Wer auf deutschen Straßen unterwegs ist, mag sich manchmal wundern. Ob im städtischen Verkehr oder auf der Autobahn: ältere Autos sind kaum noch zu sehen. Das ist spätestens seit der sogenannten Abwrackprämie im Jahr 2009 augenfällig.
2.500 Euro erhielt damals, wer den nicht mehr ganz taufrischen fahrbaren Untersatz verschrotten ließ und sich stattdessen ein neues Automobil leistete. Rund
5 Milliarden Euro kostete die Steuerzahlenden diese Konjunkturbelebungsmaßnahme. Da sich nun aber mit 2.500 Euro bekanntermaßen kein Neuwagen finanzieren lässt, wurde vermutlich der Großteil der Neuanschaffungen auf Pump gemacht. Bei Autos in Deutschland ist das heutzutage fast normal: sieben von zehn Fahrzeugen sind ratenfinanziert. Jeder dritte Haushalt setzt derzeit auf Ratenkredite, „um Konsumkredite vom Fernseher bis zum PKW zu finanzieren“, weist der Schuldneraltas Deutschland aus. Kreditfinanzierung hält also nicht nur die Automobilwirtschaft am Laufen.
„Die gesellschaftliche Haltung zu Finanzen hat sich dramatisch verändert. In der 1970er Jahren, welche Möglichkeiten der Finanzdienstleistungen gab es denn da? Selbst ein Hauskredit war ja eigentlich schon fast was Anrüchiges“, erinnert sich Martina Sievers von der Schuldnerberatung der hannoverschen Diakonie. Das ist heute ganz anders, denn nicht nur die Haltung zur Finanzierung sondern auch die Haltung zum Konsum hat sich sehr verändert in den vergangenen Jahrzehnten. „Man ist doch mehr als blöd, wenn man nicht auf Kredit und auf Ratenzahlung kauft. Oft werden Null-Prozent-Finanzierungen angeboten. Warum also sollte ich den gesamten Betrag auf einmal auf den Tisch legen?“
Fast jede/r zehnte deutsche Bundesbürger/in über 18 Jahre ist überschuldet und hat Verbindlichkeiten von durchschnittlich rund 35 Tausend Euro, die nicht mehr bedient werden können. Noch einmal genau so viele Menschen sind gefährdet, in die Zahlungsunfähigkeit zu rutschen. Sind wir selbst schuld an der Verschuldung?
„Natürlich spielt das auch eine Rolle. Aber maßgeblich sind eigentlich kritische Lebenssituationen“, so die Erfahrungen der Schuldnerberaterin. Der iff-Überschuldungsreport1 teilt die Überschuldungsursachen in vier Gruppen:
– Ereignisse,
– vermeidbares Verhalten,
– gescheiterte Selbständigkeit,
– sonstige Ursachen.
Mehr als die Hälfte der Überschuldungsfälle fällt in die Gruppe der Ereignisse, so entsteht fast jede dritte Überschuldung durch Arbeitslosigkeit oder reduzierte Arbeit. 13 Prozent werden durch Trennung oder Scheidung verursacht, weitere zehn Prozent durch Krankheit. Gut zehn Prozent sind gescheiterten Selbständigkeiten geschuldet, keine zehn Prozent werden durch Konsum, der eigentlich nicht drin ist, verursacht. Vermeidbares Verhalten, zu dem neben dem Konsum auch sogenannte unwirtschaftliche Haushaltsführung gehört oder andere Ursachen, wie eine gescheiterte Immobilienfinanzierung, Suchtproblematiken oder Einkommensarmut machen zusammengenommen gerade mal 20 Prozent aus – und reichen damit nicht annähernd an den Einzelfaktor Arbeitslosigkeit heran. „Es kann alle treffen“, bringt es Martina Sievers auf den Punkt. Glück hat da, wer im Süden der Republik beheimatet ist – niedrige Arbeitslosigkeit korrespondiert dort signifikant mit niedrigen Schuldenquoten.
Oft reicht das Arbeitslosengeld mit 60 Prozent des bisherigen Verdienstes nicht mehr aus, alle bestehenden Geldverpflichtungen und unvermeidbaren Ausgaben zu erfüllen. War es bisher finanziell ohnehin schon knapp, laufen schnell Verbindlichkeiten auf. „Wenn ich dauerhaft ein niedriges Einkommen habe, dann komme ich sehr viel schneller in Überschuldungssituationen als wenn ich ein gutes Auskommen habe. Wenn ich immer am Limit bin, also zwangsweise, weil mein Einkommen gar nicht höher ist, und es gibt die kleinste Störung, eine Überweisung funktioniert nicht oder ein irgendein Rückläufer, dann bricht das System zusammen“, diese Erfahrung macht Martina Sievers bei ihren KlientInnen immer wieder. Gelingt es nicht, binnen eines Jahres einen anderen Arbeitsplatz zu finden, folgt zur Sicherung des Existenzminimums Hartz IV und damit unvermeidlich die Zahlungsunfähigkeit.
„Menschen mit einem höheren Einkommen haben in der Regel Unterstützungssysteme und werden durch Familie oder Freunde aufgefangen, sodass sie einen Weg finden, wie sie da raus kommen“, erläutert Martina Sievers. Zinslose Darlehen beispielsweise oder Unterstützung zum Lebensunterhalt. „Das Überschuldungsrisiko sinkt, wo Solidarität und gemeinsames Wirtschaften möglich sind“, zeigt der iff-Überschuldungsreport. Menschen, deren soziales Umfeld keine finanzielle Unterstützung leisten kann, müssen teuer dafür zahlen. Zinsen, Verzugszinsen, Mahn- und Inkassogebühren häufen sich auf. „Aus 50-Euro-Forderungen können ganz schnell 500 Euro werden.“ So entstehen aus relativ kleinen Forderungen immense Kosten.
Der Ausweg – die Privatinsolvenz – wird von dem meisten lang vermieden. Zu lange, sagt Martina Sievers. Denn oft ist es schon härteste Arbeit, täglich den Briefkasten zu öffnen und die Briefe dann auch tatsächlich zu lesen. „Das schaffen viele nicht mehr, weil sie überhaupt keinen Handlungsspielraum mehr haben.“
Der Schritt in die Schuldnerberatung ist das Eingeständnis, gescheitert zu sein. Ein Schritt, der Frauen deutlich leichter fällt als Männern. Männer sind im sogenannten „Leistungsalter“ signifikant häufiger von Überschuldung betroffen als Frauen, zeigt der iff-Überschuldungsreport. Kommen Frauen zu Martina Sievers in die Schuldnerberatung, „erkennen sie sehr viel schneller als Männer, was wirklich elementar ist, wenn es darum geht, die Wohnung und die Energielieferung sicherzustellen. Sie versuchen nicht lange, ein Image nach außen aufrecht zu erhalten. Ich habe das Gefühl, dass das bei Männern eine sehr viel größere Rolle spielt.“ Scheitern ist eine stark schambesetzte Situation, ein vernichtendes Gefühl des Versagens. Das gesellschaftliche Umfeld zeigt in der Regel wenig Verständnis, ein Insolvenzverfahren wird als großer Makel erlebt. „Das ist das, was die meisten meiner Klienten und Klientinnen unter allen Umständen vermeiden wollen“, sagt die Schuldnerberaterin der Diakonie.
Möglich gemacht wurde das gesetzlich geregelte Verfahren zur Schuldenbereinigung und für einen wirtschaftlichen Neuanfang erst vor 15 Jahren. Mithilfe einer Schuldnerberatung wird dazu ein Plan erstellt, wie die Verbindlichkeiten gegenüber den Gläubigern bereinigt werden können. Stimmt dem nur einer der Gläubiger nicht zu, gilt die außergerichtliche Einigung als gescheitert, dann wird Verbraucherinsolvenz bei Gericht beantragt. Nach Verfahrenseröffnung wird Sach- und Geldvermögen verwertet und an die GläubigerInnen verteilt, übrig bleibt lediglich, was für eine „bescheidene Haushaltsführung“ notwendig ist. Lebensversicherungen und Immobilien gehören nach Auffassung des Gesetzgebers nicht dazu, jede zumutbare Arbeit muss angenommen werden. Auch wenn die Verbraucherinsolvenz kein Zuckerschlecken ist, öffnet sie doch den Weg in eine schuldenfreie Zukunft. Bei sogenanntem „Wohlverhalten“ ist die Befreiung von Restschulden nach sechs Jahren möglich.
Ist die Verbraucherinsolvenz für jüngere Menschen ein möglicher Weg in die Zukunft, auch wenn dabei die private Altersvorsorge verloren geht, so ist dieser Ausweg für viele ältere Menschen nicht mehr zu schaffen. Die Zahl der über 70-jährigen Schuldner und Schuldnerinnen ist in den vergangenen zehn Jahren drastisch angestiegen, aktuell sind 42 Prozent mehr Betroffene zu verzeichnen als noch im Jahr 2004. Die Gründe hierfür sind bisher wenig beleuchtet. „Die Lage älterer Schuldner wird sicherlich auch von der zunehmenden Inanspruchnahme der Grundsicherung durch ältere Menschen beeinflusst“, vermutet der Schuldneratlas 2013 der Creditreform.
Frauke Josuweit ist EFiD-Pressefrau.
Cornelia L. – Vor fünf Jahren bin ich mit meiner Kneipe pleite gegangen. Aus Angst vor noch mehr Kosten, habe ich mich damals nicht um ein Insolvenzverfahren gekümmert. Seither ließen mich die Briefe vom Finanzamt und den anderen Gläubigern schlecht schlafen. Die Rechnungen wurden mit jedem Schreiben höher. Ich bedauere den Antrag nicht viel früher gestellt zu haben. Erst durch einen Sozialarbeiter einer JobCenter-Maßnahme habe ich von kostenloser Schuldnerberatung erfahren. Jetzt kommt keine böse Post mehr, ich werde endlich in Ruhe gelassen und die ganzen Sachen hängen mir nicht mehr im Nacken. Ich bin ruhiger geworden und kann besser schlafen. Ich erlebe jetzt, dass vielen Menschen in meinem persönlichen Umfeld diese Informationen fehlen und wie wichtig es ist offen und öffentlich darüber zu sprechen.
Nadine F. – Mit 18 Jahren auf der CEBIT den ersten Handyvertrag: Ich habe mich gefreut wie eine Schneekönigin. Nach einem halben Jahr wurden es riesige Rechnungen und ich kümmerte mich nicht mehr drum. Später waren es andere Verträge und auch der Hund. Und keine beruflichen Perspektiven, um das in den
Griff zu bekommen. Alles glitt mir aus den Händen. Eine gewisse Faulheit war auch mit drin. Und es kamen Briefe ohne Ende. Einen Brief zu öffnen war wie eine Ohrfeige. Ich nahm das alles nicht mehr mit in mein Leben und schob es vor die Tür. Ohne Hilfe und Beistand durch meinen Freund hätte ich alles so weiter gleiten lassen, bis es irgendwann geheißen hätte: Bitte ins Gefängnis, Frau F.
Manuela M. – Die ersten zwei Jahre waren am härtesten. Dann hatte ich gelernt, das Einkommen für die Raten einzuteilen und mit dem Rest auszukommen. Ich bin selbständiger, selbstbewusster, aber auch etwas härter geworden. Und ich habe gelernt, besser mit Geld umzugehen, aus wenig viel zu machen, mir Ziele zu setzen und durchzuhalten. Ende gut, alles gut. Erst habe ich es gar nicht geschnallt, als die letzte Rate bezahlt war. Seit einem Jahr ist es jetzt erledigt. Es hat sich nicht viel geändert. Ich lebe noch genauso, als wenn ich weiterzahlen müsste. Bald bin ich zehn Jahre in meiner Firma. Ich habe dort einigen Leuten gesagt: Ruft endlich
bei der Schuldnerberatung an.
Jan Lieske arbeitet als freier Fotograf. Das Fotoprojekt „Menschen in Insolvenz“ entstand in Zusammenarbeit mit der Schuldnerberatung des Diakonischen Werks Hannover. Andere Reportagen, wie die über afrikanische Erntehelfer in Kalabrien, die sich als Tagelöhner auf Obstplantagen verdingen, wurden national und international ausgezeichnet. Mehr über Jan
Lieske erfahren Sie unter www.janlieske.com.
Anmerkung
1) Der Report des Instituts für Finanzdienstleistungen erscheint jährlich; Download unter www.iff-ueberschuldungsreport.de/
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum
Thema „Bauen“ ist Mitte April 2024
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