Alle Ausgaben / 2010 Artikel von Ilona Helena Eisner

Memento mori

Dem Tod einen Platz im Leben geben

Von Ilona Helena Eisner


Memento mori! Gedenke zu sterben! Zum ersten Mal begegnete mir dieser Begriff, als meine damals 14-jährige Tochter sich mit der Gothic-Szene beschäftigte, „Grufti-Musik“ hörte und sich nur noch schwarz kleidete. Ein bisschen ängstlich, wie Mütter dann so sind, recherchierte ich, was es mit der Szene auf sich hat.

Auch wenn die Musik nicht ganz meinen Geschmack traf und alles etwas traurig, düster, sentimental klang, erkannte ich, dass die Menschen in der Szene sich einem Thema zuwenden, das in unserer Gesellschaft eher tabuisiert wird: dem Sterben und der Faszination des Todes.


Gedenke zu sterben!

Vier Jahre später: Ich erinnere mich an eine Reise nach Italien. Unbedingt wollte ich nach Pisa. Freunde rieten mir ab, meinten, Pisa sei nicht so interessant, außer dem schiefen Turm gebe es nichts zu sehen. Ich habe diese Ratschläge ignoriert und eine für mich interessante Entdeckung gemacht. Neben dem schiefen Turm gibt es sehr wohl etwas zu sehen: ein Fresko von Buonamico Buffalmacco (im 14. Jahrh. Maler in Florenz, Bologna und Pisa) mit dem Titel „Memento mori!“ oder „Der Triumph des Todes“. Lange stand ich vor diesem von Rottönen dominierten Wandgemälde. Während an der linken Seite zwei offene Särge zu sehen sind, und in der Mitte dargestellt ist, wie die Seelen der Verstorbenen „abgeholt“ werden, strotzt das Bild von Lebendigkeit. Der Tod mitten im Leben!

Memento mori – Gedenke zu sterben! Der Satz gilt als Symbol der Vergänglichkeit. Doch selten gedenken wir des Sterbens, wenn wir mitten im Leben sind, wenn uns diese Erfahrungen des Verlustes nicht berühren. Ich erlebe eher, dass wir uns scheuen, vom Sterben, vom Tod zu reden. Die Vorstellung: Wer vom Tod spricht, ruft ihn herbei!, hat uns zum Schweigen gebracht.

Während in früheren Jahrhunderten Totenschädel Schreibtische zierten und die Kunst voll ist von Darstellungen des sterbenden und gestorbenen Christus, von Darstellungen der Verstorbenen als Engel oder weiße Kindlein am Bildrand von Familienporträts adliger Familien, wirkt es heute skurril oder beängstigend, wenn wir offen mit den Symbolen des Todes umgehen. Der Film „Keiner liebt mich“ von Doris Dörrie erzählt unter anderem von einer Gruppe, deren Mitglieder sich ihren eigenen Sarg bauen und sich darin „so ein bisschen beerdigen lassen“. Dann steht der Sarg als Möbelstück in der eigenen Wohnung. Die Szenen sind befremdlich, wirken irgendwie verrückt.

Memento mori! Je länger ich auf dieser Erde lebe und je älter ich werde, desto näher rückt der Tod an mich heran. Menschen, die nur eine Generation vor mir sind, werden krank oder sterben. Beim letzten Klassentreffen fehlten zwei, die bereits nicht mehr leben. Und plötzlich wird es greifbarer: Wir alle werden sterben. Und zunächst macht es betroffen, macht es Angst.

Im letzten Jahr hat das Leben mir eine Erfahrung mit dem Sterben geschenkt, und ich habe begonnen intensiver darüber nachzudenken, was uns so betroffen und ängstlich macht. Für mich stellte sich heraus, dass es Unsicherheit und Unwissenheit sind. Denn indem wir Tod und Sterben in unserer Gesellschaft tabuisieren, nehmen wir uns die Möglichkeit, den Umgang damit zu lernen.

Alles geben wir aus der Hand. Hilfreich stehen uns Beerdigungsinstitute, die Pastorin oder der Pfarrer zur Seite. Doch mit unserer Trauer über den Verlust bleiben wir oft allein. Wir zweifeln, ob wir alles richtig gemacht haben, vermissen das verpasste Abschiednehmen, trauen uns nicht, das zu tun, was wir eigentlich verspüren. Es fehlen Rituale, Erfahrungen und Sicherheiten.


Ars moriendi

„Ars moriendi“ ist die Kunst des Sterbens – und die ist uns abhanden gekommen. Doch Achtsamkeit im Umgang mit Sterben, mit Tod und Trauer und damit auch Achtsamkeit mit uns selbst und unserem Umgang mit Verlust gehört zur Lebensqualität der Menschen und nicht in die graue Zone der tabuisierten Lebenswirklichkeiten.

Ars moriendi. In allen alten Kulturen hat es Ahnenverehrung gegeben. Die Ausgrenzung und Verdrängung der Toten aus dem gesellschaftlichen Leben mit der Idee, auf immer Abschied nehmen zu müssen, ist ein neuzeitlicher Gedanke. Damit verbunden war die Hoffnung, das Leben einfacher und leichter zu machen. Aber das Gegenteil ist eingetreten. Mit der Ausgrenzung der Toten ist das Leben schwerer geworden. Es bleibt eine Leere, die nicht zu füllen ist. Die Beziehung, die wir zu einem lieben verstorbenen Menschen hatten, kann nicht einfach abgeschnitten und beendet werden. In den alten Kulturen war das bekannt und der Toten wurde mit Kult und Verehrung gedacht.

„Bereits in der Altsteinzeit wurden Tote durch Ausstattung mit Beigaben aller Art (etwa Nahrung) oder Einreibung mit Erdfarben für das Jenseits vorbereitet und so begraben. Feste Regeln für die Totenbestattung bestanden in der Jungsteinzeit; im Frühneolithikum herrschte überall die Bestattung in Hockergräbern vor, oft unterhalb des Hauses oder innerhalb der Siedlung, sodass die Ahnen den Lebenden nahe blieben.“(1)  Im Sozialgeschichtlichen Wörterbuch zur Bibel können wir unter dem Stichwort Tod nachlesen: „Wie sehr man damals nicht nur mit dem Tod, sondern mit den Toten lebte, zeigt sich in der archäologisch gut erschlossenen Grabkultur. … So kauft Abraham beim Tod Saras eine Höhle (Gen 23), die dann auch für ihn selbst und seine Nachkommen benutzt wird.“ Typische Bankgräber in Juda sind aus der Königszeit belegt. Interessant ist auch hier, was für den Umgang mit den Toten berichtet wird: „Die Toten wurden auf die Bänke gelegt und das Grab nach außen verschlossen. Beim nächsten Begräbnis begegnete man den Toten wieder. Die Reste wurden nach der Verwesung in einer Knochengrube gesammelt. So fuhr man in die Grube und wurde buchstäblich mit den Vätern und Müttern vereinigt. Nicht üblich waren Grabsteine, teilweise aber fanden sich in den Gräbern Inschriften.“ (S. 586)

Ars moriendi. Gemeinsam ist all diesen Kulten und Verehrungen, dass sie den Toten einen Platz in der Gemeinschaft geben, dass sie die Toten weiter im Leben präsent sein lassen, sie ehren und achten. Und gemeinsam ist diesen Kulten die Vorstellung, dass die Toten die Lebenden segnen und ihnen Lebenskraft spenden können.

In diesen Traditionen kommt zum Ausdruck, was Trauernde empfinden: die innere Beziehung zum Verstorbenen geht weiter und kann weiter gelebt werden. Meine eigene Erfahrung hat mich gelehrt, wie wichtig es ist, den eigenen Empfindungen im Umgang mit Sterbenden und Toten zu trauen. Nichts verbietet es uns, einen sterbenden Menschen zu begleiten, im Kreis der Angehörigen mehrere Stunden oder auch Tage miteinander zu verbringen. Es ist eine Bereicherung, gemeinsam den Körper eines geliebten verstorbenen Menschen zu waschen, ihn anzuziehen und „schön zu machen“ für den letzten Weg. Beieinander sein im Sterbezimmer, der Tote in der Mitte, gemeinsam beten und Abschied nehmen, sich gegenseitig trösten – bis vor noch nicht allzu langer Zeit ist das auch in unserer Kultur Brauch gewesen. Drei Tage lang wurden die Toten aufgebahrt, Nachbarn, Bekannte, Angehörige konnten in dieser Zeit Abschied nehmen, den verstorbenen Menschen ehren und die Familie unterstützen.

In vielen Krankenhäusern hat man inzwischen erkannt, wie wichtig diese Stunden nach dem Sterben sind, und bietet den Angehörigen die Möglichkeit, diese Zeit in einem besonderen Zimmer miteinander zu verbringen. Und wenn wir es möchten und die Möglichkeit haben, können wir den Verstorbenen für die Tage bis zur Beerdigung im Sarg nach Hause holen. Vieles ist möglich, wenn wir es wissen und wenn wir es wollen. Mancherorts gibt es Gruppen von Frauen, die in Krankenhäusern oder Pflegeheimen ihre Dienste als Sterbe- und Trauerbegleiterinnen anbieten und gemeinsam mit den Angehörigen diese letzten Handgriffe tun. So sind Hinterbliebene nicht ausgeschlossen und der Tod findet nicht außerhalb ihrer Realität statt.

Ars moriendi. Grabbeigaben aus antiken Gräbern haben uns viel über das Leben in dieser Zeit erzählt. Heute erinnern wir uns kaum noch an diese Tradition. Und doch ist es möglich, bei einer Erdbestattung Gegenstände, die dem Verstorbene oder Angehörigen wichtig waren, im Sarg mitzugeben. Das kann ein Abschiedsbrief sein, eine Bibel, ein Foto, die Lieblingskleidung. Wie der Verstorbene im Sarg liegt, sollte ihm, seinem Leben entsprechen und es sollte für ihn und die Angehörigen stimmen. Kein Mensch sollte in normierten Sterbehemden begraben werden.(2)  „Es ist ein schönes und tröstliches Ritual, dem Verstorbenen eine Gabe in seinen Sarg mitzugeben. Es drückt auch aus, dass ein Teil vom Hinterbliebenen mitbegraben und mitgehen wird.“(3)


Ars vivendi

Ars vivendi: Das nun ist die Kunst des Lebens. Nach dem Verlust eines sehr nahen Menschen erscheint es Hinterbliebenen oft nicht wert weiter zu leben. In der üblichen Trauerarbeit stand und steht am Ende das Loslassen. Neue Trauerpsychologie hingegen setzt auf Mitgefühl, Liebe und Sehnsucht, um eine bleibende Beziehung zum Verstorbenen herzustellen. Der Trauerprozess wird so zur kreativen Beziehungsarbeit. In den tiefen Schichten unseres Bewusstseins sind Bilder aus dem gemeinsamen Leben abgespeichert. Diese werden wir nie verlieren. Offen mit der Vergangenheit umzugehen heißt, dem Verstorbenen einen Platz im Leben der Hinterbliebenen zu geben. Ein Gedicht von Mascha Kaléko (4) hat mich in dem Zusammenhang sehr berührt:

Memento

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.

Praktisch kann das heißen, dass über das Sterben und den Tod des oder der Angehörigen geredet werden darf, dass Familien sich gemeinsam erinnern und Orte familiärer Ereignisse aufsuchen, wichtige Gedenktage erinnern und begehen oder auch die schwierigen Seiten der Verstorbenen würdevoll benannt werden können. So stellen wir uns selbst in die Reihe der Ahnen, derer, die vor uns waren und derer, die nach uns kommen. Ars vivendi – Achtsamkeit ist Lebenskunst über das Sterben hinaus.


Für die Arbeit in der Gruppe

Sie könnten die Gruppenarbeit damit beginnen, dass Sie gemeinsam über den Friedhof gehen. Besuchen Sie die Gräber verstorbener Angehöriger der Teilnehmerinnen. Erzählen Sie sich gegenseitig von den Menschen, die hier begraben liegen. Vielleicht haben Sie Blumen dabei und legen als Gruppe auf jedes besuchte Grab eine Blume.

Im Gruppenraum ist für jede sichtbar das Gedicht „Memento“ von M. Kaléko vorbereitet – auf Flipchart oder als Kopie an jedem Platz. Lesen Sie es einmal vor und bitten Sie die Teilnehmerinnen, auf die Stelle zu achten, an der die Gedanken hängen bleiben oder die sie am meisten berührt. Kommen Sie darüber ins Gespräch.

Die letzten beiden Zeilen können ein Gespräch darüber anregen, was es heißt, mit dem Tod der anderen zu leben. Es ist ein sensibles Thema – achten Sie als Leiterin sehr darauf, dass keine der Äußerungen bewertet wird! Ermutigen Sie die Teilnehmerinnen darüber nachzudenken, was ihnen gut tun würde, was sie brauchen könnten, um mit dem Tod naher Angehöriger zu leben, egal wie viel Zeit inzwischen vergangen ist.

Sie können auch darüber nachdenken, an welchem Ort der Verstorbene jetzt sein könnte oder an welchem Ort er für mich wirklich ist, wo ich ihm begegnen kann, wann immer ich es brauche. Es gibt viele Vorstellungen: im Himmel, im Paradies, in Gottes Hand, im ewigen Licht, in der Natur, in der Allwirklichkeit, am Grab. Jede hat ihre Berechtigung.

In kreativen Gruppen können dazu Bilder gemalt und gestaltet werden.

Eine weitere Anregung wäre, eine Erinnerungsfeier oder ein Erinnerungsritual für die Verstorbenen zu planen. Gedenktage oder Geburtstage können dazu einen Rahmen geben. Angehörige könnten gemeinsam das Grab besuchen, Fotos zeigen und austauschen, bei Kaffee und Kuchen Geschichten und Erinnerungen erzählen und so den Verstorbenen für einen Nachmittag ins (Familien-) Leben holen. Sammeln Sie Ideen und regen Sie an, diese auch umzusetzen. – Es könnte auch ein Gemeindefest werden.


Ilona Helena Eisner, Jahrgang 1966, ist Geschäftsführerin im Landesfrauenrat Thüringen. Im Präsidium der EFiD ist sie zuständig für die Publikationen des Verbands und so auch Mitglied im Redaktionsbeirat ahzw.


Verwendete Literatur
Der Brockhaus in fünfzehn Bänden Bd. 1, Leipzig-Mannheim 1997
Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009
Roland Kachler: Meine Trauer wird dich finden, Kreuzverlag Stuttgart 2005


Anmerkungen:

1 Brockhaus, S. 83
2 Für Einäscherungen gibt es allerdings Vorschriften. Doch was wir auch hier neben die Urne ins Grab legen, ist uns freigestellt.

3 Kachler, S. 64
4 Mascha Kaléko ,Momento', aus: Verse für Zeitgenossen, erschienen im Rowohlt-Verlag, Reinbek, © 1975 Gisela Zoch-Westphal

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