm beginnt mit einer Aufforderung des Beters oder der Beterin an die eigene Seele:

Lobe den Herrn, meine Seele, und alles,
was in mir ist, seinen heiligen Namen.
Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

Und dann wird die Seele erinnert an all das Gute, was Gott ihr getan hat: Gott hat vergeben und geheilt. Huld und Geduld, Langmut und mütterliche Liebe ebenso wie zärtliche Zuwendung hat die Seele des betenden Menschen erfahren und wird nun daran erinnert. Erst im 10. Vers wechselt der Psalm vom Ich, von der Seele des einzelnen Betenden, zum „wir“ und „uns“ der Gemeinde, der Gemeinschaft, zum wir und uns der Jüdinnen und Juden in der Gemeinde, die das Exil hinter sich hat.

Lobe den Herrn, meine Seele –
Lobet den Herrn, ihr, seine Boten,
lobet den Herrn, ihr, alle seine Werke,
lobe den Herrn, meine Seele.

Die Seele des einzelnen ist Ausgangspunkt und Endpunkt des Psalms. In den 21 Versen dazwischen werden die Wohltaten Gottes – von der Heilung individueller Krankheiten bis hin zu Gottes Königsmacht über das ganze All – angesprochen, erinnert. Der Psalm ist ein Hymnus, in den nach und nach Menschen einstimmen: eine einzelne Seele zunächst, dann viele, immer mehr – und zuletzt alle Welt und die gesamte Schöpfung.

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.
Wer kann, wer mag heute Morgen (Abend) einstimmen in das Gotteslob des 103. Psalms? Auf wen wirkt der Psalm einladend? Wen schreckt der Überschwang der Bilder und Gefühle eher ab? Einige möchten vielleicht nur still zuhören, andere leise mitsummen. Überschwängliches Lob kann nicht auf Knopfdruck empfunden werden, genauso wenig wie Freude oder Glück. Es muss erlebt, tief empfunden und vielleicht über die Jahre gewachsen sein: Das Lob überwindet die Klage, die Dankbarkeit für Heilung und Bewahrung die Verletzungen und die Trauer.

Der Beter / die Beterin des 103. Psalms ist auch nicht naiv oder oberflächlich. Sie weiß genau um die Erfahrungen der Menschen, die damals Deportation und Gefangenschaft, Zerstörung ihrer Heimat, ihres Tempels in Jerusalem erlebt hatten, und die nach ihrer Rückkehr nichts mehr so vorfanden, wie sie es hatten verlassen müssen. Dennoch:

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.
Das geht nur, wenn die Seele erinnert wird: Gott denkt an dich. Gott leidet mit dir. Gott ist an deiner Seite, auch, wenn dein Leben anders verläuft oder verlaufen ist als du dir erträumt hattest. Die Seele muss erinnert werden. Nur wenn Gott selbst unsere Seele berührt, können wir so loben.

Wir können aber unsere Seele als Ort der Erinnerung genauso trainieren wie unser Gedächtnis. Wir können nachsehen, nachspüren, was in unserer Seele aufbewahrt ist. Wir können unserer Seele Nahrung geben, indem wir sie öffnen für alles Schöne, Tröstende, Liebevolle, Heilsame, Herausfordernde.

Dietrich Bonhoeffer schreibt angesichts der Flugalarme zu Pfingsten 1944 aus der Haftanstalt: „Ich beobachte immer wieder, dass es so wenige Menschen gibt, die viele Dinge gleichzeitig in sich beherbergen können; wenn Flieger kommen, sind sie nur Angst; wenn es was Gutes zu Essen gibt, sind sie nur Gier; wenn ihnen ein Wunsch fehlschlägt, sind sie nur verzweifelt; wenn etwas gelingt, sehen sie nichts anderes mehr. Sie gehen an der Fülle des Lebens und an der Ganzheit der eigenen Existenz vorbei …In vielen Schattierungen des Lebens gilt Bang-herzigkeit. Die Zusagen aus Psalm 103 heißen: Trotzdem Barm-herzigkeit.“

Der Bang-herzigkeit, die so viele zu allen Zeiten immer wieder empfinden, die Barm-herzigkeit Gottes zur Seite zu stellen; die Bang-herzigkeit ernst zu nehmen und die Barm-herzigkeit Gottes wieder erinnern, ist der Verkündigungsauftrag unserer christlichen Gemeinden, unserer Frauenhilfen. Nur wenn beides unter uns Raum hat – die Bang-herzigkeit der Menschen und die Barm-herzigkeit Gottes, fühlen Menschen sich ernst- und angenommen. Nur dann kann der Hymnus vielstimmig erklingen:

Lobe den Herrn, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Amen.


Angelika Weigt-Blätgen ist Leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen und Mitglied im Präsidium der EFiD.

Ausgabenarchiv
Sie suchen eine Ausgabe?
Hier entlang
Suche
Sie suchen einen Artikel?
hier entlang