Unsere Straße, zwanzig Häuser lang, war eine Art „Vereinte Nationen“. Außer grün und blau waren alle Hautfarben vertreten. Es war eine interessante Straße. Niemand hatte Geld. Und ich kann mich nicht erinnern, dass je eine Haustür zur Tages- oder Nachtzeit abgeschlossen wurde. Eine gute Straße zum Leben. Die Leute waren freundlich. Aber einige Wochen, nachdem Anna von dieser Straße Besitz ergriffen hatte – ja, so konnte man es wohl nennen -, nach einigen Wochen also waren die Leute nicht nur freundlich, sondern sie strahlten geradezu.
Sogar die eigensinnige Bossy schmolz dahin. Bossy war ein kriegerisches Katzenvieh mit spitzen Ohren, das alle menschlichen Subjekte für Vollidioten hielt. Aber unter Annas Einfluss wurde Bossy sanft. Sie streunte nicht mehr herum und betrachtete Anna als gleichberechtigt.
Anna war eine Zauberin, aber niemanden verzauberte sie so gründlich wie mich. Fragte mich meine Mutter früher, wann ich heimkäme, so grunzte ich ein unbestimmtes „irgendwann vor Mitternacht“. Jetzt war das anders. Ging ich morgens zur Arbeit, begleitete mich Anna bis zur Straßenecke und drückte mir einen nassen Kuss ins Gesicht. Darauf schaute sie mich an und sagte: „Bis um sechs.“ Noch vor kurzer Zeit gab es an meinem Heimweg eine Menge Pinten und Kneipen, in denen ich ein Bier schüttete und häufig Freunde traf. Jetzt sah ich sie nicht mehr. Ich ging einfach nach Hause. Bog ich um die letzte Ecke, so wartete sie dort. Ob Regen, Schnee, Sonnenschein oder Sturm, Anna war da, um mich abzuholen. Ihre roten Haare leuchteten um die Wette mit einer giftgrünen Haarschleife. Manchmal kam sie langsam, ernst auf mich zu und berührte nur leicht meine Hand zum Gruß. Manchmal raste sie wie ein Schnellzug auf mich los und warf sich in meine geöffneten Arme. Hand in Hand gingen wir und schwiegen, oder es waren da die vielen Warum-, Weshalb-, Wieso-Fragen. Wie viele Probleme gab es? Nur die Sache mit Mister Gott war kein Problem. Das hatte Anna längst gelöst. Hässlichkeit war dazu geschaffen, dass man sie in Schönheit verwandelte; traurige Leute gehörten glücklich gemacht, und bei alldem hatte man Mister Gott als verlässlichen Partner. Seine Aufgabe war es, überall mitzumachen.
Die Bibel beispielsweise brauchte man dazu überhaupt nicht. Die Botschaft war einfach, und jeder Halbidiot konnte den Inhalt der Bibel in bestenfalls dreißig Minuten kapieren. Religion war dazu da, dass man etwas tat, und nicht, um darüber zu lesen, was man tun könnte. Die Bibel war höchstens was für Kleinkinder in der ersten Klasse. Anna war über dieses infantile Stadium längst hinaus.
Unser Pfarrer fragte sie einmal: „Glaubst du an Gott, Anna?“
„Ja.“
„Weißt du, was Gott bedeutet?“
„Ja.“
„Was bedeutet er also?“
„Na eben, dass er Mister Gott ist.“
„Gehst du in die Kirche?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil ich schon alles weiß.“
„Und was weist du alles?“
„Ich weiß, dass ich Mister Gott lieb hab und Leute und Katzen und Hunde und Spinnen und Blumen und Bäume … und überhaupt alles; ich ganz allein mit meiner ganzen Figur.“
Carol grinste. Stan schnitt eine Fratze, und ich zündete mir rasch eine Zigarette an, wobei ich mich furchtbar am Rauch verschluckte und grässlich husten musste. O heiliger Kindermund, der imstande ist, alles in einem einzigen Satz zusammenzufassen. Und Gott sprach, liebe deinen Nächsten wie dich selbst – und das möglichst mit deiner ganzen Figur.
aus: Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna. Deutsch von Helga Heller-Neumann
© Scherz Verlag. Alle Rechte vorbehalten S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/Main
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